KlassikWoche_RGB_2020-09

Alles Balla-Balla

Willkommen in der Klassik-Woche,

heute mit einer Geschichtsstunde in München, der Klavier-Krise in China, etwas Opern-Balla-Balla aus Wien und einer exquisiten Presse-Auslese zum Disput bei den Wiener Festwochen.

Zwei Münchner Geschichtsstunden

Sie können es nicht lassen! Die Freunde von Siegfried Mauser, dem ehemaligen Präsidenten der Musikhochschule München, verstehen die Institution noch immer als Ort, an dem sie ihre Positionen in Szene setzen wollen. Doch zum Glück wird das Haus an der Arcisstraße inzwischen von Lydia Grün geleitet. Sie ist eine stilsichere Ballerina auf dem Grat von Geschichte und Zukunft. Was war passiert? Der Germanist und Wagnerianer Dieter Borchmeyer wollte seltene Werke Wagners in der Musikhochschule aufführen. Borchmeyer hatte einst Wagners Schriften herausgegeben, allerdings ohne den antisemitischen Text „Das Judenthum in der Musik“. Grün lehnte sein Ansinnen nach Informationen von Robert Braunmüller in der Abendzeitung ab. Mit der Begründung, dass ein derartiges Vorhaben ohne historische Einordnung an der Musikhochschule nur schwer möglich sei. Die Münchner Musikhochschule galt als repräsentativer „Führer-Bau“, in dem 1938 das „Münchner Abkommen“ unterzeichnet wurde. Grün ließ Borchmeyer wissen: „Außerdem möchte und kann ich nicht verschweigen, dass Ihre öffentliche persönliche Positionierung zugunsten des ehemaligen Präsidenten der HMTM, Dr. Siegfried Mauser, ebenfalls in unsere Entscheidung grundlegend eingeflossen ist." Grün spielt darauf an, dass Borchmeyer nicht nur Mitherausgeber einer Festschrift für den umstrittenen Präsidenten war (der wegen sexueller Übergriffe angeklagt wurde und eine Haftstrafe absaß), sondern seine Taten öffentlich herunterspielte. Grün teilte ihm nun unmissverständlich mit: „Positionen, welche die Straftaten von Herrn Dr. Mauser nicht als solche akzeptieren oder diese bagatellisieren, sind an unserer Hochschule nicht willkommen." Eine Mail und zwei Stunden Geschichtsunterricht. Chapeau!

Klavier-Krise in China

Der chinesische Klavier-Boom hatte einen Namen: Lang Lang. Er war für das Klavierspiel seiner Heimat, was Boris Becker für den deutschen Tennis war: ein Vorbild. 2001 standen in 100 städtischen chinesischen Haushalten durchschnittlich nur 1,3 Klaviere. 2021 stieg die Zahl auf durchschnittlich acht. Es gab Zeiten, als 40 Millionen Menschen in China Klavier lernten, und die Regierung förderte all das mit so genannten „Klavierpunkten“ an den Schulen. Das Instrument galt als Statussymbol, aber: die chinesische Klavierschule stand auch für übereifrige Eltern und strenge Erziehung. Das war irgendwann selbst der chinesischen Regierung genug. Sie schaffte die Klavierpunkte wieder ab, und auch Eltern wollten ihren Kindern plötzlich wieder eine unbeschwertere Jugend gönnen. Hinzu kam die Wirtschaftskrise. Inzwischen liegt die Klavierindustrie in China am Boden. Es hat sich ausgeklimpert! 30 Prozent der Musikschulen mussten schließen, die Klavierproduktion verringerte sich von 400.000 auf nur noch 190.000 Klaviere. „Tastentrauma“ heißt der äußerst lesenswerte Artikel in der Süddeutschen, in der Florian Müller all das berichtet.

Personalien der Woche I

John Eliot Gardiner wird seine Rückkehr in den Klassik-Betrieb weiter verschieben. Gardiner hat seine Pläne abgesagt, Monteverdi-Chor und -Orchester auf einer Tour im Mai zu leiten. Gardiner geriet in die Schlagzeilen, nachdem er einem Kollegen nach einer Aufführung ins Gesicht geschlagen hatte. +++ Simon Rattle wird ab der Saison 2024/25 Erster Gastdirigent der Tschechischen Philharmonie. Der Brite hat dazu einen Fünfjahresvertrag unterschrieben. Semyon Bychkov bleibt Chefdirigent und Jakub Hrůša ebenfalls Erster Gastdirigent. +++ Guy Montavon, freigestellter Generalintendant des Theaters Erfurt, war als Regisseur für die Oper „Wilhelm Tell“ am Theater St. Gallen unter Vertrag. „Um den Ruf des Hauses unberührt zu lassen“ hat er sich nun dazu entschlossen, davon zurückzutreten. Montavon sieht sich mit Vorwürfen von sexuellen Übergriffen und Machtmissbrauch konfrontiert (hier ein ausführlicher Podcast zum Thema). +++ Neue Recherchen über die Russland-Auftritte von Teodor Currentzis und MusicAeterna gibt es hier im Bad Blog of Musick.

Opern-Balla-Balla

Es ist das große Lagerfeuer der Österreicher: Der Wiener Opernball. Während der Ball der Wiener Philharmoniker weitgehend Klassik-Spezialisten anlockt, ist die Konkurrenz am Ring eher ein schrilles Gesellschaftsphänomen. Dieses Mal auch dabei die halbe Dramatis Personae der „Bunte“: Oliver Pocher mit Ex Sandy Meyer-Wölden, Mörtel Lugner bezahlte Priscilla Presley für den Tanz, Heino war da, der Glööckler und DJ Ötzi. Am Ende des Abends ärgerte sich ein sichtlich genervter Intendant Bogdan Roščić im ORF über das Benehmen der Gäste, die in die Gesangs-Einlagen geredet und geklatscht hätten („Daran müssen wir noch arbeiten“). Zu hören waren unter anderem Elīna Garanča (sie überraschte Bertrand de Billy mit einem ureigenen Offenbach-Tempo) und Piotr Beczała (bemerkenswert, wie strahlend, präsent und lustvoll sein Timbre nach immer ist). Für einen Eklat soll nach Informationen von OE24 Anna Netrebko gesorgt haben. In ihrer Loge soll sie abfällige Gesten während Garančas Auftritt gemacht haben. Außerdem soll sie ein ORF-Interview abgebrochen haben, als das Thema Russland aufkam. Hier eine ausführliche Bildergalerie.

Klassik-Woche für die Ohren

Es ist wieder Zeit für aktuellen Klassik-Klatsch im Podcast „Alles klar, Klassik?“: Doro hat viele Themen auf dem Tisch, ich lache trotz gebrochener Rippe. Es geht um Zwischenrufe beim Opernball, die Alpha-Männer von Erfurt und Wiesbaden, den Münchner Wagner-Eklat und allerhand Personalien aus der Welt der Klassik. Außerdem ultimative Lobhudeleien auf Andrea Zietschmann und Piotr Beczała. Hier für alle Player, für apple Podcast oder Spotify.

Damrau vs. Regietheater

Jetzt auch Diana Damrau. In der Zeitung „Kurier“ beschwerte sie sich (ebenso wie zuvor schon ihr regelmäßiger Gesang-Partner Jonas Kaufmann) über das Regietheater: „Ich will nicht ständig irgendwelche Dinge in etwas transformieren müssen, was nichts mehr mit Schönheit zu tun hat und vielleicht auch gar nichts mehr mit dem Stück. Es muss ja nicht immer nur alles gefallen müssen, darum geht es ja gar nicht. Eine Inszenierung muss Tiefe haben und etwas übermitteln. (…) Es muss nicht immer hässlich und oder gewalttätig sein, um irgendwas aus unserer Gesellschaft zu spiegeln. Etwa ständig im Unterhemd über die Bühne rennen: Das muss ich mir echt nicht geben!“ Damrau erklärt, man würde ja auch keinen Renoir übermalen. Aber ist die Oper nicht genau deshalb so spannend? Weil sie - anders als ein Renoir – immer wieder neu geschaffen werden muss?

Theater in Zahlen

Der Deutsche Bühnenverein hat die Zahlen für die Spielzeit 2021/22 veröffentlicht und dabei die langsame Rückkehr des Publikums nach der Corona-Pandemie dokumentiert. Rainer Glaap ordnet die Zahlen auf seiner Homepage ein. „Die Veränderungen im Vergleich zur letzten vorpandemischen Spielzeit sind natürlich dramatisch. 2019/20 konnte noch teilweise gespielt werden, bis es zum ersten Lockdown im März kam. 2020/21 war von Schließungen, Ausfällen, Platzbeschränkungen geprägt. Die Spielzeit 2021/22 konnte dann im Frühjahr teilweise wieder in die Normalität zurückkehren, viele Besucher:innen waren aber zögerlich, wieder Kulturveranstaltungen zu besuchen – und manche sind es heute noch.“ Eine bessere Antwort auf die Frage, ob das Publikum wieder zurückkehrt, wird wohl erst die kommende Auswertung zeigen.

Personalien der Woche II

Quo vadis Kulturkritik? Diese Frage haben wir an dieser Stelle schon oft gestellt. Hier ein dringender Lese-Tipp: Johannes Franzen schreibt in seinem Essay für 54books unter anderem: „Hier liegen die eigentlichen Gründe für den Niedergang – eine Mischung aus ökonomischen und kulturellen Faktoren. Die Digitalisierung war für den Journalismus nicht deshalb eine Katastrophe, weil sie viel mehr Menschen ermöglichte, sich am öffentlichen Diskurs zu beteiligen, sondern vor allem deshalb, weil die Werbeeinnahmen, die das Geschäftsmodell der Presse finanzierte, im Verlauf von zwei Jahrzehnten verschwunden sind.“ +++ Andrea Zietzschmann bleibt bis Sommer 2028 Intendantin der Stiftung Berliner Philharmoniker. Der Stiftungsrat stimmte der Vertragsverlängerung zu, dies gewährleistet Kontinuität und Stabilität für das Orchester und die Spielstätten. +++ Josef E. Köpplinger, Intendant des Staatstheaters am Gärtnerplatz in München, hat die Verlängerung seines Vertrags für drei weitere Jahre unterschrieben. Damit bleibt er nach einstimmigem Votum des Ministerrats bis 2030 im Amt. +++ Brahms-Forscher Kurt Hofmann ist mit 92 Jahren in Lübeck gestorben: „Sammlung, Kulturerbe, Teilhabe, Nachhaltigkeit: Was wie ein Schlagwortkatalog vergänglicher Forschungsförderung klingt, ist das Selbstverständnis eines Mannes gewesen, der sein ganz persönliches Interesse am Gegenstand, seine Liebe zu Brahmsʼ Musik zum Anlass nahm, sie allen zu vermitteln und zu hinterlassen“, ruft Christiane Wiesenfeldt ihm in der FAZ nach. +++ Seiji Ozawa ist tot. Der Dirigent starb mit 88 Jahren an Herzversagen. Ozawa hat Musikgeschichte geschrieben. Der Bernstein-Schüler hat das Boston Symphony Orchestra fast 30 Jahre lang geleitet. Er machte das Orchester zum brillanten Spitzenensemble. An der Wiener Staatsoper wurde der „Hunterttausend-Volt-Dirigent“ (Joachim Kaiser) zum Erweiterer des Repertoires. Mit ihm hat sich ein leiser, leidenschaftlicher Musiker verabschiedet, der die Musik stets auf Hochglanz zu polieren wusste.

Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht ja hier. Letzte Woche habe ich an dieser Stelle darüber berichtet, dass die ukrainische Dirigentin Oksana Lyniv Bedenken hat, bei den Wiener Festwochen in einem Kontext mit dem russischen Dirigenten Teodor Currentzis aufzutreten. Darauf hat sich eine ausführliche, in großen Teilen differenzierte und kontroverse Debatte entwickelt. Der Pressesprecher des SWR, Matthias Claudi, erklärte der Badischen Zeitung indes, dass der Text eine „Boulevardisierung des Kulturjournalismus“ sei. Tatsächlich hatte ich auch für das Deutschlandradio und in einem ausführlichen Text für den Tagesspiegel berichtet. Das Thema wurde von zahlreichen Medien aufgenommen: Die Süddeutsche analysierte die Lage aus ihrer Perspektive, das Magazin Profil sammelte neue Stimmen, der Deutschlandfunk kommentierte, im NDR legte Festwochen-Intendant Milo Rau seine ausgeruhten Gedanken dar, der WDR und der BR ordneten die Situation ein, der österreichische Falter befragte die Möglichkeiten der Kunst in Kriegszeiten, es berichten Zeitungen wie Die Presse, Der Kurier, Die Welt, und auch Der Standard, ebenso wie das französische Diapassion, die italienische Nachrichtenagentur ANSA und allerhand andere internationale Medien. Nur der journalistische Boulevard, lieber SWR, der hat noch nicht berichtet.

In diesem Sinne: halten Sie die Ohren steif

Ihr

Axel Brüggemann

brueggemann@crescendo.de

facebook twitter website 
Gefällt Ihnen die KlassikWoche? Dann sagen Sie´s weiter!
Wir versenden keine Spam-Mails und verkaufen keine Email-Adressen. Versprochen!
Kontakt