KlassikWoche_RGB_2020-09

Muss das sein, Herr Müller?

Willkommen in der neuen Klassik-Woche,

heute mit einem fatalen Münchner Narrativ, mit Orchester-Solidarität in den USA , Buhrufen in Hamburg und einer großartigen Elektra!

Peinlich, lieber Paul Müller!

In der aktuellen Saisonbroschüre der Münchner Philharmoniker verabschiedet sich Intendant Paul Müller von seinem Publikum – mit einem persönlichen Rückblick. Dabei schreibt er auch über die vergangenen Chefdirigenten, unter anderem über Valery Gergiev. Müller lobt den Russen für »unvergessliche musikalische Momente durch seine unendliche emotionale Überzeugungskraft« und fügt hinzu: »Sein großes Engagement für die klassische Musik zollt meinen Respekt und er hat mit seinem Input für die Entstehung der Isarphilharmonie in München dauerhafte Spuren hinterlassen.« Kein Wort über Gergievs Unterstützung von Vladimir Putin, über seine öffentliche Propaganda für die Krim-Annexion und von Putins Homosexuellen-Gesetzen. Stattdessen erklärt Müller schlicht: »Gergievs Tätigkeit endete nach dem Beginn des Krieges in der Ukraine im März 2022.« Und weiter: »Dass wir ihn im Westen nicht mehr erleben, ist ein Verlust, aber den Zeichen der Zeit mit dem Krieg in der Ukraine geschuldet.«
Das klingt, als sei Gergiev ein Opfer des russischen Angriffskrieges. Müllers Rückblick ist eine selbstzufriedene Verweigerung, historische Verantwortung zu übernehmen. Bereits im Januar 2015 habe ich zum ersten Mal bei Müller angefragt und wollte wissen: »Gergiev hat einen offenen Brief für den Putin-Kurs in der Ukraine unterschrieben, seine Äußerungen zur Homosexualität sind zumindest ressentimentgeladen, Georgien hat er als ‚mörderisch‘ beschimpft. All das hat dazu geführt, dass Sängerinnen wie Karita Mattila nicht mehr mit ihm auftreten wollen.« Ich wollte wissen, ob all das dem Ansehen des Orchesters nicht schade. In einer weiteren Anfrage ging es um Gergievs homophobe Äußerungen. Aber ich bekam die stets gleiche Antwort: »Wenn Valery Gergiev sich (…) als Person politisch äußert, macht er von seinem Recht auf freie Meinungsäußerung Gebrauch. Wir werden seine politischen Äußerungen nicht kommentieren.« Müllers Abschied in der Saisonbroschüre wäre eine gute Möglichkeit gewesen, die Vergangenheit zu reflektieren, vielleicht die Frage zu stellen, ob er persönlich nicht viel zu lange alle Warnzeichen übersehen hat und vor allen Dingen, ob der Intendant eines von Steuergeldern getragenen Orchesters nicht viel früher hätte in den kritischen Dialog hätte gehen müssen. So bleibt der schale Beigeschmack, dass da jemand nichts aus seiner Verantwortung in der Vergangenheit gelernt hat. Tragisch.

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Zoff um Hamburger Buhrufe

Die Premiere der neuen Hamburger „Il Trovatore“-Inszenierung von Regisseur Immo Karaman muss ein Eklat gewesen sein: Massive Buhrufe während einer Vergewaltigungsszene auf der Bühne, dem Tenor brach die Stimme weg – und am Ende: ein Missfallens-Orkan. So heftig, dass es sogar einigen Kritikern – unter anderem dem NDR – zu hart war: Joachim Mischke vom Abendblatt sagte später: »Ein Teil davon ist sicher damit zu begründen, dass man denkt: Ich habe die Karten gekauft und ein gewisses Recht, mich so zu äußern. Aber man sollte immer im Rahmen des Anstands und der Höflichkeit bleiben, denke ich.« Ich habe mit Premieren-Besuchern gesprochen, die sich ebenfalls über die »mehr dilettantische als schockierende Regie« ausgesprochen haben und es okay fanden, wie protestiert wurde. Im Podcast »Alles klar, Klassik?« rede ich mit Dorothea Gregor über die Inszenierung – sie hat die zweite Aufführung gesehen, bei der von Skandal keine Spur mehr war.

Elektra in Baden-Baden

Lieber Nina Stemme als Anna Netrebko! Wie Kirill Petrenko den Erstklasse-Sängern in Baden-Baden für Elektra ein Klangbett aus Stacheldraht ausgebreitet hat, lesen Sie in meiner Kritik hier.

Rückhalt für Esa-Pekka Salonen

Nachdem der Dirigent Esa-Pekka Salonen seinen Rücktritt als Chefdirigent der San Francisco Symphony im Streit mit dem Management bekannt gegeben hat, sprechen nun die Musiker: »Wir sind zutiefst betrübt über die Nachricht, dass Esa-Pekka Salonen aufgrund mangelnder Investitionen in innovative Programme und Tourneen zurücktreten wird. Es wurde versäumt, in die Wettbewerbsfähigkeit des Orchesters zu investieren. Das hat zum Abgang eines Weltklasse-Maestros geführt und wirft Fragen über die Zukunft auf.“ Weiter heißt es im Statement: »Wir sind der San Francisco Symphony beigetreten, weil dieses Orchester einen Ruf für Innovation und musikalische Exzellenz hat. Esa-Pekka ist ein visionärer Künstler und eine treibende Kraft für die Art von Innovation und Experiment, die unser Orchester für die Zukunft braucht. Es gab viele bahnbrechende Dinge, die er in San Francisco tun wollte, und wir freuten uns darauf, ihn auf dieser Reise zu begleiten.«

Lyniv über Waffenlieferungen und Anna Netrebko

Oksana Lyniv macht es sich nicht leicht: Sie macht Musik und verteidigt Ihr Land - gleichzeitig kämpft sie für die radikale Freiheit der Kunst. Dass sie (zu Recht!) weiterhin Werke von Tschaikowski aufführt, bringt ihr in der Ukraine Kritik ein, dass auf Grund ihres Protestes gegen Teodor Currentzis nun dessen Auftritt bei den Wiener Festwochen abgesagt wurde, ärgert die Freunde des Dirigenten. Die New York Times widmet Lyniv nun ein großes Porträt nach ihrem gelungenen MET-Debüt. Und mit Opern.News redet die Dirigentin nun über die in Deutschland verbreitete Skepsis gegenüber militärischer Hilfe für die Ukraine: »Solche Stimmen gibt es auch in Italien, viele sind sehr pazifistisch eingestellt. Auch manche Kollegen meinen, dass der Verzicht auf Waffenlieferung den Krieg stoppen könnte. Ich sehe natürlich die Last von der Wirtschaftskrise in der ganzen Welt, aber es ist wichtig zu sagen: Keine dieser Personen kann den Schreck nachvollziehen, wenn man als Zivilist bombardiert wird, wenn die Raketen Tag und Nacht fliegen, wenn man die Verwandten in den Krieg schicken muss. Die Raketenabwehrsysteme retten Leben, und um diesen Schutz zu gewährleisten, braucht die Ukraine die Unterstützung von den Partnern.« Außerdem erklärte Lyniv, warum sie trotz Kritik bei den Maifestspielen in Wiesbaden auftreten wird, wo auch Anna Netrebko gastiert: »Die Idee eines Doppel-Requiems Lyniv vs. Currentzis bei den Wiener Festwochen war für mich inakzeptabel, und meine Reaktion war unmittelbar und kompromisslos. Bei den Maifestspielen in Wiesbaden ist die Situation anders. Ich wurde nicht als einzelne Künstlerin zum Festival eingeladen, sondern bin Teil der gesamten Tosca-Produktion vom Teatro Comunale di Bologna. Der Name Netrebko steht nicht auf der Besetzungsliste unserer Produktion. Sie singt in einer anderen Produktion, mit einem anderen Dirigenten, mit einem anderen Orchester, am anderen Tag, und ich trage keine Verantwortung dafür.«

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Personalien der Woche

Vor seinem Abschied aus Dresden schaut Chefdirigent Christian Thielemann zufrieden zurück. In einem Gespräch mit dem BR spricht er auch über die hohen Umfragewerte der AFD in Sachsen. »Das stimmt einen schon etwas unsicher«, sagt Thielemann, »Man weiß ja nie, wie Wahlen ausgehen. Da kann man nur sagen, jetzt warten wir mal ab. Die Arbeit wird nicht beeinträchtigt. Das ist ein Erbe von früher, denken Sie an die Zeit vor der Wende.« Ob Abwarten eine gute Taktik ist? Mit einem Sieg der AFD würde die deutsche Kulturlandschaft grundlegend anders aussehen: staatliche Kultur-Zuschüsse sollen laut AFD-Programm radikal gestrichen werden. +++ Lange schon redet Bremen darüber, nun scheint die Modernisierung der Glocke Wirklichkeit zu werden. Laut erster Schätzung belaufen sich die Kosten auf 53 Millionen Euro. Die Hälfte der Kosten trägt Bremen und hofft, dass der Bund die andere Hälfte zur Renovierung beiträgt. +++ Kulturstaatssekretärin Claudia Roth hat eine Studie zu den geplanten Antisemitismusklauseln in der Kultur beim Rechtswissenschaftler Christoph Möller von der Berliner Humboldt-Universität in Auftrag gegeben. Sein Gutachten liegt der SZ nun vor, zusammengefasst sagt er: »So leicht ist das alles nicht.« Es ist symptomatisch für Roth, dass sie auf der einen Seite eine Klausel plant, bei der Berlinale-Preisverleihung aber gar nicht mitbekommen hat, wenn offener Antisemitismus vor ihren Augen und Ohren stattfindet. +++ Der ungarische Komponist Peter Eötvös ist mit 80 Jahren gestorben. Er hat die Oper modernisiert und sie als Multimedium verstanden. Als Dirigent förderte er zahlreiche Kolleginnen und Kollegen. In einem Gespräch über seine Oper Angels ins America gab er Einblicke in seine Werkstatt und seine Musik-Philosophie. +++ Der italie­ni­sche Pianist Maurizio Pollini ist tot. Er starb am Sams­tag­morgen im Alter von 82 Jahren, wie die Nach­rich­ten­agentur ANSA meldete. Pollini war seit einiger Zeit krank und musste zuletzt seine geplanten Konzerte absagen. Das Teatro alla Scala erklärte, man trauere um »einen der großen Musiker unserer Zeit«.

Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht ja hier. Die Karwoche kommt auf uns zu, und damit auch die Sehnsucht nach dem Parsifal. Es gibt eine neue (Live)Aufnahme aus Wien. Sie ist gigantisch, hat nur ein Problem: Den Dirigenten. Das Ensemble ist Weltklasse: Für Jonas Kaufmann ist die Titelrolle perfekt zugeschnitten, der Tenor kann mit seiner Stimme Psychologien formen, und das tut er auch: naiv zuweilen, dann wieder kämpferisch und verzaubert. Highlight ist Elīna Garančas Kundry. Sie hat in Wien für ihren fulminanten Bayreuth-Auftritt geprobt. Und wie! Selten hört man so viel VerKÖRPERUNG in dieser Rolle, so viel lodernde Verführung in der Stimme – ein musikalischer Funke, der sich im gesamten zweiten Aufzug auf Jonas Kaufmann überträgt. Und auch die anderen Rollen sind aus der Stimm-Championsleague besetzt: Georg Zeppenfeld verströmt Weisheit, Suche und Gebrochenheit mit seiner Silberstimme als Gralshüter Gurnemanz, und Ludovic Tézier erhebt das Leiden als Amfortas zur Tugend. Es war also alles angerichtet für eine Große Aufnahme. Allein Dirigent Philippe Jordan verschleppt schon die Ouvertüre. Vielleicht lag es am leeren Opernhaus, dass der Dirigent das Orchester der Wiener Staatsoper nicht zwingend durch die Leidens- und Erlösungsmomente der Partitur führt. Vielleicht aber auch daran, dass Philippe Jordan sich keine Mühe macht, sich zu fragen, was er mit diesem Parsifal eigentlich will. Die Zeit wird hier nicht zum Raum, sondern zu einer zähen Angelegenheit, die sich ohne Akzente, ohne Farbtiefe und ohne Maß in die Bedeutungslosigkeit mäandert. Schade.

In diesen Sinne: halten Sie die Ohren steif.

Ihr

Axel Brüggemann

brueggemann@crescendo.de

P.S.: Hier geht es zum Podcast, in dem Dorothea Gregor und ich über die Klassik-Woche debattieren. Eine neue Folge von Alles klar, Klassik? (Hier für alle Player)
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