KlassikWoche_RGB_2020-09

Das Geheimnis der Stimme

Willkommen in der neuen KlassikWoche,

heute geht es um die Frage nach dem Publikum: Warum will es kommen und kommt nicht? Wodurch kann es gelockt werden? Und wie wird es für Statistiken missbraucht?

Muss Lüneburg das Musiktheater opfern?

Wenn Theater gezwungen werden, Beraterfirmen zu engagieren, geht das selten gut. In Lüneburg kam das Unternehmen actori zu dem Schluss, dass das Haus nur eine Zukunft ohne oder mit radikal verkleinertem Musiktheater habe. Eine Milchmädchen-Rechnung: Natürlich hat ein Orchester an einem Theater das größte Einsparpotenzial. Deshalb schlägt die Studie den Gesellschaftern des Theaters nun vor: Entweder die Verkleinerung des Orchesters um ein Drittel oder die Abschaffung des gesamten Orchesters bei Beibehaltung des Spielbetriebs oder die komplette Schließung der Sparte. „Alle drei vorgestellten Szenarien eint, dass Einsparungen in relevanten Größenordnungen nur über einen Personalabbau realisiert werden können, da das Theater bereits jetzt äußerst kosteneffizient arbeitet und dies im Beratungsverfahren bestätigt wurde“, heißt es in einer Pressemitteilung des Theaters. Ob in einer derartigen Studie auch die Kosten gegengerechnet werden, die der Verlust an Lebensqualität in Lüneburg nach sich zieht?

Sie wollen die Klassik, aber kommen nicht

Eine spannende Umfrage des Royal Philharmonic Orchestra in London wurde letzte Woche veröffentlicht: 84 Prozent der britischen Bevölkerung erklären darin, dass sie grundsätzlich Interesse daran hätten, ein klassisches Konzert zu besuchen. Das wollten 2018 nur 79 Prozent. Und dennoch lässt das Ergebnis viele Fragen offen: Warum, verdammt, gehen die Leute nicht einfach hin?
Ich hatte diese Nachricht bereits auf meinem neuen Insta-Profil debattiert und Post von einigen Lehrerinnen und Lehrern bekommen, die mir berichtet haben, dass ihre SchülerInnen tatsächlich Berührungsängste mit der Oper und der Konzertwelt hätten: Wie sollen sie sich benehmen? Was sollen sie anziehen? Wird die Welt der Klassik sie aufnehmen? Sind sie „parkettsicher“? Manch professionelle Konzertveranstalter mögen über diese Fragen lächeln, aber auch der Relevanzmonitor Kultur der Bertelsmann Stiftung kam zu ähnlichen Ergebnissen (wir haben die Zahlen in einer älteren Version des Podcasts Alles klar, Klassik? vorgestellt). Mit anderen Worten: Manchmal sind vielleicht nur kleine Hilfen nötig, um ein großes, neues Publikum in die Konzerthäuser zu bekommen.

Pay what you can in Leipzig

Das Modell machte Schule nach der Corona-Pandemie: Zum Beispiel haben die Thüringer Bachwochen gute Erfahrungen mit dem Konzept „Pay what you can“ gesammelt. Das Publikum bekommt eine Karte für das Geld, das es geben kann oder will. Nun experimentieren auch das Gewandhaus zu Leipzig, die Oper Leipzig, das Schauspiel Leipzig und das Theater der Jungen Welt mit dieser Idee. Wenn man sich die Auslastungszahlen, etwa der Leipziger Oper anschaut, scheinen die Zahlen die Häuser auch zu neuen Wegen zu zwingen: Selbst gut besetzte Aufführungen wie Wagners Meistersinger verkaufen sich nur schleppend (das Foto oben zeigt die Auslastung am Tag der Aufführung). Liegt das an der traditionellen Erwartungshaltung des Publikums? Daran, dass die Häuser anders in die Stadt kommunizieren müssten? Überhaupt scheinen Häuser im Osten (etwa auch in Dresden) besonders mit Publikumsschwund nach Corona zu kämpfen. Zugegeben, das sind zwar zutiefst subjektive Beobachtungen, aber vielleicht auch ein Thema, das man sich gesondert vornehmen sollte.

Personalien der Woche I

Wir haben den Umbau der Berliner Klassik-Szene bereits letzte Woche beschrieben. Nun werden die Gerüchte immer lauter, dass Christian Thielemann in den kommenden Tagen an der Staatsoper Unter den Linden unterschreiben soll. Sicher ist: Donald Runnicles wird seinen Chefposten an der Deutschen Oper 2026, ein Jahr vor Vertragsende, beenden, da er seinen Lebensmittelpunkt in die USA verlegen will. +++ Der britische Dirigent Sir John Eliot Gardiner nimmt nach der Schlag-Attacke auf einen Sänger eine längere Auszeit. Der 80-Jährige werde alle Engagements bis zum nächsten Jahr aussetzen und sich gemeinsam mit medizinischen Beratern auf seine mentale Gesundheit konzentrieren, teilte seine Agentur Intermusica am Donnerstag mit. „Er bereut sein Verhalten zutiefst und versteht, dass es erhebliche Auswirkungen auf Kollegen hatte, die er zutiefst schätzt und respektiert.“
Eine Petition „Kein Auftritt von Anna Netrebko“ hat in der letzten Woche über 31.000 Unterschriften gesammelt. Dennoch hält die Berliner Staatsoper am Auftritt von Anna Netrebko fest. „Sie hat sowohl durch ihr Statement als auch durch ihr Handeln seit Kriegsausbruch eine klare Position eingenommen und sich distanziert. Das gilt es anzuerkennen“, heißt es in der Erklärung weiter. Netrebko singt ab dem 15. September an vier Tagen die Rolle der Lady Macbeth in Verdis Oper Macbeth. Unmittelbar nach Beginn des Krieges war die Zusammenarbeit mit der Star-Sängerin zunächst auf Eis gelegt worden.

Die Feigheit des SWR Symphonieorchesters

Fast drei Monate ist es her, dass der Komponist und Blogger Alexander Strauch und ich beim SWR angefragt haben, ob man den Bass Alexey Tikhomirov wirklich mit dem SWR Symphonieorchester und Teodor Currentzis in Stuttgart, Freiburg, Mannheim und Hamburg auftreten lassen wolle. Tikhomirov ist in sozialen Medien mit seiner Nähe zu Putins Krieg und durch Auftritte mit dem Sankt-Georgs-Band aufgefallen, außerdem hatte er einer kremlkritischen Musikerin gedroht, sie beim russischen Geheimdienst anzuzeigen. Der SWR versprach mir damals, die Sachlage zu prüfen, ließ dann aber nichts mehr von sich hören – auch nicht auf die Bitte, sich mit Ergebnissen zu melden. Als Alexander Strauch vorletzte Woche nachhakte, erklärte der Sender, dass in diesem Falle „kein Kommunikationsbedarf“ bestünde. Wir haben an dieser Stelle darüber berichtet und gefragt, wie ein öffentlich-rechtlicher Sender derart handeln kann. Offensichtlich ist nun doch etwas passiert. Denn jetzt erklärt der SWR plötzlich, dass Alexey Tikhomirov seine Auftritte in Deutschland „aus privaten Gründen“ abgesagt hätte. Für den SWR haben sich damit alle weiteren Fragen erledigt. Doch was verwundert, ist, dass Tikhomirov weiter gemeinsam mit Currentzis in Russland probt – in den von der VTB Bank finanzierten Räumen des Dom Radios. Nicht auszuschließen, dass der Bass bei den Aufführungen in Russland weiterhin mit dem Chefdirigenten des SWR auftreten wird. Bleibt die Frage: Welches Licht wirft das auf das SWR Symphonieorchester, auf seine hanebüchene und zögerliche Öffentlichkeitsarbeit und vor allen Dingen auf seine Gesamtleiterin Sabrina Haane? Mich würde interessieren, wie JournalistInnen des SWR reagieren würden, wenn sie an anderer Stelle mit einer Öffentlichkeitsarbeit wie beim SWR zu tun hätten. Es ist überflüssig zu berichten, dass der SWR die Frage, was Teodor Currentzis zu diesen Vorgängen sagt, unbeantwortet lässt. Die aktuellen Entwicklungen fasst Strauch hier zusammen.

Personalien der Woche II

Die Hochschule für Musik in Weimar hat den Vertrag mit der US-Pianistin Claire Huangci gekündigt, pikanterweise, als sie in Babypause war. Nun klagt die Musikerin. +++ Es ist schon interessant, wie unterschiedlich bei den Festspielen mit Auslastungszahlen jongliert wurde. Die Bayreuther Festspiele und Intendantin Katharina Wagner standen im Sommer andauernd in der Kritik, weil sich die von der Gesellschaft der Freunde zurückgegebenen Ring-Karten nicht sofort verkauften und die Preise gestiegen sind. Am Ende sah die Bilanz hier vollkommen okay aus: 97 Prozent Auslastung – und auch finanziell und künstlerisch überzeugten die Wagner-Festspiele. Die Salzburger Festspiele und Markus Hinterhäuser prahlten derweil andauernd mit ihrem Super-Sommer, aber wenn sie nun Bilanz ziehen, steht neben einem mehr als mäßigen Programm zwar ebenfalls eine Auslastung von 98,5 Prozent, aber auch ein Einnahmen-Minus von 29 Millionen Euro gegenüber dem Vorjahr. Konsequenz: Auch in Salzburg werden die Kartenpreise kommenden Sommer steigen – und hoffentlich auch das künstlerische Niveau.

Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht ja hier. Diese Woche möchte ich Sie für eine ganz besondere Ausgabe des Podcasts Alles klar, Klassik? werben: Der aktuelle Festspielsommer war durch Absagen gekennzeichnet: Jonas Kaufmann, Joseph Calleja, und am Ende gab auch noch Wagner-Tenor Stephen Gould bekannt, dass er seine Karriere krankheitsbedingt beendet. Veranstalter leiden unter kurzfristigen Absagen, das Publikum wird enttäuscht. Aber was ist schuld daran? Der steigende Druck? Zu wenig Zeit zur Rekonvaleszenz? Oder Unwissen über die Stimm-Pflege? Ich habe für die aktuelle Ausgabe des Podcasts Alles klar, Klassik? beim Wagner-Tenor Andreas Schager nachgefragt und beim Stimm-Professor der Ludwig-Maximilians-Universität in München, bei Matthias Echternach. Echternach begleitet viele prominente Stimmen und gibt in dieser Ausgabe Einblicke in seine Arbeit und konkrete Stimmtipps. Den Podcast können Sie auf Spotify hören, wenn Sie das Bild unten anklicken, oder mit diesen Links bei Apple Podcast oder für jeden Player.
Ich hoffe, dass Sie das Hören inspiriert. Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

Axel Brüggemann

brueggemann@crescendo.de

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