KlassikWoche 43/2023

Musik kann auch nicht alles lösen!

von Axel Brüggemann

23. Oktober 2023

Der Rauswurf von Michael Maertens und Michael Sturminger bei den Salzburger Festspielen und die Gerüchte aus dem Café Bazar über die Planungen der neuen Festspiel-Saison, Fazıl Say und sein Applaus für Recep Tayyip Erdoğan, Axel Ranisch und seine Arte-Miniserie »Nackt über Berlin«.

Will­kommen in der neuen Klas­sik­Woche,

heute mit einem Blick auf den Nahost­kon­flikt in der Klassik, auf die aktu­ellen Jeder­mann-Graben­kämpfe in Salz­burg, mit leiden­schaft­li­chen „Das müssen Sie sehen!“-Tipps, dem traurig-lang­samen Unter­gang der English National Opera und mit schönen Buch­messe-Begeg­nungen.

Salz­burg im Führungs-Chaos 

Das war ein Knall gestern: Die Salz­burger Fest­spiele haben Jeder­mann-Haupt­dar­steller Michael Maer­tens und Regis­seur über­ra­schend raus­ge­schmissen. Die neue Schau­spiel­chefin Marina Davy­dova will 2024 offen­sicht­lich partout mit einer Neuin­sze­nie­rung reüs­sieren und hat Nägel mit Köpfen gemacht. „Mich hat diese Entschei­dung, die ohne ein einziges Gespräch mit mir getroffen wurde, über­rascht und verwun­dert“, sagte Maer­tens. Er habe einen Zwei­jah­res­ver­trag gehabt und sei über­dies gebeten worden, die heuer von ihm erst­mals gespielte Jeder­mann-Rolle auch 2025 und 2026 zu spielen. Daher sei er aus allen Wolken gefallen, als Davy­dova ihn vor wenigen Tagen ange­rufen habe, um ihm mitzu­teilen, dass es 2024 eine neue Regie geben werde und diese eine neue Beset­zung wolle. Und auch Stur­minger war über­rascht: „Das ist jetzt Sache der Juristen, ich habe mich bis jetzt immer auf die Hand­schlag­qua­lität meiner Partner verlassen können, offenbar sind im Direk­to­rium der Salz­burger Fest­spiele in den letzten Jahren wich­tige Instanzen verloren gegangen“, sagte Stur­minger. Wie konnte das passieren? Wie konnte Inten­dant einen derartig über­ra­schenden, unnö­tigen und teuren Ego-Trip seiner neuen Schau­spiel­chefin zulassen? Viel­leicht ist das Jeder­mann-Debakel aber auch nur ein weiterer Ausdruck seiner voll­kom­menen Über­for­de­rung als Inten­dant. Dass Hinter­häuser jetzt, da Aufklä­rung drin­gend Not tut, schweigen will, ist bezeich­nend für seinen Führungs­stil.

Wenn man im Café Bazar in Salz­burg sitzt, hört man über­dies aller­hand Klatsch und Tratsch. Zum Beispiel über die Planung des nächsten Fest­spiel-Sommers. In der Gerüch­te­küche wird geflüs­tert (frei­lich ohne offi­zi­elle Bestä­ti­gung), dass eine konzer­tante Chris­tian-Thie­le­mann-Capriccio-Auffüh­rung die Fest­spiele nächsten Sommer eröffnen soll, gefolgt von einer Don-Giovanni-Wieder­auf­nahme mit (ja, wirk­lich!) . Wenn es tatsäch­lich so kommt, würde das bedeuten, dass es Anfang der Fest­spiele keine szeni­sche Opern-Neu-Produk­tion gibt. Und weiter soll es – glaubt man den Gerüchten – eben­falls mit einer Kopro­duk­tion gehen, mit Cecilia Bartolis Pfingst­fest­spielen und La clemenza di Tito. Danach, so wird getu­schelt, soll mit (gähn!) noch einmal ein Uralt-Bekannter an die Salzach zurück­kehren, dieses Mal mit Miec­zysław Wein­bergs Der Idiot. Wenn sich all dieses Geraune bewahr­heitet, würde dieses nach der künst­le­risch eher belang­losen letzten Fest­spiel-Ausgabe erneut ein Zeichen der Stagna­tion und Einfalls­lo­sig­keit sein. Und das in einer Zeit, in der eigent­lich über den Vertrag von Inten­dant Markus Hinter­häuser verhan­delt werden müsste – denn der läuft 2026 aus. Von einer öffent­li­chen Ausschrei­bung habe ich persön­lich noch nichts mitbe­kommen. Lässt man in Salz­burg derzeit etwa die nötige Zeit für einen echten Perso­nal­wechsel verstrei­chen? Will die Salz­burger Rechts-Rechts-Regie­rung so nibe­lun­gen­treu an seinem Inten­danten fest­halten wie der an seinem Lieb­lings­di­ri­genten? So richtig nach Aufbruch sieht es an der Salzach auf jeden Fall nicht aus. 

Klassik und Nahost I: Fazıl Say

Bereits letzte Woche haben wir uns an dieser Stelle gewun­dert, dass die Verur­tei­lung der Terror-Angriffe auf Israel in der Klassik in einem ziem­li­chen Pianis­simo statt­ge­funden hat. Inzwi­schen gibt es auch echte Eklats. So nannte der Pianist Fazıl Say Israels Regie­rungs­chef Benjamin Netan­jahu einen Kriegs­ver­bre­cher und applau­dierte auf X gleich­zeitig Recep Tayyip Erdoğans Äuße­rungen zum Nahost­kon­flikt als „vernünftig, und fried­lich“. All das hat Chris­tian Berzins in der Schweizer Medi­en­gruppe (u.a. Aargauer Zeitung) berichtet. Inzwi­schen hat der Konzert­ver­an­stalter Migros-Kultur­pro­du­zent-Clas­sics Konse­quenzen gezogen und Say von einem geplanten Konzert ausge­laden. „Grund sind öffent­liche Äuße­rungen Fazıl Says im Nach­gang an den Terror-Angriff auf Israel, welche für die Migros nicht haltbar sind“, teilt ein Spre­cher mit. Daraufhin fordern Paläs­ti­nenser-Gruppen in der Schweiz einen Migros-Boykott. Der Nahe Osten ist uns näher, als einige dachten.

Klassik und Nahost II: West-Eastern Divan

Und auch im West-Eastern Divan Orchestra geht es längst nicht so fried­lich zu, wie uns einige Medi­en­be­richte sugge­rieren wollen. Während den Terro­rismus der Hamas scharf und unmiss­ver­ständ­lich verur­teilt und gleich­zeitig für Verstän­di­gung im Sinne des Huma­nismus wirbt, ist in den sozialen Medien derzeit zu verfolgen, wie Musi­ke­rInnen aus Israel und aus Gaza fast unver­einbar um Deutungs­ho­heit kämpfen. Ein Geiger des Orches­ters war schnell dabei, Israel auf X und Insta­gram die Schuld an der Bombar­die­rung des Kran­ken­hauses in Gaza zu geben und pro-Paläs­tina-Posts zu teilen. Auf Face­book war derweil folgender Kommentar auf der Seite der Baren­boim-Said Akademie zu lesen: „Als ehema­liger Schüler ist es für mich skan­dalös, dass eine Insti­tu­tion, die Huma­nismus lehrt, keine offi­zi­elle Anteil­nahme ausdrückt. Ihr könntet Hamas durchaus als Terror-Orga­ni­sa­tion verur­teilen, auch wenn (und gerade weil!) Ihr das paläs­ti­nen­si­sche Volk unter­stützt.“ Ganz anders sieht es ein Student, der vier Jahre an der Akademie war und nun wohl Lehrer an der Baren­boim-Said Musik­schule in Ramallah ist. Er rela­ti­viert die Terror-Attacke auf Israel in erschre­ckender Tona­lität: „Es ist voll­kommen egal, dass West-Medien die Attacke vom 7. Oktober die schlimmste auf Juden nach dem Holo­caust nennen oder schreiben, dass es Ziel der Hamas sei, alle Juden zu vernichten. Nein. Hamas wurde nicht gegründet, um Juden auszu­ra­dieren, und die Attacke vom 7. Oktober hat nichts mit dem Judentum zu tun. Sie hat mit kolo­nia­lis­ti­schem, weißem Zionismus zu tun, der von einer Gruppe von Juden – nicht von allen – gepflegt wird.“ Wenn Daniel Baren­boims Idee von Musik als Möglich­keit der Vermitt­lung (und des konstruk­tiven Streites) ernst gemeint ist, können diese Wort­mel­dungen aus dem Umfeld von Orchester und Akademie nicht kommen­tarlos stehen­bleiben. Jetzt ist die Zeit, dass Kunst das Verspre­chen einlöst, Menschen mit radikal unter­schied­li­chen Meinungen auf einer anderen Ebene wieder mitein­ander ins Gespräch zu bringen. Doch derzeit kapi­tu­liert die Musik (und mit ihr der Gedanke des West-Eastern Divan Orchestra) leider auf vielen Ebenen vor diesem über­großen Anspruch. 

Sollte man sehen!

Okay, ich komme ein biss­chen spät zur Party, aber ich war auch abge­schreckt durch die Inhalts­an­gabe: Zwei 17-jährige Jungen, Jannik (über­ge­wichtig und schwul) und Tai (aus einer viet­na­me­si­schen Familie), entführen ihren Schul­leiter. Hörte sich für mich erst einmal an wie ein schlechter Til-Schweiger-Film. Aber die Arte-Mini­serie Nackt über Berlin ist viel mehr als das: Ein Fern­seh­spiel, in dem die Klassik (vor allen , aber auch Paga­nini und Co.) endlich mal nicht pein­lich, sondern klug, empa­thisch, welt­erklä­rend und, ja, auch sauko­misch in Szene gesetzt wird. Regis­seur , der auf der Opern­bühne oft noch etwas unbe­stimmt zwischen Trash und Konven­tion torkelt, ist ein echtes Film-Genie! Also ich habe die sechs Folgen an einem Tag geschaut und mich dabei köst­lich unter­halten gefühlt. Anschauen

Was ich (noch) nicht gesehen habe, ist die 360-Grad-Carmen aus Kassel: Das Publikum sitzt in einer Szene der Oper, wird zum Mitspieler und kann die anderen Szenen auf der Lein­wand verfolgen. Ich habe Ausschnitte dieser aufwän­digen Insze­nie­rung von nur in der Hessen­schau gesehen – war aber ziem­lich geflasht – sollte man sich viel­leicht mal anschauen. In der neuen Podcast-Folge von Alles klar, Klassik? debat­tiere ich mit Doro, in welcher Szene von Carmen man am liebsten sitzen würde… 

Bewe­gung beim Mantel­ta­rif­ver­trag

Lange haben sie nicht mehr mitein­ander gespro­chen. Nun haben der Deut­sche Bühnen­verein und die NV Bühne-Gewerk­schaften, GDBA, VdO und BFFS, verein­bart, die Gespräche zu den Mantel­ta­rif­re­ge­lungen des NV Bühne fort­zu­setzen. Im neuen Jahr wollen der Bühnen­verein und die NV Bühne-Gewerk­schaften das Thema Arbeits­zeit zunächst in einem gemein­samen Work­shop aufnehmen, um mit dessen Resul­taten dann in einer nächsten Runde an den Verhand­lungs­tisch zurück­zu­kehren.

Jetzt hören Sie mal zu!

Mich hat ein Text bei BR-Klassik diese Woche beein­druckt. Es geht um Musik-Genuss für Schwer­hö­rige. Und ich finde es span­nend, was da inzwi­schen alles passiert: Viele Theater bieten Induk­ti­ons­spule-Lösungen an, mit denen das Bühnen­ge­schehen direkt in die Hörhilfen über­tragen werden kann, außerdem wird derzeit an Blue­tooth-Lösungen getüf­telt. Einziges Problem: Viele Häuser, die derar­tige Tech­niken bereits vorhalten, infor­mieren nur schlecht darüber. Vorreiter auch in Sachen Inklu­sion für Schwer­hö­rige ist das Theater Augs­burg, hier setzt man beim Thea­ter­umbau auf tech­ni­sche Visionen, die gerade erst entstehen. Hier geht’s zum lesens­werten Text zu diesem Thema

Perso­na­lien der Woche

Es wird immer schlimmer in der English National Opera: Letzte Woche haben wir über radi­kale Spar­maß­nahmen im Orchester berichtet, nun ist der Chef­di­ri­gent, Martyn Brab­bins aus Protest zurück­ge­treten. Das Haus ist poli­tisch voll­kommen demon­tiert. +++ Hilfe­rufe kommen auch aus dem Theater Lüne­burg (auch hier haben wir über drohende Kürzungen berichtet). Nun sagt Inten­dant Hajo Fouquet in der taz, dass das Publikum durchaus komme, aber „jetzt fehlen Einnahmen bei stei­genden Ausgaben. Da wird es nun exis­ten­ziell. Wenn unsere Träger das nicht auffangen, steht das Insol­venz­ge­richt vor der Tür. Wir wollen nicht mehr Geld für teurere Bühnen­bilder oder mehr Personal. Wir wollen nur den Status quo erhalten.“ +++ Der Druck auf wächst: Nun meldet sich auch BR-Inten­dantin Katja Wilder­muth zur Söder-„Denkpause“ in Sachen Konzert­haus zu Wort. Sie mahnt – ganz im Sinne ihres Chef­di­ri­genten – eine poli­ti­sche Entschei­dung an. „Wir setzen da drauf, dass die Politik das Konzert­haus­pro­jekt nach der Wahl jetzt mit frischem Élan angeht“, sagte Wilder­muth. +++ Opern­fans kennen seine Bühnen­bilder zu Nabucco und Peter Grimes. Auch für den Flie­genden Holländer in Krefeld hat Roy Spahn die Kulissen entworfen. Nun ist er kurz vor der Première verstorben – das Theater ist geschockt und in tiefer Trauer. 

Und wo bleibt das Posi­tive, Herr Brüg­ge­mann?

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Viel­leicht ja hier! Das Opern­kol­lektiv Zürich plant eine außer­ge­wöhn­liche Produk­tion von Doni­zettis Viva la Mamma! – unter anderem mit schwy­zer­düt­schen Einlagen und – das wäre nach letzter Woche viel­leicht auch eine Idee für von der MET – musi­ka­li­schen Werbe-Inseln von Unter­stüt­ze­rInnen während der Auffüh­rung. Übri­gens, das Opern­kol­lektiv sucht noch Unter­stützer – und zwar hier. In unserem Podcast Alles klar, Klassik? (hier für apple) über­legen Doro und ich, welche Werbe­partner für welche Opern passen: KLM etwa für den Flie­genden Holländer, Wempe für die Hoch­zeit des Figaro und und und … 

Und dann war ich diese Woche noch auf der Frank­furter Buch­messe. An zwei Händ­ler­tagen (für ein Deutsch­land­radio-Gespräch über die Zukunft der Klassik) – da herrschte konzen­triertes Arbeits­klima. Und an einem Publi­kumstag, an dem sich Menschen­massen durch die Hallen drängten. Ein Zeichen, dass es durchaus ein sehr breites Inter­esse an Büchern gibt. Warum das in der Klassik gerade anders scheint, darüber habe ich an diesem Tag mit , dem Inten­danten des Thea­ters des Jahres in Frank­furt debat­tiert (beson­ders habe ich mich über die Diri­genten-Gäste, siehe Foto unten, bei der Diskus­sion gefreut). Und, ja, es gibt sie noch, die guten Begeg­nungen. Ich habe mich auch deshalb auf Loebe als Gesprächs­partner zu meinem Buch Die Zwei-Klassik-Gesell­schaft (endlich wieder lieferbar) gefreut, weil er sicher­lich eine andere Posi­tion vertritt als ich. Und so war es dann auch: Er begrüßte mich mit den Worten: „Na, Sie haben mich auch schon mal ganz schön ange­macht in Ihrem News­letter.“ Er sagte das aber nicht als Vorwurf, sondern eher als Diskus­sions-Grund­lage. Und so ging es weiter: ein launiges Gespräch über Theater-Struk­turen, die Sehn­sucht von Mitar­bei­te­rInnen nach „Work-Live-Balance“ und die Schwie­rig­keit, neue Fach­ar­bei­te­rInnen zu gewinnen. Wir haben die Frage, ob #metoo in Thea­tern wirk­lich gut verar­beitet wurde, disku­tiert und die musi­ka­li­sche Bildungs­krise in Deutsch­land. Über die launige Plau­derei hat Loebe sogar die erste Halb­zeit seiner geliebten Eintracht verpasst. Schließ­lich plädierte er leiden­schaft­lich dafür, dass wir das Aben­teuer, das Spek­takel und das Glücks­ge­fühl in den Vorder­grund stellen, das wir haben, wenn wir in die Oper gehen. Und das ist viel­leicht, was uns alle vereint: die Leiden­schaft für unsere Kunst. Und dazu gehört auch die leiden­schaft­liche Debatte über den Kurs der Kultur, über einzelne Produk­tionen, über Inter­pre­ta­tionen und über die Situa­tion hinter den Kulissen. Denn wenn Kultur uns nicht mehr bewegt, hat sie ihren Sinn verloren.

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr 

Brueggemann@​crescendo.​de