KlassikWoche_RGB_2020-09

Wer macht Chicago? Was wird aus Ludwigsburg? Und der Nahostkonflikt in der Klassik.

Willkommen in der neuen KlassikWoche,

heute mit Klaus Mäkeläs neuer Musik-Liebschaft, einem spannenden Opern-Computerspiel, dem Ludwigsburger Erbe und einer Stellungnahme der Barenboim-Said Akademie.

Hat sich das Concertgebouw verzockt?

Die Mäuse pfeifen es seit Wochen durch die Löcher des holländischen Käses: der designierte Chefdirigent des Concertgebouworkest, Klaus Mäkelä, scheint eine neue Liebe zu haben (nein, Yuja ist noch immer aktuell!). Angeblich flirtet er derzeit heftig mit dem Chicago Symphony Orchestra – und das mit ihm. Wird der Finne Nachfolger von Daniel Barenboim, Pierre Boulez und Riccardo Muti?
Bestätigt ist noch nichts, aber es scheint nicht unmöglich, dass Mäkelä noch vor seinem Amtsantritt in Amsterdam im Jahre 2027 Chef in Chicago wird. Hat das Concertgebouworkest sich etwa verzockt, als es dem jungen Dirigenten so viele Jahre im Voraus einen Vertrag gab, um zu warten, bis Mäkeläs Verträge in Paris und Oslo auslaufen?

Neues Genre: Computerspiel-Oper

Stellen Sie sich vor, Sie sind eine junge Komponistin, aber die Proben zu Ihrem neuen Stück werden immer wieder gestört. Sie müssen entscheiden, wie es weitergeht. So ungefähr funktioniert die weltweit erste Videospiel-Oper Kairosis von Komponist Moritz Eggert. Ein interaktives Neue-Musik-Erlebnis, das durchaus seinen Charme entwickelt und Musik ganz selbstverständlich als Leitmotiv der digitalen Fiktion begreift. Der Klarinettist des Offenbacher Broken Frames Syndicate, Moritz Schneidewendt, hatte die Idee – und nun lesen Sie erst den Newsletter zu Ende, und dann auf zum kostenlosen Spielvergnügen: Hier entlang!

Personalien der Woche I

100 Jahre Loriot, und die ARD feiert. Unter anderem mit einem Zusammenschnitt seiner besten Klassik-Auftritte wie dem legendären Klavierträger-Dirigat bei den Berliner Philharmonikern. Unbedingt ansehen! +++ Deutsche Häuser und der Publikumsschwund: Die Deutsche Oper am Rhein lockt das Publikum mit der Aktion „Zahl, so viel Du willst“, am Theater Bremen gibt es sogar den „No pay November“ – alle Vorstellungen sind für Azubis umsonst! In einer unrepräsentativen Umfrage auf meinem Insta-Kanal votierten 78 Prozent für „geniales Marketing“, 22 Prozent für „Kultur-Dumping“.
Am 6. November wird der Verein art but fair UNITED unter seinem Vorsitzenden Wolfgang Ablinger-Sperrhacke eine weitere Musterklage zur Provisionsteilung gegen die österreichische Bundestheaterholding einreichen. Zudem soll über den Verfahrensstand der Musterklage im Chorbereich gegen die Salzburger Festspiele informiert werden.

Stellungnahme der Barenboim-Said Akademie

Nach unserer Berichterstattung letzte Woche erklärte der Kanzler der Barenboim-Said Akademie, Christian Seibert, dass Posts zum Nahostkonflikt seiner Alumni (unter anderem ein Boykott-Aufruf gegen deutsche Geschäfte) für ihn keine antideutschen Tendenzen aufweisen. Für Seibert gehören die ihm bekannten Social-Media-Kommentare ins „Spektrum der akademischen Meinungsäußerung“. Einen Widerspruch zu den Idealen der Akademie, zu Empathie und Mitmenschlichkeit, könne er auch in den explizit pro-palästinensischen Posts nicht erkennen (das ganze Statement am Ende des Newsletters). Ein Sprecher von Kulturstaatsministerin Claudia Roth (die Bundesregierung finanziert die Akademie mit) erklärte mir gegenüber: „Die Barenboim-Said Akademie leistet seit vielen Jahren unglaublich wertvolle Arbeit bei der Verständigung zwischen israelischen und arabischen Menschen, unter MusikerInnen aus der Region. (…) Wir haben Vertrauen in die Akademie, dass sie diese Debatten respektvoll führt. Keinen Zweifel haben wir, dass sich die Barenboim-Said Akademie gegen Antisemitismus und Rassismus positioniert und dies auch zum Selbstverständnis aller dort gehört.“ Auf Grund der Komplexität der Lage habe ich eine ausführliche Dokumentation der Situation an das Ende dieses Newsletters gestellt.

Ludwigsburgs schwieriges Erbe

Sagen wir es einmal so: Jochen Sandig war kein idealer Intendant für die Ludwigsburger Schlossfestspiele, die er gern kosmopolitisch „Ludwigsburg Festival“ nannte. Vielleicht symbolisiert dieser Anspruch auch sein großes Missverständnis: Das Festival hat einen Großteil seines Publikums einfach nicht mehr mitgenommen, MitarbeiterInnen waren enttäuscht – am Ende schien sich alles mehr um den Selfie-Intendanten als um die Kunst zu drehen. Irgendwie wirkte alles ein bisschen opportunistisch und namensgeil. Und, ja, die dünne finanzielle Ausstattung des Festivals tat das Ihre. Nun werde alles auf den Prüfstand gestellt, und der Aufsichtsratsvorsitzende Matthias Knecht erklärte, man plane die Zukunft mit einer Doppelspitze für künstlerische und kaufmännische Angelegenheiten. Derzeit gebe es rund acht KandidatInnen, Anfang 2024 soll eine Entscheidung fallen. Sicher ist schon jetzt: Das 2,5 Millionen Budget soll um 500.000 Euro aufgestockt werden (man weiß allerdings noch nicht nicht, woher das Geld kommen soll). Gleichzeitig soll das Festspielorchester ab 2025 in seiner jetzigen Form aufgegeben und Personal abgebaut werden. Außerdem wird die Spielzeit um zwei Wochen verkürzt. Ich persönlich glaube, dass Ludwigsburg endlich wieder zu den Menschen kommen muss – in Bonn zeigt Steven Walter gerade, wie man ein altbackenes Festival neu beleben kann, ohne altes Publikum zu vergraulen.

Auf unseren Bühnen

Mozarts Meisterwerk Le nozze di Figaro stand gleich mehrfach auf dem Programm unserer Bühnen. Evgeny Titov inszenierte die Oper in München als wohl überdrehten Quatsch mit Sauce, sodass für Markus Thiel vom Münchner Merkur hauptsächlich eine Frage blieb: „Wie dieser vollautomatische Dildo-Thron funktioniert, was es mit einem anstellt, wenn die Beine auseinandergefahren werden und die Lustdinger nach oben klappen, man hätte es gern gewusst.“ Gefeiert indes die Inszenierung von Philipp M. Krenn am Staatstheater Meiningen. „Perfekte Unterhaltung mit Hintersinn“, schwärmt Joachim Lange in der Neuen Musikzeitung.

Personalien der Woche II

Alessandra Ferri wird neue Tanzchefin an der Wiener Staatsoper und damit Nachfolgerin von Martin Schläpfer. +++ Markus Fein wird vorzeitig als Intendant der Alten Oper in Frankfurt verlängert. „Markus Fein denkt in Kooperationen und kultureller Teilhabe und das passt zu Frankfurt. Es ist ihm ein großes Anliegen, die Alte Oper für unsere pluralistische und vielstimmige Stadtgesellschaft zu öffnen und neue Zielgruppen zu erschließen“, sagte die Kulturdezernentin Ina Hartwig. +++ Karajans ehemaliger Pressesprecher, Peter Csobádi, ist im Alter von 100 Jahren verstorben. Ein spannendes Leben an der Seite der Dirigenten-Legende – sehr lesenswert die Würdigung in der Internet-Zeitung DrehPunktKultur.

Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht ja hier? Es mag sein, dass wir schreibenden Klassik-Fuzzis einander das C-Dur im E-Mail-Fach nicht gönnen. Aber es gibt eben auch positive Beispiele. Die KollegInnen von Klassik begeistert haben nach dem Vorabdruck meines Buches über die Situation des Klassik-Journalismus so was von losgeledert, dass ich lieber geschwiegen habe. Umso mehr hat mich nun die differenzierte Auseinandersetzung mit dem Essay Die Zwei-Klassik-Gesellschaft durch Leander Bull auf eben dieser Seite gefreut: Er stimmt nicht mit all meinen Analysen überein, kritisiert, dass ich nur wenige ästhetische Antworten liefere, findet aber durchaus Ansatzpunkte für gemeinsame Debatten. Genau das ist der offene Diskurs, den ich gemeint habe: konstruktive Kritik, gemeinsames Weiterdenken – mit offenem Visier. Ich freue mich auf die nächste Bayreuth-Warte-Schlange, Andreas Schmidt!

Und weil gerade alles so Friede-Freude-Eierkuchen ist, soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass auch aus dem Hause VAN ein neues Buch erschienen ist: Arno Lückers Serie über Komponistinnen stellt 250 Tonsetzerinnen vor: 250 Komponistinnen vereint berühmte und vergessene Frauen, amüsant und ernsthaft, unterhaltsam und zuweilen mit erschreckenden Blicken auf Leben und Werk – ein Buch, das nach dem Lesen Lust auf ein Weiterhören macht!

Wer jetzt noch nicht genug hat, dem sei die Klassik-Woche zum Nachhören empfohlen: Dorothea Gregor und ich besprechen in der aktuellen Folge von Alles klar, Klassik? die Themen der Woche (alle Formate, apple podcast).
In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

Axel Brüggemann

brueggemann@crescendo.de

Barenboim-Said Akademie: Was war

Selbst in der New York Times war in dieser Woche zu lesen, dass die Barenboim-Said Akademie in Berlin derzeit vorbildlich unvereinbare Pole in der Musik vereine. Die Zeit druckte den eindrucksvollen Bericht eines Lehrenden. Aber ist die Situation wirklich so uneingeschränkt positiv, wie es zu lesen ist? Ich habe letzte Woche an dieser Stelle aus Posts von Alumni zitiert, in denen eindeutig pro-palästinensische Positionen eingenommen wurden, ohne die Gräueltaten an Israelis zu erwähnen (ich hielt und halte es auf Grund der Sensibilität des Themas für richtig, keine Namen in die Öffentlichkeit zu stellen).

Unter anderem postete eine Alumni der Akademie unter dem Titel Aus Solidarität mit Palästina folgenden Aufruf auf Instagram: „Jeder soll die nächsten drei Tage die deutschen Geschäfte meiden und am besten auch nicht tanken (…) Deutschland soll sehen, wie es ist, wenn Ausländer zusammenhalten und wie sehr sie an uns gebunden sind. Die ganzen Geschäfte werden sich wundern, wieso der Umsatz abnimmt und was für Verluste sie machen.“ Ein anderer Post eines Alumni schreibt auf dem Foto eines kämpfenden Palästinensers „Seht, wie man das Fleisch von Menschen, aber nicht ihren Geist brechen kann.“ Ein Ex-Alumni und Lehrer der Akademie in Ramallah relativierte den Terror der Hamas vom 7. Oktober auf Facebook wie folgt: „Hamas wurde nicht gegründet, um Juden auszurotten, und die Attacke vom 7. Oktober hat nichts mit Juden zu tun. Es geht um Siedler mit kolonialistisch weißem und suprematistischen Zionismus, um eine Gruppe von Juden – nicht um alle. Hamas bekämpft seine Besetzer, seine Kolonialisten seine Unterdrücker, die seit fast 100 Jahren Straftaten an Palästinensern begehen, die 100 Mal schlimmer sind als die Taten vom 7. Oktober.“ Und dann lassen sich auf Seiten von Professoren der Akademie auch noch Posts finden, in denen Deutschland als neue „DDR“ oder als „einen vom Ministerium für Staatssicherheit geführten Menschenzoo“ beschrieben wird. Wie weit her ist es also mit der Behauptung, dass Menschenwürde und Empathie in der Barenboim-Said Akademie an erster Stelle stehen? Ich wurde stutzig, auch, weil aus dem Umfeld jüdischer Alumni Berichte an mich herangetragen wurden, dass die MusikerInnen aus Israel sich zum Teil nicht mehr wohl an der Akademie fühlten.

Barenboim-Said Akademie: Stellungnahme des Kanzlers

Der Kanzler und Geschäftsführer der Akademie, Carsten Siebert, erklärte mir in einem Telefonat nun, dass derartige Ängste jüdischer Alumni bislang nicht an ihn herangetragenen wurden und verwies auf das gemeinsame Konzert von jüdischen und arabischen Alumni mit Daniel Barenboim. In den Social-Media-Posts erkennt Siebert keine antideutschen Tendenzen, sie bewegen sich für ihn im Spektrum der akademischen Meinungsäußerung. Und auch einen Widerspruch zu den Idealen der Akademie, zu Empathie und Mitmenschlichkeit, könne er nirgendwo entdecken.

Schriftlich erklärte Siebert: „Die Frage nach einer ‚Duldung‘ von Social-Media-Beiträgen stellt sich nicht – alle Menschen in diesem Land haben zum Glück das Recht, sich frei zu äußern. Wir sind als Hochschule sogar in besonderer Weise zum Schutz und zur Pflege dieser Rechte verpflichtet. Das gilt auch und besonders für Meinungen, die die Hochschulleitung möglicherweise nicht teilt – Freiheit ist tatsächlich immer die Freiheit des Andersdenkenden.“

Barenboim-Said Akademie: Stellungnahme von Claudia Roth

Die Barenboim-Said Akademie wird zu einem großen Teil von der Bundesregierung mitfinanziert, die Stipendien vom Auswärtigen Amt gestellt. Mit den aktuellen Posts konfrontiert, erklärte ein Sprecher von Kulturstaatsministerin Claudia Roth: „Die Barenboim-Said Akademie leistet seit vielen Jahren unglaublich wertvolle Arbeit bei der Verständigung zwischen israelischen und arabischen Menschen, unter MusikerInnen aus der Region. Dies ist in diesen Tagen durch den schrecklichen Terror der Hamas und den Militär-Einsatz in Gaza keine leichte Aufgabe. Viele, die in der BSA lernen und lehren sind direkt von den Ereignissen betroffen, haben Freunde und Familie in der Region. Wir haben Vertrauen in die Akademie, dass sie diese Debatten unter ihren SchülerInnen, LehrerInnen und Mitarbeitenden respektvoll führt. Keinen Zweifel haben wir, dass sich die Barenboim-Said Akademie gegen Antisemitismus und Rassismus positioniert und dies auch zum Selbstverständnis aller dort gehört.“

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