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Klassik-Watschn, Intendanten-Ego und Publikumsschwund  

Willkommen in der neuen Klassik-Woche

heute geht es um eine Revolte, die in Wahrheit eine Ohrfeige des Anachronismus ist, um Zoff in Kassel, darum, was wir aus der Vergangenheit lernen können und – um dramatischen Publikumsschwund in Berlin.

Zoff in Kassel

Kassel sucht einen neuen Musikdirektor oder eine Musikdirektorin. Problem: das Orchester ist an der Entscheidungsfindung nicht beteiligt. Und das sorgt für allerhand Zoff. Das Orchester fühlt sich von Intendant Florian Lutz nicht mitgenommen und protestiert. Inzwischen wurde bereits eine Abmahnung ausgesprochen, drei Orchestermitglieder wurden ermahnt. Die Sache landete vor Gericht. Nun mischt sich auch Ex-GMD Patrik Ringborg in die Debatte ein und stützt das Orchester: „Es gibt kein Beispiel dafür, dass ein Dirigent gegen den Wunsch eines Orchesters installiert worden ist.“ Auch der Vorsitzende der GMD-Konferenz, Marcus Bosch, kommentiert bei Facebook mit Blick auf Intendant Lutz, der zuvor in Halle war: „Wie konnte sich Kassel das Scheitern Halles trotz aller bekannter Probleme einkaufen? Unter dem Beifall entsprechender Journaille… Die Diskrepanz zwischen scheinbarer Modernität und tatsächlichem Führungsverständnis ist erstaunlich…“ Es wäre erstaunlich, wenn die Personalentscheidung in Kassel wirklich eine Entscheidung dicker Köpfe und nicht offener Herzen wäre.

Klassik-Woche als Video

In eigener Sache: Ich habe Mal ein bisschen herumgespielt und die Klassik-Woche als 10-Minuten-Video zusammengeschnitten (inklusive exklusiver Interviews mit Wolfgang Ablinger-Sperrhacke über die Salzburg-Klage und Peter Gelb über das Sponsorengeschäft). Hat Spaß gemacht. Vielleicht mache ich das in Zukunft ja regelmäßig. Zu sehen ist es auf meinem YouTube-Kanal (um nichts zu verpassen, schnell abonnieren, oder einfach oben auf das Bild klicken).

Dramatisch: Berlin verliert Klassik-Publikum

Wer mahnt, dass die Klassik auf den Publikumsschwund reagieren muss, wird gern als lächerlicher Modernist abgetan. Schließlich seien die Eindrücke doch höchst subjektiv, der Klassik ginge es gut und junge Leute seien noch nie da gewesen. Doch nun legt Berlin neue Zahlen vor. Und die stimmen bedenklich! Immer weniger Menschen besuchen Ausstellungen, klassische Konzerte, Theater-, Opern-, Ballett- oder Tanztheateraufführungen. Laut einer Studie des Berliner Instituts für Kulturelle Teilhabeforschung nehmen die Besucherzahlen seit mindestens fünf Jahren kontinuierlich ab. Ein Trend, der sich 2023 nochmals deutlich verstärkt habe. Inzwischen besuchen 42% der Befragten klassische Kulturangebote nicht mehr so oft wie vor der Corona-Pandemie. Bei Menschen über 70 Jahren sind es sogar 53%. Die Generation der Babyboomer bricht also als Kulturpublikum schneller weg, als es demografisch zu erwarten wäre, so die Studie. Gleichzeitig ist das Nachrücken eines jüngeren Publikums nicht erkennbar. Zu ähnlichen Ergebnissen kam bereits der Relevanzmonitor Kultur der Bertelsmann-Stiftung, über den ich hier eine ganze Sendung gemacht habe, unter anderem mit Dominique Meyer, Sarah Wedl-Wilson, und Matthias Meis. Klar ist: Augen verschließen geht nicht mehr!

Salzburg: Programm wie eine Watschn

Den Großteil des Programmes der Salzburger Festspiele hatten wir an dieser Stelle ja bereits vorhergesehen. Und was Intendant Markus Hinterhäuser am Nikolaustag bekannt gegeben hat, barg nun wirklich keine Überraschung mehr. Berauschend höchstens: Warum saß Festspiel-Präsidentin Kristina Hammer eigentlich im Publikum, und wird sie das Programm gemeinsam mit dem Intendanten auf internationalen Terminen vorstellen? Oder wird Hinterhäuser sie auch hier wieder öffentlich ausbooten? Fast schon trotzig scheint er an Teodor Currentzis festzuhalten. Neben einer Wiederaufnahme des Don Giovanni darf der Chef des von der VTB-Bank gesponsorten Orchesters MusicAeterna (der mit dem zum Teil von der DM Privatstiftung unterstützten Utopia-Orchester nach Salzburg anreist) nun auch Bachs Matthäus-Passion entweihen. Mit dabei: Regula Mühlemann und Julian Prégardien, der auf Facebook lauthals losjubelte und die Werbetrommel für den Griechen Currentzis schlug (der nach der Annexion der Krim auch noch Russe wurde): „Ich freue mich sehr, dass im Sommer meines 40. Geburtstages Träume wahr werden – Don Giovanni geleitet von Teodor Currentzis (…).“ Na denn!
Etwas aufgestülpt scheint das Festspiel-Motto der „Revolte“ (verbindet das wirklich Don Giovanni, Hamlet oder Der Spieler?). Ist es nicht mehr eine Art Selbstbespiegelung des Intendanten, der wegen seiner Einfallslosigkeit, seiner gestrigen Alt-Männer-Besetzungen, seiner merkwürdigen politischen Einlassungen zur FPÖ und seiner mangelnden öffentlichen Kommunikation in der Kritik steht? Offen, ob Hinterhäuser sich selber auch als Provokateur versteht, der mit Furor gegen den Rest der Welt kämpft? Auf jeden Fall dürfte ein Programm mit Currentzis, dem Regisseur Krzysztof Warlikowski und der Rückkehr des zuweilen ungehaltenen Dirigenten John Eliot Gardiner jedem, der an die Modernität der Klassik glaubt, wie eine gehörige Watschn gegen die aufgeklärte Vernunft vorkommen!

Und noch ein Prozess

Und dann hat Salzburg noch ein anderes Problem: die Prozesse werden allmählich so unübersichtlich wie bei Donald Trump. Nachdem der Prozess um die ungeklärten Anstellungsverhältnisse der Chorsängerinnen und Chorsänger und den Umgang in der Corona-Zeit 2020 immer wieder verschoben wird, hat der Verein art but fair UNITED unter Vorsitz des Sängers Wolfgang Ablinger-Sperrhacke nun auch noch eine Strafanzeige wegen schweren Betrugs bei der zentralen Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft in Österreich eingereicht. Die Anzeige richtet sich gegen die Geschäftsführung der Salzburger Festspiele, Intendant Markus Hinterhäuser und den kaufmännischen Direktor Lukas Crepaz. Es geht auch hier um die ungeklärte Rechtslage für Sängerinnen und Sänger bei den Salzburger Festspielen 2020 (Probezeiten wurden nicht bezahlt, die spontane Absage von Aufführungen in der Pandemie wurde nicht ausgeglichen). Auf Nachfrage von CRESCENDO zieht Ablinger-Sperrhacke nun auch eine Parallele zur spontanen Jedermann-Absage bei den Festspielen: „Das ist einfach gegen das Einmaleins des Vertragswesens, das muss Herr Hinterhäuser zur Kenntnis nehmen.“ (Auszüge aus meinem Gespräch mit ihm hier auf YouTube)

Wie nahe ist uns 1938?

Herbert von Karajan einfach in den Keller stellen? So billig macht es sich die Volksoper Wien nicht mit ihrer Vergangenheitsbewältigung! Zum 125. Jubiläum des Hauses hat sich Intendantin Lotte de Beer etwas ganz Besonderes einfallen lassen: Lass uns die Welt vergessen – Volksoper 1938 heißt die kommende Premiere: Zu sehen sind die Proben zur Operette Gruß und Kuss aus der Wachau zur Zeit von Hitlers Einmarsch in Österreich. Die aktuelle Inszenierung fragt: Was haben Intoleranz, Diskriminierung und Faschismus mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Volksoper gemacht? Und was kann Musik heute noch gegen Nationalismus ausrichten? In der neuen Folge von Alles klar, Klassik? (hier für Spotify und ApplePodcast) habe ich die Rolle der Kultur damals und heute mit der Historikerin Marie-Theres Arnbom, dem Regisseur Theu Boermans und der Dirigentin Keren Kagarlitsky diskutiert. Eine spannende Stunde Geschichte mit sehr vielen Ausblicken in unsere Gegenwart – und die andauernde Frage: Was kann Kultur bewirken? Ich lege Ihnen diesen Podcast sehr ans Herz. Übrigens: Ich habe bei Aachens Intendantin Elena Tzavara nachgefragt, ob wir nicht Mal über die Karajan-Kelleraktion reden wollen. Aber es kam nicht einmal eine Antwort. Die Vergangenheit in den Keller und keine Antworten für die Gegenwart? Das ist schon befremdlich. Ich habe das kürzlich für den Freitag kommentiert (hinter Paywall).

Personalien der Woche

Jakub Hrůša bleibt Bamberg treu, gerade hat er seinen Vertrag, der seit 2016 läuft, bis 2029 verlängert. Dass er auf dem offiziellen Foto ein wenig aussieht wie ein Sprecher der Aktuellen Kamera ist fast schon wieder lustig. +++ Als Reaktionen auf die Sparmaßnahmen im Chor der Bayreuther Festspiel war oft zu lesen, man müsse eben nur einen neuen Sponsor holen und alles sei gut. Das klingt leichter als es ist. Denn Klassik lockt schon lange keine Sponsoren mehr. Das hat Peter Gelb kürzlich erst in einem Interview mit uns erklärt – und nun spüren es auch die Bregenzer Festspiele. Einer der Hauptsponsoren war BMW – und der ist nun abgesprungen. +++ Die Nachfolge für Laura Berman und Sonja Anders an der Spitze des Staatstheaters Hannover steht fest: Bodo Busse übernimmt die Leitung der Staatsoper, Vasco Boenisch wird Intendant des Schauspiels. +++Die English National Opera muss nach Manchester umziehen: Bis 2029 soll das Opernhaus London verlassen. Die neue Partnerschaft hat die Schwerpunkte, Oper weiter zu entwickeln, kreative Partnerschaften zu installieren und lokale Talente zu fördern. So verkauft man einen Kahlschlag als Innovation. +++ München will die Renovierung des Gasteigs: „Auch in schwierigen wirtschaftlichen Zeiten stehen wir zu unseren Kultureinrichtungen“, sagte Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD). „Wir führen den Gasteig als größte europäische Kultureinrichtung in die Zukunft, und er steht weiter dafür, Kultur für alle zu bieten.“ Der Stadtrat muss am 20. Dezember entscheiden.

Justus und kein Ende

Letzte Woche hatten wir an dieser Stelle über einen Salon bei Justus Frantz berichtet (er hatte unter anderem Sahra Wagenknecht, Roger Köppel und Hans-Joachim Frey geladen). Diese Woche gab es allerhand Nachspiele. Der Intendant des Schleswig-Holstein Musik Festivals, Christian Kuhnt, erklärte der Zeit, warum er Frantz bereits letztes Frühjahr nicht mehr eingeladen hat: „Wir dürfen uns auf gar keinen Fall von einem Land vor den Karren spannen lassen, das zuerst die Freiheit beschneidet und dann einen mörderischen Krieg beginnt. Ich kann einer so kühl geplanten Aggression wie der von Putin nicht mit kulturvernebelter Naivität begegnen.“ Frantz selber sagte der Deutschen Welle: „Wenn die Deutschen mich nicht mehr mögen, gibt es eine Versuchung, das Jubiläum in einer der schönsten Städte der Welt zu feiern – in St. Petersburg.“ Der Pianist erklärt der Deutschen Welle ebenfalls, wie Wladimir Putin in die Konzerte gekommen sei, die er in Russland dirigiert habe („Die Zauberflöte auf Deutsch, das war eine Sensation in Russland.“) und sagt, er habe Valery Gergiev bereits zu seiner Ernennung als Chef des Bolschoi gratuliert.“ Auf die Frage, ob er die russische Staatsbürgerschaft annehmen wolle, antwortet Frantz: „Nein, ich bin Deutscher. Aber ich denke über eine Aufenthaltserlaubnis in Russland nach.“

Personalien der Woche II

Das Gerücht gab es schon lange, nun ist es offiziell: Christian Thielemann wird 2025 in Bayreuth den Lohengrin und die Meistersinger von Nürnberg dirigieren und damit an den Hügel zurückkehren. Diesen Sommer ist er bei den Salzburger Festspielen zu hören. +++ Christoph Waltz hat – mal wieder – über seine Klassik-Begeisterung gesprochen. Dieses Mal mit Gramophone. Seine Initialzündung: Eine Turandot-Aufführung mit Birgit Nilsson, als er 10 Jahre alt war. „Ich erinnere noch heute jede Sekunde.“ +++ Wirklich lesenswert, allein die Intro von Manuel Brug zur Scala-Eröffnung in der Welt, zum ganzen Text geht es hier: „Liliana Segre, 93-jährige Holocaust-Überlebende und Senatorin auf Lebenszeit, sitzt in der gleichen ersten Reihe der blumengeschmückten Königsloge wie der postfaschistische Senatspräsident Ignazio La Russa und der linke Mailänder Bürgermeister Giuseppe Sala. Und noch vor der blaskapelligen (…) Nationalhymne, schreit es aus einer Loge ‚No al fascismo‘ und hinterher aus einer anderen ‚Viva l’Italia, viva l’Italia antifascista‘. Politisches Paradox als Normalzustand.“

Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Ich habe diese Woche ein Album gehört, das mich zutiefst berührt hat. Und dabei bin ich gar kein großer Ligeti-Fan. Aber was das Quatuor Diotima da ausgegraben hat, hört sich an wie eine ureigene, neue Welt, der man beim Entstehen zuhören kann – ja: ein ganzer Kosmos, in dem die Schwerkraft der Tonalität in schönster Form aufgelöst wird! 1945 erschien das erste Streichquartett von Ligeti, in dem die Bartók-Tradition noch brav mitgeschleppt, aber schon vollkommen neu ausgeleuchtet wird. Im zweiten Quartett hat Ligeti dann seine eigene Welt aus Licht, Schweben und Zwischentönen erschaffen – kein Wunder, dass dieses Stück längst zum Klassiker geworden ist. Und trotzdem so neu klingt. Ab in den Ohrensessel, Kopfhörer auf – und: losgehört!

In diesem Sinne: halten Sie die Ohren steif

Ihr

Axel Brüggemann

brueggemann@crescendo.de

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