KlassikWoche_RGB_2020-09

Verpflichtet, verlängert, verwagnert

Willkommen in der neuen Klassik-Woche,

was für eine turbulente Woche! Eine Vertragsverlängerung in Salzburg, ein neues Engagement in Chicago und allerhand Bewegung in der Welt der Musik. Verlieren wir keine Zeit: los geht‘s!

Der Mäkelä-Effekt!

Es war seit einiger Zeit ziemlich klar, dass Klaus Mäkelä neben seinem Chefposten beim Concertgebouworkest in Amsterdam 2027 auch Chef des Chicago Symphony Orchestra werden wird (wir hatten bereits letzte Woche berichtet). Trotzdem sorgte die offizielle Ernennung nun doch für allerhand Debatten. Die allgemeinte Richtung war: »Zu viele Orchester für einen zu jungen Dirigenten!« US-Kritiker Alex Ross hat diese Perspektive im New Yorker am ausführlichsten auf den Punkt gebracht. Auf meiner neuen Seite, BackstageClassical erklärt der Dirigent John Axelrod (er dirigierte die Orchester in Amsterdam und Chicago), warum wir uns etwas lockerer machen sollten – und warum Mäkelä einer der wichtigsten Dirigenten der Zukunft werden könnte (danke für den großen Zuspruch zur Seite in den ersten Tagen!, um keinen neuen Artikel zu verpassen, folgen Sie uns gern auch auf Facebook oder Instagram). Ich persönlich finde, dass ein Aspekt noch viel zu wenig betrachtet wurde: Wie viele Karrieren von Künstlern bei der Agentur Harrison Parrott sind mit vielen aufregenden Engagements (und Umsätzen) gestartet und dann still und leise abgeebbt?

Noch ein paar Jährchen für Hinterhäuser

Vor allen Dingen irritiert die Formulierung der Ausstiegsklausel: Markus Hinterhäuser bekommt nach Ablauf seines Vertrages 2026 fünf weitere Jahre als Intendant der Salzburger Festspiele – oder doch nur drei? Für 2029 haben sich jedenfalls Intendant und Träger der Festspiele eine »beidseitige Auflösungsmöglichkeit« vorbehalten. Gibt es auch nicht oft. Konkret bedeutet das: Mit 70 Jahren könnte Hinterhäuser auch ohne Gesichtsverlust gehen. Bis dahin hat er nun allerdings einiges zu tun: Der massive Millionen-Umbau des Festspielhauses steht an, und allerhand zerschlagenes Porzellan muss wieder zusammenklebt werden. Die Konfrontations-Situation mit seiner Präsidentin Kristina Hammer ist weiterhin ungelöst, und mit allerhand Künstlerinnen und Künstlern hat Hinterhäuser sich angelegt. Warum die Verlängerung – im Angesicht der anderen Bewerber – eher klar war, warum sie ein Spiegel der unter Druck geratenen Rechts-Rechts Landesregierung ist, und warum Aix en Provence nun der spannendere Sommer-Hotspot werden könnte, habe ich in meinem ausführlichen Kommentar aufgeschrieben.

»Lyniv und Currentzis war eine Utopie«

Milo Rau, Intendant der Wiener Festwochen musste seinen Plan aufgeben, Oksana Lyniv und Teodor Currentzis jeweils ein Requiem dirigieren zu lassen, nachdem Lyniv in diesem Newsletter erklärt hatte, dass sie nicht am »Whitewashing« des Russen beteiligt sein wolle. In der aktuellen Folge von Alles klar, Klassik? rede ich mit Rau über diesen Fall, darüber, was die Kunst besser kann als unsere Wirklichkeit, warum er selber einmal aus Russland ausgewiesen wurde, und welche Rolle Christoph Schlingensief für den Grenzgang von Politik und Kultur spielt. Bei den kommenden Festwochen will Rau Wien zur Freien Republik erheben und in der Stadt ein Tribunal abhalten – angeklagt ist neben ihm selber auch die Rechtspartei FPÖ (hier für alle Player, unten auf Spotify).

Die neue Laber-Klassik beim rbb

Jetzt ist es so weit – und, nein: es war kein Aprilscherz. rbbKultur heißt jetzt Radio 3 und hat tatsächlich die Klassik weitgehend aus dem Morgenprogramm verbannt. Frederik Hanssen wundert sich im Tagesspiegel: Wie absurd, dass das Radio der Musik nicht traut, die in Berlin gerade das Publikum lockt: »Ins Konzerthaus am Gendarmenmarkt strömten 139.585 Menschen, in die Komische Oper 166.679, zu den vier Ensembles der Rundfunkorchester und -chöre GmbH 197.475. Die Staatsoper verzeichnete 232.963 verkaufte Tickets, die Berliner Philharmoniker 241.730 und die Deutsche Oper 243.649. Macht zusammen 1,222 Millionen Menschen.« Und ausgerechnet der RBB misstraut der Musik? „Wahrscheinlich steckt eine konzertierte Aktion von RBB und Kultursenator Joe Chialo dahinter: Die vom Kahlschlag im Kultursender frustrierten Fans werden so animiert, noch häufiger Opernaufführungen und Live-Konzerte zu besuchen«, schreibt Hanssen. Und jetzt müssen Sie wirklich stark sein: Wenn Sie hören wollen, wie der neue Morgen-Moderator Jörg Thadeusz über Oper spricht (hier über Elektra), gibt es da sehr viel Fremdschäm-Momente, und man fühlt den inneren Schmerz des Kritikers Kai Luers-Kaiser in diesem »Gespräch«. Hier der Link für Mutige!

Tariks Lipgloss-Klassik

Es ist Mal wieder Zeit für einen Klassik-Knigge (ist nicht allein der Name bereits ziemlich spießig?). Dieses Mal buchstabiert ihn der NDR – und zwar mit dem charmanten Tarik Tesfu. Er erklärt, ob man im Konzert »abdancen« kann (nein!) oder essen darf (ebenfalls: nein!). Die Kampagne ist grundsätzlich gut gedacht, sagt Journalistin Antonia Munding in ihrem klugen Kommentar – allein: sie sei schlecht gemacht. »Zum einen, weil das implizite Versprechen einer diversen, genre-sprengenden Kulturveranstaltung in der Klassik sich so gar nicht im Konzertprogramm des NDR-Orchesters niederschlägt. Zum anderen, weil es fraglich bleibt, ob Tarik mit diesem KNIGGE jemals auch nur einen einzigen seiner treuen Follower zu einem klassischen Konzert bewegen wird. Geschweige denn, ob er selbst je in einem war. Oder ob er nicht viel-viel lieber mit Beyoncé die Bühne rocken würde.« Die Insta-Community auf meiner Seite ist gespalten: 50 Prozent hielt die Kampagne für »Mega Cringe«, 50 Prozent für »Super Glam«.

Prekäre Arbeitsverhältnisse

Theater thematisieren auf ihren Bühnen gern die Themen von Moral und Gerechtigkeit. Hinter den Kulissen sieht es anders aus. Das zeigen die (unrepräsentativen) Zahlen, die der Berufsverband für Bühnenregie veröffentlicht hat. Demnach verdienen 85 Prozent der Regisseurinnen und Regisseure weniger als die von Bühnenverein und Gewerkschaften vereinbarte Anfängergage – 44 Prozent liegen gar unterhalb der Armutsgrenze. Der Gender-Pay-Gap liegt bei beeindruckenden 39 Prozent. In der Süddeutschen erklärt der Intendant des Theater Koblenz, Markus Dietze, derweil in Sachen Tarifverträge, warum er an die Eigenverantwortung der Häuser glaubt, gleichzeitig aber auch auf den neuen Tarifvertrag für Bühnenmitarbeitende wartet: »Wir brauchen verbindlichere Regeln, ohne die Arbeit mit Planungsbürokratie zu belasten. Ausnahmen und zeitweise besondere Belastung müssen möglich bleiben, aber eben nicht als Dauerzustand, sondern klug und klar geregelt und mit sinnvoll strukturiertem Ausgleich. Viele Theater haben sich dafür schon jetzt Regeln gegeben.«

Personalien der Woche

Die Miami Lyric Opera, die von Raffaele Cardone vor 22 Jahren gegründet wurde, ist geschlossen: die letzte Produktion war Cavalleria Rusticana und Suor Angelica. +++ In der NZZ setzt sich Christian Wildhagen noch einmal mit Teodor Currentzis auseinander und erklärt, warum sein Spagat zunehmend fragwürdiger wird: »War man doch auch bei Currentzis bereits auf bestem Wege, die moralische und politische Grauzone schönzureden«, schreibt Wildhagen, müsse man nun verstehen, warum der sein Dasein zwischen den Welten immer weniger funktioniere. »Nicht zu verkennen ist aber auch, dass rund um die charismatische Leiter-Figur Currentzis ein System entstanden ist, das zugleich ein lukratives Geschäftsmodell darstellt.« Wildhagen schlussfolgert: »Es ist Zeit für eine Neubewertung«. +++ Der Chordirektor der Oper Frankfurt, Tilman Michael, wechselt in gleicher Position an die Metropolitan Opera New York – zunächst aber nur für ein Jahr. +++ Die Pariser Oper wird wegen umfassender Umbau- und Modernisierungsarbeiten voraussichtlich zwischen 2027 und 2030 ihre Türen schließen. Betroffen sind beide Häuser unter der Leitung des deutschen Intendanten Alexander Neef. Das Haus der Opéra Garnier soll in der Saison 2027/2028 ausfallen. Die Opéra Bastille schließt in der Saison 2029/2030. Die Institution sucht nach alternativen Aufführungsräumen. +++ Das Linzer Brucknerhaus ordnet seine Dinge: Nach Vorwürfen gegen den freigestellten künstlerischen Geschäftsführer und Brucknerhaus-Intendanten Dietmar Kerschbaum soll der Vertrag mit einer externen Agentur, die für das Konzerthaus die Programmgestaltung mitbestimmt hat, aufgelöst werden. +++

Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht ja hier: Richard Wagner taugt noch immer für einen Skandal. Im ZDF Magazin Royale hat Chilly Gonzales seinen Song »F*uck Wagner« vorgestellt, eine Satire über das Genie, aber auch eine kritische Auseinandersetzung mit Wagners Antisemitismus. Die Richard-Wagner-Straße in Köln würde Gonzales am liebsten in "Tina-Turner-Straße" umbenennen. Das Thema beschäftigt Gonzales schon seit vielen Jahren. Hier ein Gespräch über Richard Wagner, das ich mit Chilly Gonzales geführt habe, in dem er die Gedanken für den jetzigen Song entwickelt. Für ihn ist der Komponist aus Bayreuth ein »Soziopath«, aber Gonzales sagt eben auch: „Wir alle sind Wagner.« Schon damals zog Gonzales Parallelen zu Kanye West – so wie in seinem Song jetzt.

In diesem Sinne, halten Sie die Ohren steif

Ihr

Axel Brüggemann

brueggemann@crescendo.de

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Winfried Hanu­schik, Verleger & Heraus­geber

Fotos: Chicago Symphony, Strauss, Brüggemann