KlassikWoche_RGB_2020-09

Musik kann auch nicht alles lösen!

Willkommen in der neuen KlassikWoche,

heute mit einem Blick auf den Nahostkonflikt in der Klassik, auf die aktuellen Jedermann-Grabenkämpfe in Salzburg, mit leidenschaftlichen „Das müssen Sie sehen!“-Tipps, dem traurig-langsamen Untergang der English National Opera und mit schönen Buchmesse-Begegnungen.

Salzburg im Führungs-Chaos

Das war ein Knall gestern: Die Salzburger Festspiele haben Jedermann-Hauptdarsteller Michael Maertens und Regisseur Michael Sturminger überraschend rausgeschmissen. Die neue Schauspielchefin Marina Davydova will 2024 offensichtlich partout mit einer Neuinszenierung reüssieren und hat Nägel mit Köpfen gemacht. „Mich hat diese Entscheidung, die ohne ein einziges Gespräch mit mir getroffen wurde, überrascht und verwundert“, sagte Maertens. Er habe einen Zweijahresvertrag gehabt und sei überdies gebeten worden, die heuer von ihm erstmals gespielte Jedermann-Rolle auch 2025 und 2026 zu spielen. Daher sei er aus allen Wolken gefallen, als Davydova ihn vor wenigen Tagen angerufen habe, um ihm mitzuteilen, dass es 2024 eine neue Regie geben werde und diese eine neue Besetzung wolle. Und auch Sturminger war überrascht: „Das ist jetzt Sache der Juristen, ich habe mich bis jetzt immer auf die Handschlagqualität meiner Partner verlassen können, offenbar sind im Direktorium der Salzburger Festspiele in den letzten Jahren wichtige Instanzen verloren gegangen“, sagte Sturminger. Wie konnte das passieren? Wie konnte Intendant Markus Hinterhäuser einen derartig überraschenden, unnötigen und teuren Ego-Trip seiner neuen Schauspielchefin zulassen? Vielleicht ist das Jedermann-Debakel aber auch nur ein weiterer Ausdruck seiner vollkommenen Überforderung als Intendant. Dass Hinterhäuser jetzt, da Aufklärung dringend Not tut, schweigen will, ist bezeichnend für seinen Führungsstil.
Wenn man im Café Bazar in Salzburg sitzt, hört man überdies allerhand Klatsch und Tratsch. Zum Beispiel über die Planung des nächsten Festspiel-Sommers. In der Gerüchteküche wird geflüstert (freilich ohne offizielle Bestätigung), dass eine konzertante Christian-Thielemann-Capriccio-Aufführung die Festspiele nächsten Sommer eröffnen soll, gefolgt von einer Don-Giovanni-Wiederaufnahme mit (ja, wirklich!) Teodor Currentzis. Wenn es tatsächlich so kommt, würde das bedeuten, dass es Anfang der Festspiele keine szenische Opern-Neu-Produktion gibt. Und weiter soll es – glaubt man den Gerüchten – ebenfalls mit einer Koproduktion gehen, mit Cecilia Bartolis Pfingstfestspielen und La clemenza di Tito. Danach, so wird getuschelt, soll mit (gähn!) Peter Sellars noch einmal ein Uralt-Bekannter an die Salzach zurückkehren, dieses Mal mit Mieczysław Weinbergs Der Idiot. Wenn sich all dieses Geraune bewahrheitet, würde dieses nach der künstlerisch eher belanglosen letzten Festspiel-Ausgabe erneut ein Zeichen der Stagnation und Einfallslosigkeit sein. Und das in einer Zeit, in der eigentlich über den Vertrag von Intendant Markus Hinterhäuser verhandelt werden müsste – denn der läuft 2026 aus. Von einer öffentlichen Ausschreibung habe ich persönlich noch nichts mitbekommen. Lässt man in Salzburg derzeit etwa die nötige Zeit für einen echten Personalwechsel verstreichen? Will die Salzburger Rechts-Rechts-Regierung so nibelungentreu an seinem Intendanten festhalten wie der an seinem Lieblingsdirigenten? So richtig nach Aufbruch sieht es an der Salzach auf jeden Fall nicht aus.

Klassik und Nahost I: Fazıl Say

Bereits letzte Woche haben wir uns an dieser Stelle gewundert, dass die Verurteilung der Terror-Angriffe auf Israel in der Klassik in einem ziemlichen Pianissimo stattgefunden hat. Inzwischen gibt es auch echte Eklats. So nannte der Pianist Fazıl Say Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu einen Kriegsverbrecher und applaudierte auf X gleichzeitig Recep Tayyip Erdoğans Äußerungen zum Nahostkonflikt als „vernünftig, und friedlich“. All das hat Christian Berzins in der Schweizer Mediengruppe (u.a. Aargauer Zeitung) berichtet. Inzwischen hat der Konzertveranstalter Migros-Kulturproduzent-Classics Konsequenzen gezogen und Say von einem geplanten Konzert ausgeladen. „Grund sind öffentliche Äußerungen Fazıl Says im Nachgang an den Terror-Angriff auf Israel, welche für die Migros nicht haltbar sind“, teilt ein Sprecher mit. Daraufhin fordern Palästinenser-Gruppen in der Schweiz einen Migros-Boykott. Der Nahe Osten ist uns näher, als einige dachten.

Klassik und Nahost II: West-Eastern Divan

Und auch im West-Eastern Divan Orchestra geht es längst nicht so friedlich zu, wie uns einige Medienberichte suggerieren wollen. Während Daniel Barenboim den Terrorismus der Hamas scharf und unmissverständlich verurteilt und gleichzeitig für Verständigung im Sinne des Humanismus wirbt, ist in den sozialen Medien derzeit zu verfolgen, wie MusikerInnen aus Israel und aus Gaza fast unvereinbar um Deutungshoheit kämpfen. Ein Geiger des Orchesters war schnell dabei, Israel auf X und Instagram die Schuld an der Bombardierung des Krankenhauses in Gaza zu geben und pro-Palästina-Posts zu teilen. Auf Facebook war derweil folgender Kommentar auf der Seite der Barenboim-Said Akademie zu lesen: „Als ehemaliger Schüler ist es für mich skandalös, dass eine Institution, die Humanismus lehrt, keine offizielle Anteilnahme ausdrückt. Ihr könntet Hamas durchaus als Terror-Organisation verurteilen, auch wenn (und gerade weil!) Ihr das palästinensische Volk unterstützt.“ Ganz anders sieht es ein Student, der vier Jahre an der Akademie war und nun wohl Lehrer an der Barenboim-Said Musikschule in Ramallah ist. Er relativiert die Terror-Attacke auf Israel in erschreckender Tonalität: „Es ist vollkommen egal, dass West-Medien die Attacke vom 7. Oktober die schlimmste auf Juden nach dem Holocaust nennen oder schreiben, dass es Ziel der Hamas sei, alle Juden zu vernichten. Nein. Hamas wurde nicht gegründet, um Juden auszuradieren, und die Attacke vom 7. Oktober hat nichts mit dem Judentum zu tun. Sie hat mit kolonialistischem, weißem Zionismus zu tun, der von einer Gruppe von Juden – nicht von allen – gepflegt wird.“ Wenn Daniel Barenboims Idee von Musik als Möglichkeit der Vermittlung (und des konstruktiven Streites) ernst gemeint ist, können diese Wortmeldungen aus dem Umfeld von Orchester und Akademie nicht kommentarlos stehenbleiben. Jetzt ist die Zeit, dass Kunst das Versprechen einlöst, Menschen mit radikal unterschiedlichen Meinungen auf einer anderen Ebene wieder miteinander ins Gespräch zu bringen. Doch derzeit kapituliert die Musik (und mit ihr der Gedanke des West-Eastern Divan Orchestra) leider auf vielen Ebenen vor diesem übergroßen Anspruch.

Sollte man sehen!

Okay, ich komme ein bisschen spät zur Party, aber ich war auch abgeschreckt durch die Inhaltsangabe: Zwei 17-jährige Jungen, Jannik (übergewichtig und schwul) und Tai (aus einer vietnamesischen Familie), entführen ihren Schulleiter. Hörte sich für mich erst einmal an wie ein schlechter Til-Schweiger-Film. Aber die Arte-Miniserie Nackt über Berlin ist viel mehr als das: Ein Fernsehspiel, in dem die Klassik (vor allen Peter Tschaikowski, aber auch Paganini und Co.) endlich mal nicht peinlich, sondern klug, empathisch, welterklärend und, ja, auch saukomisch in Szene gesetzt wird. Regisseur Axel Ranisch, der auf der Opernbühne oft noch etwas unbestimmt zwischen Trash und Konvention torkelt, ist ein echtes Film-Genie! Also ich habe die sechs Folgen an einem Tag geschaut und mich dabei köstlich unterhalten gefühlt. Anschauen!

Was ich (noch) nicht gesehen habe, ist die 360-Grad-Carmen aus Kassel: Das Publikum sitzt in einer Szene der Oper, wird zum Mitspieler und kann die anderen Szenen auf der Leinwand verfolgen. Ich habe Ausschnitte dieser aufwändigen Inszenierung von Florian Lutz nur in der Hessenschau gesehen – war aber ziemlich geflasht – sollte man sich vielleicht mal anschauen. In der neuen Podcast-Folge von Alles klar, Klassik? debattiere ich mit Doro, in welcher Szene von Carmen man am liebsten sitzen würde...

Bewegung beim Manteltarifvertrag

Lange haben sie nicht mehr miteinander gesprochen. Nun haben der Deutsche Bühnenverein und die NV Bühne-Gewerkschaften, GDBA, VdO und BFFS, vereinbart, die Gespräche zu den Manteltarifregelungen des NV Bühne fortzusetzen. Im neuen Jahr wollen der Bühnenverein und die NV Bühne-Gewerkschaften das Thema Arbeitszeit zunächst in einem gemeinsamen Workshop aufnehmen, um mit dessen Resultaten dann in einer nächsten Runde an den Verhandlungstisch zurückzukehren.

Jetzt hören Sie mal zu!

Mich hat ein Text bei BR-Klassik diese Woche beeindruckt. Es geht um Musik-Genuss für Schwerhörige. Und ich finde es spannend, was da inzwischen alles passiert: Viele Theater bieten Induktionsspule-Lösungen an, mit denen das Bühnengeschehen direkt in die Hörhilfen übertragen werden kann, außerdem wird derzeit an Bluetooth-Lösungen getüftelt. Einziges Problem: Viele Häuser, die derartige Techniken bereits vorhalten, informieren nur schlecht darüber. Vorreiter auch in Sachen Inklusion für Schwerhörige ist das Theater Augsburg, hier setzt man beim Theaterumbau auf technische Visionen, die gerade erst entstehen. Hier geht’s zum lesenswerten Text zu diesem Thema.

Personalien der Woche

Es wird immer schlimmer in der English National Opera: Letzte Woche haben wir über radikale Sparmaßnahmen im Orchester berichtet, nun ist der Chefdirigent, Martyn Brabbins aus Protest zurückgetreten. Das Haus ist politisch vollkommen demontiert. +++ Hilferufe kommen auch aus dem Theater Lüneburg (auch hier haben wir über drohende Kürzungen berichtet). Nun sagt Intendant Hajo Fouquet in der taz, dass das Publikum durchaus komme, aber „jetzt fehlen Einnahmen bei steigenden Ausgaben. Da wird es nun existenziell. Wenn unsere Träger das nicht auffangen, steht das Insolvenzgericht vor der Tür. Wir wollen nicht mehr Geld für teurere Bühnenbilder oder mehr Personal. Wir wollen nur den Status quo erhalten.“ +++ Der Druck auf Markus Söder wächst: Nun meldet sich auch BR-Intendantin Katja Wildermuth zur Söder-„Denkpause“ in Sachen Konzerthaus zu Wort. Sie mahnt – ganz im Sinne ihres Chefdirigenten Sir Simon Rattle – eine politische Entscheidung an. „Wir setzen da drauf, dass die Politik das Konzerthausprojekt nach der Wahl jetzt mit frischem Elan angeht", sagte Wildermuth. +++ Opernfans kennen seine Bühnenbilder zu Nabucco und Peter Grimes. Auch für den Fliegenden Holländer in Krefeld hat Roy Spahn die Kulissen entworfen. Nun ist er kurz vor der Premiere verstorben – das Theater ist geschockt und in tiefer Trauer.

Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht ja hier! Das Opernkollektiv Zürich plant eine außergewöhnliche Produktion von Donizettis Viva la Mamma! – unter anderem mit schwyzerdütschen Einlagen und – das wäre nach letzter Woche vielleicht auch eine Idee für Peter Gelb von der MET – musikalischen Werbe-Inseln von UnterstützerInnen während der Aufführung. Übrigens, das Opernkollektiv sucht noch Unterstützer - und zwar hier. In unserem Podcast Alles klar, Klassik? (hier für apple) überlegen Doro und ich, welche Werbepartner für welche Opern passen: KML etwa für den Fliegenden Holländer, Wempe für die Hochzeit des Figaro und und und …
Und dann war ich diese Woche noch auf der Frankfurter Buchmesse. An zwei Händlertagen (für ein Deutschlandradio-Gespräch über die Zukunft der Klassik) – da herrschte konzentriertes Arbeitsklima. Und an einem Publikumstag, an dem sich Menschenmassen durch die Hallen drängten. Ein Zeichen, dass es durchaus ein sehr breites Interesse an Büchern gibt. Warum das in der Klassik gerade anders scheint, darüber habe ich an diesem Tag mit Bernd Loebe, dem Intendanten des Theaters des Jahres in Frankfurt debattiert (besonders habe ich mich über die Dirigenten-Gäste, siehe Foto unten, bei der Diskussion gefreut). Und, ja, es gibt sie noch, die guten Begegnungen. Ich habe mich auch deshalb auf Loebe als Gesprächspartner zu meinem Buch Die Zwei-Klassik-Gesellschaft (endlich wieder lieferbar) gefreut, weil er sicherlich eine andere Position vertritt als ich. Und so war es dann auch: Er begrüßte mich mit den Worten: „Na, Sie haben mich auch schon mal ganz schön angemacht in Ihrem Newsletter.“ Er sagte das aber nicht als Vorwurf, sondern eher als Diskussions-Grundlage. Und so ging es weiter: ein launiges Gespräch über Theater-Strukturen, die Sehnsucht von MitarbeiterInnen nach „Work-Live-Balance“ und die Schwierigkeit, neue FacharbeiterInnen zu gewinnen. Wir haben die Frage, ob #metoo in Theatern wirklich gut verarbeitet wurde, diskutiert und die musikalische Bildungskrise in Deutschland. Über die launige Plauderei hat Loebe sogar die erste Halbzeit seiner geliebten Eintracht verpasst. Schließlich plädierte er leidenschaftlich dafür, dass wir das Abenteuer, das Spektakel und das Glücksgefühl in den Vordergrund stellen, das wir haben, wenn wir in die Oper gehen. Und das ist vielleicht, was uns alle vereint: die Leidenschaft für unsere Kunst. Und dazu gehört auch die leidenschaftliche Debatte über den Kurs der Kultur, über einzelne Produktionen, über Interpretationen und über die Situation hinter den Kulissen. Denn wenn Kultur uns nicht mehr bewegt, hat sie ihren Sinn verloren.
In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

Axel Brüggemann

Brueggemann@crescendo.de

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