Es ist gut 40 Jahre her, dass Nicolaus Harncourt mit Händels „Giulio Cesare in Egito“ die berühmteste Barockoper erstmals in Wien mit dem Klangbesteck der historisch informierten Musizierpraxis neu, bunter und packender hat strahlen lassen. Ein Vier-Stunden-Opus mit einer frechen, frivolen Handlung, die jeder einigermaßen informierte Shakespeare- und Asterix-Leser kennt.
Damals verrenkten sich noch röhrende Baritone in der Titelrolle ihre Kehlen an den ungewohnten Koloraturen. Und keiner hätte gedacht, dass „Giulio Cesare“ heute bei manchem Barock-Freak ein angeödetes Gähnen auslöst – weil es schon wieder auf dem Spielplan steht, statt eines der Myriaden von nach wie vor seit 300 Jahren nicht mehr ans Bühnenlicht gezerrten Barockmusiktheaterwerke.
Die Paradepartie des römischen Imperators (acht Arien, darunter eine wunderbare Accompagnato-Betrachtung an der Urne des Pompeius, nebst zwei der bekanntesten, von zwei Naturhörnern vorangetriebenen Jagdgleichnissen) haben natürlich längst die Countertenöre von den Baritonen übernommen. Und seit einiger Zeit gewöhnt man sich daran, dass die halt irgendwann in Rente gehen. Und ein Nachopernleben führen wollen.
Pionierfiguren wie Alfred Deller (gestorben 1979) oder James Bowman (heute 80) sind längst schon verschwundene Legenden. René Jacobs (inzwischen 75) aber kennt man heute kaum noch als stets ein bisschen meckrigen Countertenor, sondern als höchst erfolgreichen zwischen Innsbruck, Wien, Berlin, Paris und Brüssel hin- und herreisenden Dirigenten.
Einfach verstummt
Ein witziger Charakterdarsteller wie Dominique Visse (jetzt 66) hatte schon vor seiner Vokalkarriere sein eigenes Renaissance-Ensemble Clément Janequin gegründet. Michael Chance (67) leitet seit 2015 das britische Country House Opera Festival The Grange.
Der extrovertierte Derek Lee Ragin (63), dessen Stimme im viel gesehenen „Farinelli“-Film von 1994 durch die elektronische Verblendung mit einer polnischen Sopranistin wieder an den Kastratenklang erinnern sollte und so der Counterbewegung enormen Wellenschlag gab, ist einfach verstummt. Die weitgehend in eine Professur gemündete Karriere von David Daniels (56) kam 2018 jäh zu ihrem Ende durch einen Prozess wegen Vergewaltigung samt Gefängnisaufenthalt.
Der Deutsche Andreas Scholl (54), der 2005 als erste Counter die Last Night of the Proms bezauberte und als erste seiner Art für ein Majorlabel (der Decca) verpflichtet wurde, sich aber nie auf der Bühne wirklich wohlfühlte, unterrichtet, dirigiert ein wenig, singt höchstens noch englischen Lautenlieder.
Max Emanuel Cencic (46), der sich bereits als sechsjähriger Knabensolist öffentlich vernehmen ließ, ist, obwohl auch sängerisch immer noch aktiv, seit zwölf Jahren fleißig als Produzent, Impresario, CD-Macher, Regisseur unterwegs – und seit 2020 auch als Intendant des großartigen Bayreuth Baroque Festivals im Unesco-Weltkulturerbe des Markgräflichen Opernhauses mit einem Schwerpunkt auf dem Musiktheater Neapels.
Der gerade erst 44-jährige Philippe Jaroussky, ein Counterstar nicht nur in Frankreich, hat ebenfalls inzwischen den virtuosen Rollen Adieu gesagt, singt nach wie vor Bach und lyrischere Arien, und hat jetzt sein Dirigierdebüt in der Oper gegeben. Am Pariser Théâtre de Champs-Élysées mit einem prächtig besetzten „Giulio Cesare“.
Ein Platz am Pult
Denn Jaroussky sieht sich in erster Linie als Instrumentalist, wurde auf der Geige und dem Klavier ausgebildet, bevor sein schwerelos leichtes, elegant beredtes Singen entdeckt wurde. Und auch in seinen hektischen Vokaljahren stand Jaroussky immer wieder für kleine Kantatenprojekte am Pult seines eigenen Ensembles Artaserse. Bei ihren letzten Salzburger Pfingstfestspielen räumte ihm die gute Freundin Cecilia Bartoli den sonntäglichen Oratorienkonzertplatz für eine aufregend bewegliche, souverän besetzte Aufführung von Alessandro Scarlattis Oratorium „Il primo omicidio“ generös frei.
Da war schon zu spüren: Philippe Jaroussky beherrscht mit seiner natürlichen Musikalität auch die große Form. Die wirklich populäre Händel-Oper an einem Pariser Zentrum der globalen Barockgrößen, das war jetzt allerdings das ganz große Kürlaufen.
Er, der jahrelang als Sesto geglänzt hatte, der an der Seite seiner Mutter Cornelia auf Rache sinnende Sohn des von Tolemeo ermordeten Pompeo, der überließ jetzt drei anderen Countertenören die Singarena, aber leitete so souverän wie umsichtig, ganz nah an der Szene, dabei mit einem weichen, feinen, doch auch stets vorantreibenden Klang Händels amüsant-anrührendes Intrigengeschehen im Schatten der Pyramiden.
Der italienische Regisseur Damiano Michieletto deutete das in seiner später nach Montpellier, Leipzig, Toulouse und Rom wandernden Inszenierung ungewöhnlich streng, monochrom und psychologisch düster aus. Eine weiße, nüchtern leere Kastenbühne offenbarte nur ab und an einen Denkraum dahinter, in dem sich drei Parzen, Nornen, Grazien mit Memento-mori-Symbolen tummeln, die den schon anfangs präsenten, natürlich toten Pompeius mittels blutroter Fäden für die Mumienewigkeit präparieren.
Ähnlich wird dann gleich Cesar (diesmal gesungen von der nicht sehr tiefenprofunden Mezzosopranistin Gaëlle Arquez) als Managertyp im Businesskampfanzug hereintaumeln. Die roten Fäden werden zum Netz, in dem sich alle symbolisch wie real verfangen. Und am Ende sieht sich Cäsar nicht den römischen Ahnen gegenüber, sondern seinen späteren, bereits die Messer zückenden Mördern.
Händels „Cesare“, sonst gern als Kriegsgroteske oder exotische Nil-Operette mit ein paar Kolonialismusschnörkeln gelesen, wird bei Michieletto zur dunkel grundierten Reise ins Ich für alle Beteiligten: für die Nebenrollen der Generäle Achille und Curio (Francesco Salvadori, Adrien Fournaison) sowie des Vertrauten Nireno (schön ebenmäßiger Counter: Paul-Antoine Bénos-Dijan), den diesmal extrovertiert Sesto (mutig vibratoflackernd, aber bannend: Franco Fagioli), dessen Mama Cornelia (die mollverhangene Lucile Richardot) eine sehr seltsame Abhängigkeitsbeziehung zu ihrem Peiniger Tolemeo (bisweilen keifscharf: Carlo Vistoli) pflegt.
Star des Abends war freilich – während Michieletto heftig bebuht wurde – neben dem emphatisch in seiner neuen Grabenfunktion gefeierten Jaroussky die zauberische Sopranistin Sabine Devieilhe, die ebenfalls als Cleopatra debütierte. Ihr Sieben-Arien-Parcours, silbrig hell (weil nach oben transponiert), verführerisch, traurig, schicksalsergeben, offenbarte eine multiple Persönlichkeit, die mit diversen Perücken, Roben und Identitäten Cesar umstrickte, aber sich selbst abhandenkam.
Eine Herrscherin ohne Macht über die eigene Person, trotz ihrer finalen Hochzeit eher bedauernswert. Ein interessanter Deutungsansatz, vokal glückhaft ausgeziert, instrumental vollendet begleitet.