KlassikWoche_RGB_2020-09

Wie krank ist die Klassik?

Willkommen in der neuen KlassikWoche,

heute schauen wir der Klassik in den belegten Rachen, machen uns Gedanken über DirigentInnen und feiern die Kraft des Miteinanders in Gewitter-Open-Airs!

Wie krank ist die Klassik?

Medizinische Mundspatel
Es ist mehr als eine leichte Erklärung: Fast schon unüberschaubar sind die Absagen von Sängerinnen und Sängern in Bayreuth, in Salzburg musste der Macbeth umbesetzt werden, und nun berichtet Jonas Kaufmann via Social Media, dass er seine anstehenden Termine absagen müsse: Ein multiresistenter Keim mache ihm und seiner Stimme zu schaffen, er müsse sich zunächst einmal gründlich erholen. Das sind auffällig viele Absagen, und die Frage liegt nahe, ob das System des internationalen Klassik-Zirkus’ nicht selber so krank ist, dass es seine Protagonisten infiziert: Joseph Calleja in der Rolle des Parsifal ist sicherlich an sich schon ein Risiko (Andreas Schager übernimmt). Als ich die Fernsehsendung Stars von morgen für Rolando Villazón vor einigen Jahren neu konzipiert hatte, gab es in der Sendung noch große Gast-Stars, die die Auftritte des Nachwuchses einschätzten (und sie berieten) – einer von ihnen war René Kollo, der Villazón bei einem Essen fragte: „Ich weiß nicht, wie Sie das machen mit Ihrer Stimme: heute Fernsehen, gestern Opern-Aufführung, morgen Konzert. Vor einem Tristan habe ich tagelang nur in Briefen mit meiner Frau kommuniziert, um bei Stimme zu bleiben.“
Und tatsächlich ist die Taktung unseres Klassik-Betriebes inzwischen rasant, die Verlockungen sind gigantisch: Theater warten auf spektakuläre Rollen-Debüts (viele IntendantInnen sind nicht in der Lage, an die Stimmentwicklung ihrer SängerInnen zu denken), private Veranstalter hoffen auf Giga-Konzerte für die große Kasse (und finden in KünstlerInnen willfährige Komplizen), und im Hintergrund zerren und reißen Plattenfirmen an ihren KünstlerInnen (ein Termin da, ein Auftritt hier – und schon das nächste absurde Album). Manche KünstlerInnen merken derzeit, dass all das nicht mehr gesund ist, ziehen von sich aus die Reißleine, legen eine Pause ein. Andere versuchen, weiterhin überall mitzuspielen und ruinieren ihr größtes Kapital langfristig durch einen immer verrückter vor sich hin drehenden Klassik-Markt. Äußerst ungesund das alles!

Dirigentenfragen

Der britische Sender Classic FM ist nicht für seine Tiefe bekannt, aber es ist schon amüsant, die Top-25 „DirigentInnen aller Zeiten“ zu lesen. Mit dabei Simon Rattle (sogar auf Platz 1!), Marin Alsop oder Gustavo Dudamel. Hmmm, klar: ein Spiel nur. Aber wer (aus meiner bescheidenen Sicht) auf jeden Fall fehlt: Gustav Mahler, Thomas Beecham, Ernst von Schuch, Hans von Bülow, Nikolaus Harnoncourt, Carlo Maria Giulini und und und … Interessant auch, wenn man darüber nachdenkt: Wie schnell doch die Erinnerungen an Maestri verblassen, die zu ihrer Zeit das Non plus ultra waren. Sir Georg Solti oder selbst Giuseppe Sinopoli spielen in unserer heutigen Klassik-Rezeption kaum noch eine Rolle. Immerhin: Der Schauspieler Bradley Cooper wird in einem Hollywood-Film den Komponisten und Dirigenten Leonard Bernstein verkörpern und erklärte (auch gegenüber Classic FM), dass er dafür stundenlang den Taktstock geschwungen habe. 
Übrigens, wenn Dirigenten denken, sie seien klüger als Regisseure, kann sich das rächen: Beim Puccini Festival in Torre del Lago, dirigierte Alberto Veronesi mit Augenbinde, um gegen die La-Bohème-Inszenierung von Christophe Gayral zu protestieren (er lässt die Handlung 1968, zur Zeit der Studenten-Unruhen, in Paris spielen) – und wurde dafür vom Publikum weniger gefeiert als der Regisseur.

Personalien der Woche I

Giuseppe Mengoli
Spannende Bewegung auf dem Streaming-Markt: Naxos stellt seine großen audiovisuellen Klassik-Produktionen auf der Plattform von Amazon Prime Video zur Verfügung und bringt damit erneut Bewegung in den Streaming-Markt. Hier der Bericht aus der New York Times. +++ Giuseppe Mengoli ist Gewinner der Mahler Competition: Bis vor kurzem war er Assistent von Lorenzo Viotti beim Nederlands Philharmonisch Orkest und an der Nederlandse Opera in Amsterdam. Im Sommer wird er als Assistent von Teodor Currentzis bei den Salzburger Festspielen dabei sein. Mengoli dirigiert nicht nur, er hat auch als Geiger schon mehrere Wettbewerbe gewonnen und noch Schlagzeug, Trompete und Komposition studiert.
Mal wieder Angriff der Letzten Generation auf die Kultur: „Die Klimakatastrophe braucht die große Bühne.“ Mit diesem Satz klebte sich eine Aktivistin an ein Teil der Zauberflöten-Bühne bei den Regensburger Schlossfestspielen von „Kultur zur Selbstdarstellung“-Veranstalterin Gloria von Thurn und Taxis. +++ Sie wird eine wichtige Rolle in Berlin spielen, und beim Deutschlandfunk-Format Klassik-Pop-et cetera kann man nun die musikalische Biografie der designierten Berliner Staatsopern-Intendantin und der Chefin der Bregenzer Festspiele, Elisabeth Sobotka, kennenlernen: von Nikolaus Harnoncourt über die Götterdämmerung bis zu Janis Joplin. +++ Er war eine Legende: Der Pianist André Watts feierte seinen großen Durchbruch, als sein Recital im Lincoln Center 1976 als erstes Klavierkonzert live und in voller Länge im US-Fernsehen übertragen wurde. Watts bildete zahlreiche PianistInnen aus und starb nun im Alter von 77 Jahren in Bloomington.

Nicht-Verlängerung als Methode?

KünstlerInnen werden selten entlassen, ihre Verträge werden einfach: nicht verlängert. Etwa bei einem IntendantInnen-Wechsel. Über diese „Tradition“ lässt sich trefflich streiten. Die Gewerkschaften verurteilen die „Nicht-Verlängerung“ als ungerecht, unsolidarisch oder als böswilligen Akt der Arbeitgeber gegen den prekären Stand der KünstlerInnen.
Aber Michael Wolf zeigt in einem Kommentar für nachtkritik.de auch die Vorteile auf: „Man kann den Konflikt auch demografisch beschreiben. Tendenziell ältere Künstlerinnen und Künstler verteidigen ihre Errungenschaften gegen die nachkommende Konkurrenz. Am schlechtesten trifft es angehende Schauspieler, die derzeit noch in oder sogar vor der Ausbildung stehen. Sollte der Widerstand gegen Nichtverlängerungen anhalten oder sogar vertragliche Änderungen erzielen, verringerten sich ihre Karriereaussichten beträchtlich. Wenn so Solidarität aussieht, bin ich froh, in keiner Gewerkschaft zu sein.“ Darüber lässt sich trefflich streiten.

Kulturradio in Deutschland

Ein kluger Kommentar zur anstehenden Vereinheitlichung der unterschiedlichen deutschen Radio-Kulturprogramme nach 20:00 Uhr zu einem gemeinsamen "Fenster". Im Tagesspiegel schreibt Joachim Huber: „Wenn sich das arme Land Berlin drei Opernhäuser leistet, muss sich das reiche Deutschland sehr unterschiedliche ARD-Kulturwellen leisten. Kultur, gerade Kultur braucht Vermittlung, Präsenz, Sichtbarkeit durch Hörbarkeit. Kulturradio eben.“ Klar, innerhalb der ARD nennen sie all das längst „Transformation“ – weg vom linearen Radio, hin zum Netz. Aber schon jetzt wird klar: In dieser Transformation geht ein Großteil des Auftrages des öffentlich-rechtlichen Rundfunks verloren, alle Klassik-Sendungen wurden mit KlickKlack abgeschafft – KEINE ist bislang im Netz neu entstanden. Es wäre gefährlich, wenn die ARD sich selber in die Tasche lügt, denn es wäre nicht verwunderlich, wenn nach dem Angriff auf die kulturellen Inhalte der Angriff auf die kulturellen Institutionen (die Rundfunkorchester) folgte. Wir sollten achtsam bleiben und können gegen diesen Trend nicht genügend protestieren. Öffentlich-rechtliches Fernsehen und Radio rechtfertigt sich durch unabhängige Politikberichterstattung und den kulturellen Auftrag … Beides gilt es zu bewahren! Um jeden Preis.

Personalien der Woche II

Joe Chialo
Vielleicht setzt der SWR und seine erschreckend unkommunikative Intendantin Sabrina Haane darauf, dass das deutsche Klassik-Publikum kriegsmüde wird. Vor Wochen wurde uns noch erklärt, dass man die Teilnahme des prorussischen Basses Alexey Tikhomirov bei Konzerten des SWR Symphonieorchesters mit Teodor Currentzis in Hamburg und Stuttgart prüfe (er hat sich mehrfach für Putins Kurs ausgesprochen und ist im russischen Fernsehen mit dem St. Georgs-Orden aufgetreten). Bislang ist es in dieser Sache allerdings still geblieben. Kein Bekenntnis für den Sänger, keines gegen ihn. Aussitzen scheint das Motto. +++ Und das scheint zuweilen auch zu funktionieren: Großen Jubel gab es in der Bayerischen Staatsoper für einen Solo-Abend mit Plácido Domingo. War da was? 
Positive Meldungen aus Berlin: 947 Millionen Euro soll es 2024 für die Berliner Kultur in Joe Chialos Kultursenat geben. 2025 wird es dann gut eine Milliarde Euro sein. So steht es im Berliner Haushaltsentwurf 2024/2025. Mit dieser Steigerung werden allerdings gerade mal die Tarifsteigerungen aufgefangen.

Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?

Opernbesuche können große Abenteuer werden: Ich war neugierig, wie die Oper im Steinbruch von Intendant Daniel Serafin im österreichischen St. Magareten Carmen in Szene setzen wird. Der Hinweg bei über 30 Grad wurde von einem Reifenplatzer begleitet, ich beschloss den Rest des Weges zu trampen, und kurzerhand nahm mich Eric Leuer vom The Opera Blog auf Instagram mit (danke dafür!), und dann: Ein Giga-Gewitter sorgte dafür, dass Carmen die Oper ausnahmsweise überlebte – die Aufführung wurde nach dem zweiten Akt abgebrochen (die Inszenierung verband ein wenig motivationslos ein Hollywood-Filmset mit der eigentlichen Oper). Das Gute: Die Leute ließen sich die Laune nicht verderben, tranken unter den wegwehenden Sonnenschirmen weiter ihren Esterházy-Carmen-Wein, und ich kam am Ende erneut als Tramper nach Hause, dank der Kollegin vom ORF, die mich nun heim chauffierte. Wir lernen: Oper verbindet!

Ach ja: Und eine Sache noch, die ich sehr lohnenswert finde: Wie Paavo Järvi und Zürichs Bürgermeisterin Corine Mauch in diesem Filmchen über Macht und Führung reden.
In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

Axel Brüggemann

brueggemann@crescendo.de

facebook twitter website 
Gefällt Ihnen die KlassikWoche? Dann sagen Sie´s weiter!
Wir versenden keine Spam-Mails und verkaufen keine Email-Adressen. Versprochen!
Kontakt