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Kultur Krieg und Klassik

Musik überwindet alle Grenzen? Von wegen!

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Tugan Sokhiev dirigiert 2019 ein Benefizkonzert in MoskauTugan Sokhiev dirigiert 2019 ein Benefizkonzert in Moskau Tugan Sokhiev dirigiert 2019 ein Benefizkonzert in MoskauTugan Sokhiev dirigiert 2019 ein Benefizkonzert in Moskau
Tugan Sokhiev dirigiert 2019 ein Benefizkonzert in Moskau
Quelle: picture alliance/dpa
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Aufführungen russischer Opern werden gestrichen. Russische Musiker werden ausgeladen, Dirigenten räumen ihre Posten. Seit dem Beginn der Ukraine-Krieges ist in der Klassik das Chaos ausgebrochen. Ein Überblick.

Er kann sich nicht entscheiden zwischen seinen beiden musikalischen Familien. Deshalb hat der international vielgefragte Tugan Sokhiev, Chefdirigent des Moskauer Bolschoi Theaters seit 2014 sowie des Orchestre National du Capitole de Toulouse, am Sonntagnachmittag via Facebook mitgeteilt, dass er bei beiden Institutionen mit sofortiger Wirkung aufhören werde.

Der damit beruflich heimatlose 44-Jährige, Nordossete wie Valery Gergiev und von 2012 bis 2016 auch Chefdirigent des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin, hat nie die Nähe zu Putin gesucht. Aber er hat einen offiziellen Posten. Der Bürgermeister von Toulouse hatte ihn zu einer Erklärung gegen Putin bis zum 18. März gedrängt. Sokhiev hat sich jetzt für den Frieden ausgesprochen, dem er als Musiker Ausdruck verleihen will.

So bleibt ihm, der zwar in London wohnt, aber dessen Familie in Russland lebt, das Hintertürchen offen, sich zwar symbolisch gegen Putin zu stellen, es aber nicht auszusprechen zu müssen. Was im inzwischen noch repressiveren Polizeistaat Russland sonst sicherlich geahndet worden wäre.

Der Deutsche Thomas Sanderling, Sohn des großen Dirigenten Kurt Sanderling, der als Jude mit seiner Familie 1936 nach Moskau emigrierte und später für die DDR das Berliner Sinfonie-Orchester, das heutige Konzerthausorchester, aufbaute, hat es da etwas leichter. Auch er trat eben wegen des Krieges und der Zunahme des Totalitarismus von seinem Chefdirigentenposten der Nowosibirsker Philharmonie, den er seit 2017 bekleidet, zurück. Beheimatet in der Stadt, in der er geboren wurde, als sein Vater samt der Leningrader Philharmonie vor den herannahenden Deutschen dorthin evakuiert worden war. So verwoben sind gegenwärtig die Schicksale und Entscheidungen.

Musik überwindet alle Grenzen. Dieser blöde, immer schon fadenscheinige Spruch des Wegschauens, der vor allem in der Klassik so manches politisch oder wirtschaftlich schmutzige Geschäft humanistisch verbrämte, er hat spätestens seit dem 24. Februar, dem Einmarsch der russischen Armee in die Ukraine, ausgedient. Jetzt muss man sich plötzlich wieder positionieren.

Es geht ganz schön durcheinander

Gerade die Klassik, auf die auch die Machthaber hinter dem einstigen Eisernen Vorhang immer ähnlich stolz waren wie auf ihre sportlichen Erfolge, die aber auch vielfach auf Elitenauslese, Drill und Zwang beruhte, sie war selbst in den Jahren des Kalten Kriegs der kulturelle Kit zwischen den atomar verfeindeten Politlagern. Nikita Chruschtschow wollte 1959 bei seinem Hollywood-Besuch nicht nur unbedingt Marilyn Monroe kennen lernen. Er ließ – gegen dringend gebrauchte Devisen – auch unermüdlich den „Schwanensee“ des Kirow- und Bolschoi-Balletts gastieren. Dessen Ästhetik versteht und liebt man überall. Der texanischen Pianist Van Cliburn wurde nach seinem Gewinn des Moskauer Tschaikowsky-Wettbewerbs 1958 zu einem Helden jenseits der Anschauungsgräben in den USA wie in der UdSSR.

Und heute? Da betont aktuell der in Fort Worth in Van Cliburns Namen abgehaltene Wettbewerb, dass man aufgrund dieser Geschichte 15 Russen einlade, sich gerade jetzt doch bitte zu bewerben. Während Dublins Piano Competition alle Russen dezidiert auslädt. Auch das Bolschoi Ballett mit seinen wirklich unpolitischen Tanzklassikern ist in London wie in Madrid nicht länger willkommen.

Gern im Doppelpack gebucht: Anna Netrebko und ihr aserbaidschanischer Mann Yusif Eyvazov
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Quelle: Vladimir Shirokov

Wie also hat man gegenwärtig mit russischen Klassikkünstlern umzugehen? Die Stimmung schwankt zwischen radikal und liberal. In Mailand lädt man Valery Gergiev an der Scala aus, und Anna Netrebko sagt vorsichtshalber vorher ab. Aber ihren aserbaidschanischen Mann Yusif Eyvazov, der immer wieder in Instagram-Posts seinen nationalistisch-korrupten Staatspräsidenten unterstützt und sich weigerte, mit einer armenischen Sängerin aufzutreten, der bekommt zusätzliche Vorstellungen, weil ein Tenorkollege an Corona erkrankt ist.

Und gar nichts lässt die Scala über ihrer in der Ukraine geborene russische Primaballerina Svetlana Zakharova verlauten, die von 2008 an für die Putin-Partei in der Staatsduma saß, die Annektierung der Krim 2014 offiziell gutgeheißen hatte und sich auch jetzt wieder als Putin-Genossin in den sozialen Medien positioniert hat.

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Keine andere Kunstgattung hat so vom Fall des Eisernen Vorhangs profitiert wie die Klassik und das Ballett. Plötzlich konnten nach 1989, obwohl es vorher bereits vorsichtigen Austausch gegeben hatte, bestens ausgebildete Talente im Westen auftreten.

Selbst in der italienischen Oper kam man ohne die willigen und billigen Osteuropäer nicht mehr aus. So vermischten sich die Sphären immer mehr, russische Opern – gerade in den Stagione-Theatern ohne festes Ensemble – wurden en Block mit Osteuropäern besetzt, die man gleich alle zusammen bei darauf spezialisierten Agenturen buchen konnte. Russische Tänzer überfluteten die Ballettkompanien.

Und doch behielten viele, auch namhafte Sänger, ihren Lebensmittelpunkt in Russland, bei der Familie und Freunden, auch weil sie weiterhin Beziehungen zum heimatlichen Musikbetrieb pflegen wollten. Etwa die glamouröse tatarische Sopranistin Aida Garifulina, die gerade in Hamburg als Verdis Traviata gastiert. Ihren Instagram-Account, wo sie sich völlig apolitisch als Oligarchen-Girlie zwischen Luxusmarken-Blingbling feierte, den hat sie freilich vorsichtshalber stillgelegt.

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Quelle: dpa-infocom GmbH

Aber es gibt natürlich auch die, die sich durch Posten oder Zuwendungen in politische oder wirtschaftliche Abhängigkeit begeben haben. So wurde etwa der Geiger und Zakharova-Gatte Vadim Repin gerade in Maryland ausgeladen, weil er auch eine gewisse Nähe zu Putin pflegt und als Chef des Trans-Siberian Art Festivals in Novosibirsk Staats- und Sponsorengelder kassiert.

Fragen werden auch bereits laut nach einer Erklärung des in Russland lebenden, mit seinem Ensemble Musicaeterna in St. Peterburg von der gerade sanktionierten Staatsbank VTB gesponserten Griechen Teodor Currentzis. Der ist nicht nur Chefdirigent des SWR Sinfonieorchesters, der ist auch als einer der zur Zeit meistgefragten Classic Acts mit prestigeträchtigen Auftritten bei den Wiener Festwochen angekündigt.

Und bei den Salzburger Festspielen. Wo man sich jetzt natürlich pflichtschuldig für die Ukraine stark macht, aber wohl ganz froh ist, dass Corona 2020 die Premiere von „Boris Godunow“ verhindert hat. Die sollte nämlich massiv von Gazprom gesponsert werden, was immerhin schon im Vorfeld für Kritik gesorgt hatte. Und angeblich waren die Ehrenkarten für Putin plus Entourage bereits reserviert…

Freund und Feind im Ballett

An der Bayerischen Staatsoper muss man sich verhalten zu der Tatsache, dass der russische Ballettdirektor Igor Zelensky wohl auch in einer Putin-Stiftung zur Verbreitung und Stärkung der russischen Kultur mitmischt. Am Mittwoch wird eine Erklärung erwartet, während gleichzeitig der in Kiew geborene, vehement in der Ballettwelt Anti-Putin-Statements via Facebook einsammelnde Ex-Bolschoi-Ballettchef Alexei Ratmansky im Haus probt.

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Aber die irrationale Absagewelle trifft auch überall Künstler, die sich eigentlich nichts zu Schulden haben kommen lassen, die einfach nur einen russischen Pass besitzen. Und gleichzeitig beginnt bereits eine nie für möglich gehaltene Cancel Culture, die einfach nur russische Werke auf den Index setzt.

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Da setzt die Staatsoper in Warschau eine anstehende Premiere von „Boris Godunow“ ab, obwohl gerade dieses Mussorgsky-Werk über einen irren, sich an die Macht putschenden Zaren alles über russische Machtverhältnisse und die Unterdrückung des unwissenden Volkes erzählt und in den vergangenen Jahren immer gern auch mit Putin-Anspielungen garniert und aktualisiert wurde. Im Schweizer Solothurn ist eine Neuinszenierung von „Mazeppa“, Puschkins und Tschaikowskys Ukraine-Epos aus großrussischer Sicht, die am Kriegsbeginntag unbeanstandet Premiere feierte, nunmehr wegen moralischer Bedenken aus dem Spielplan genommen worden.

In Essen mag die Aalto-Theaterleitung kein neues Ballett nach Tschechows „Drei Schwestern“ mehr sehen, weil darin in einer Provinzgarnison ein paar melancholische Offiziere herumstaksen. Und in Düsseldorf musste gar der Italo-Schmachtfetzen „Andrea Chenier“ dran glauben – weil die Deutsche Oper am Rhein dafür mit der Moskauer Helikon Oper und ihrem regieführenden Intendanten Dmitry Bertman kooperieren wollte.

Wird in russischen Staatsmedien gefeiert: Der gerade in München geschasste Dirigent Valery Gergiev
Wird in russischen Staatsmedien gefeiert: Der gerade in München geschasste Dirigent Valery Gergiev
Quelle: pa/Mikhail Teres/Mikhail Tereshchenko

Künftige Premieren russischer Werke werden freilich nur noch schwierig zu besetzen, das freie Flottieren zwischen Moskau, London, Paris, Berlin und New York wird im Musikbetrieb künftig auf Jahre hinaus lahmgelegt sein. Dirigenten wie Ingo Metzmacher oder der aus der Ukraine stammende, in England wohnende Vassily Petrenko haben bereits von sich aus Engagements und sogar Posten storniert und verlassen. Der lettische Mezzostar Elina Garanca und der russische, im Westen lebende Dirigent Semyon Bychkov haben sich mit klugen, mitfühlenden, auch ihre Familiengeschichte miteinbeziehenden Erklärungen gegen den Krieg und Putin überdeutlich positioniert.

Und der schweigsame Valery Gergiev? Über den enthüllte eben der „Corriere della Sera“, er habe aufgrund einer Erbschaft von einer japanischen Gönnerin allein in Italien Liegenschaften im Wert von 140 Millionen Euro, darunter das Caffé Quadri am Markusplatz in Venedig plus einen Palazzo. Und diverse Häuser an der Amalfi-Küste, wo das privat finanzierte Ravello Festival an ihm und dem Mariinsky Orchester festhält, weil es sich ja nur um einen „Bruderkrieg“ handele. Mitte März wird der nun von den russischen Staatsmedien gefeierte „Held“ ebenfalls neu terminierte Konzerte in Moskau dirigieren – an deren Ende Mussorgskys „Großes Tor von Kiew“ aus den „Bildern einer Ausstellung“ steht.

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