Verpflichtet, verlän­gert, verwag­nert

von Axel Brüggemann

8. April 2024

Will­kommen in der neuen Klassik-Woche,

was für eine turbu­lente Woche! Eine Vertrags­ver­län­ge­rung in Salz­burg, ein neues Enga­ge­ment in Chicago und aller­hand Bewe­gung in der Welt der Musik. Verlieren wir keine Zeit: los geht‘s! 

Der Mäkelä-Effekt!

Es war seit einiger Zeit ziem­lich klar, dass Klaus Mäkelä neben seinem Chef­posten beim Concert­ge­bou­wor­kest in Amsterdam 2027 auch Chef des Chicago Symphony Orchestra werden wird (wir hatten bereits letzte Woche berichtet). Trotzdem sorgte die offi­zi­elle Ernen­nung nun doch für aller­hand Debatten. Die allge­meinte Rich­tung war: »Zu viele Orchester für einen zu jungen Diri­genten!« US-Kritiker Alex Ross hat diese Perspek­tive im New Yorker am ausführ­lichsten auf den Punkt gebracht. Auf meiner neuen Seite, Back­stage­Clas­sical erklärt der Diri­gent (er diri­gierte die Orchester in Amsterdam und Chicago), warum wir uns etwas lockerer machen sollten – und warum Mäkelä einer der wich­tigsten Diri­genten der Zukunft werden könnte (danke für den großen Zuspruch zur Seite in den ersten Tagen!, um keinen neuen Artikel zu verpassen, folgen Sie uns gern auch auf Face­book oder Insta­gram). Ich persön­lich finde, dass ein Aspekt noch viel zu wenig betrachtet wurde: Wie viele Karrieren von Künst­lern bei der Agentur Harrison Parrott sind mit vielen aufre­genden Enga­ge­ments (und Umsätzen) gestartet und dann still und leise abge­ebbt? 

Noch ein paar Jähr­chen für Hinter­häuser

Vor allen Dingen irri­tiert die Formu­lie­rung der Ausstiegs­klausel: bekommt nach Ablauf seines Vertrages 2026 fünf weitere Jahre als Inten­dant der Salz­burger Fest­spiele – oder doch nur drei? Für 2029 haben sich jeden­falls Inten­dant und Träger der Fest­spiele eine »beid­sei­tige Auflö­sungs­mög­lich­keit« vorbe­halten. Gibt es auch nicht oft. Konkret bedeutet das: Mit 70 Jahren könnte Hinter­häuser auch ohne Gesichts­ver­lust gehen. Bis dahin hat er nun aller­dings einiges zu tun: Der massive Millionen-Umbau des Fest­spiel­hauses steht an, und aller­hand zerschla­genes Porzellan muss wieder zusam­men­klebt werden. Die Konfron­ta­tions-Situa­tion mit seiner Präsi­dentin ist weiterhin unge­löst, und mit aller­hand Künst­le­rinnen und Künst­lern hat Hinter­häuser sich ange­legt. Warum die Verlän­ge­rung – im Ange­sicht der anderen Bewerber – eher klar war, warum sie ein Spiegel der unter Druck gera­tenen Rechts-Rechts Landes­re­gie­rung ist, und warum Aix en Provence nun der span­nen­dere Sommer-Hotspot werden könnte, habe ich in meinem ausführ­li­chen Kommentar aufge­schrieben. 

»Lyniv und Curr­entzis war eine Utopie«

Milo Rau, Inten­dant der Wiener Fest­wo­chen musste seinen Plan aufgeben, und jeweils ein Requiem diri­gieren zu lassen, nachdem Lyniv in diesem News­letter erklärt hatte, dass sie nicht am »White­washing« des Russen betei­ligt sein wolle. In der aktu­ellen Folge von Alles klar, Klassik? rede ich mit Rau über diesen Fall, darüber, was die Kunst besser kann als unsere Wirk­lich­keit, warum er selber einmal aus Russ­land ausge­wiesen wurde, und welche Rolle für den Grenz­gang von Politik und Kultur spielt. Bei den kommenden Fest­wo­chen will Rau Wien zur Freien Repu­blik erheben und in der Stadt ein Tribunal abhalten – ange­klagt ist neben ihm selber auch die Rechts­partei FPÖ (hier für alle Player, unten auf Spotify).

Die neue Laber-Klassik beim rbb

Jetzt ist es so weit – und, nein: es war kein April­scherz. rbbKultur heißt jetzt Radio 3 und hat tatsäch­lich die Klassik weit­ge­hend aus dem Morgen­pro­gramm verbannt. Frederik Hanssen wundert sich im Tages­spiegel: Wie absurd, dass das Radio der Musik nicht traut, die in Berlin gerade das Publikum lockt: »Ins Konzert­haus am Gendar­men­markt strömten 139.585 Menschen, in die Komi­sche Oper 166.679, zu den vier Ensem­bles der Rund­funk­or­chester und ‑chöre GmbH 197.475. Die Staats­oper verzeich­nete 232.963 verkaufte Tickets, die Berliner Phil­har­mo­niker 241.730 und die Deut­sche Oper 243.649. Macht zusammen 1,222 Millionen Menschen.« Und ausge­rechnet der RBB miss­traut der Musik? „Wahr­schein­lich steckt eine konzer­tierte Aktion von RBB und Kultur­se­nator Joe Chialo dahinter: Die vom Kahl­schlag im Kultur­sender frus­trierten Fans werden so animiert, noch häufiger Opern­auf­füh­rungen und Live-Konzerte zu besu­chen«, schreibt Hanssen. Und jetzt müssen Sie wirk­lich stark sein: Wenn Sie hören wollen, wie der neue Morgen-Mode­rator Jörg Thadeusz über Oper spricht (hier über Elektra), gibt es da sehr viel Fremd­schäm-Momente, und man fühlt den inneren Schmerz des Kriti­kers Kai Luers-Kaiser in diesem »Gespräch«. Hier der Link für Mutige!

Tariks Lipgloss-Klassik 

Es ist Mal wieder Zeit für einen Klassik-Knigge (ist nicht allein der Name bereits ziem­lich spießig?). Dieses Mal buch­sta­biert ihn der NDR – und zwar mit dem char­manten Tarik Tesfu. Er erklärt, ob man im Konzert »abdancen« kann (nein!) oder essen darf (eben­falls: nein!). Die Kampagne ist grund­sätz­lich gut gedacht, sagt Jour­na­listin Antonia Munding in ihrem klugen Kommentar – allein: sie sei schlecht gemacht. »Zum einen, weil das impli­zite Verspre­chen einer diversen, genre-spren­genden Kultur­ver­an­stal­tung in der Klassik sich so gar nicht im Konzert­pro­gramm des NDR-Orches­ters nieder­schlägt. Zum anderen, weil es frag­lich bleibt, ob Tarik mit diesem KNIGGE jemals auch nur einen einzigen seiner treuen Follower zu einem klas­si­schen Konzert bewegen wird. Geschweige denn, ob er selbst je in einem war. Oder ob er nicht viel-viel lieber mit Beyoncé die Bühne rocken würde.« Die Insta-Commu­nity auf meiner Seite ist gespalten: 50 Prozent hielt die Kampagne für »Mega Cringe«, 50 Prozent für »Super Glam«. 

Prekäre Arbeits­ver­hält­nisse

Theater thema­ti­sieren auf ihren Bühnen gern die Themen von Moral und Gerech­tig­keit. Hinter den Kulissen sieht es anders aus. Das zeigen die (unre­prä­sen­ta­tiven) Zahlen, die der Berufs­ver­band für Bühnen­regie veröf­fent­licht hat. Demnach verdienen 85 Prozent der Regis­seu­rinnen und Regis­seure weniger als die von Bühnen­verein und Gewerk­schaften verein­barte Anfän­ger­gage – 44 Prozent liegen gar unter­halb der Armuts­grenze. Der Gender-Pay-Gap liegt bei beein­dru­ckenden 39 Prozent. In der Süddeut­schen erklärt der Inten­dant des Theater Koblenz, Markus Dietze, derweil in Sachen Tarif­ver­träge, warum er an die Eigen­ver­ant­wor­tung der Häuser glaubt, gleich­zeitig aber auch auf den neuen Tarif­ver­trag für Bühnen­mit­ar­bei­tende wartet: »Wir brau­chen verbind­li­chere Regeln, ohne die Arbeit mit Planungs­bü­ro­kratie zu belasten. Ausnahmen und zeit­weise beson­dere Belas­tung müssen möglich bleiben, aber eben nicht als Dauer­zu­stand, sondern klug und klar gere­gelt und mit sinn­voll struk­tu­riertem Ausgleich. Viele Theater haben sich dafür schon jetzt Regeln gegeben.«

Perso­na­lien der Woche 

Die Miami Lyric Opera, die von Raffaele Cardone vor 22 Jahren gegründet wurde, ist geschlossen: die letzte Produk­tion war Caval­leria Rusti­cana und Suor Ange­lica. +++ In der NZZ setzt sich Chris­tian Wild­hagen noch einmal mit Teodor Curr­entzis ausein­ander und erklärt, warum sein Spagat zuneh­mend frag­wür­diger wird: »War man doch auch bei Curr­entzis bereits auf bestem Wege, die mora­li­sche und poli­ti­sche Grau­zone schön­zu­reden«, schreibt Wild­hagen, müsse man nun verstehen, warum der sein Dasein zwischen den Welten immer weniger funk­tio­niere. »Nicht zu verkennen ist aber auch, dass rund um die charis­ma­ti­sche Leiter-Figur Curr­entzis ein System entstanden ist, das zugleich ein lukra­tives Geschäfts­mo­dell darstellt.« Wild­hagen schluss­fol­gert: »Es ist Zeit für eine Neube­wer­tung«. +++ Der Chor­di­rektor der Oper Frank­furt, Tilman Michael, wech­selt in glei­cher Posi­tion an die Metro­po­litan Opera New York – zunächst aber nur für ein Jahr. +++ Die Pariser Oper wird wegen umfas­sender Umbau- und Moder­ni­sie­rungs­ar­beiten voraus­sicht­lich zwischen 2027 und 2030 ihre Türen schließen. Betroffen sind beide Häuser unter der Leitung des deut­schen Inten­danten Alex­ander Neef. Das Haus der Opéra Garnier soll in der Saison 2027/2028 ausfallen. Die Opéra Bastille schließt in der Saison 2029/2030. Die Insti­tu­tion sucht nach alter­na­tiven Auffüh­rungs­räumen. +++ Das Linzer Bruck­ner­haus ordnet seine Dinge: Nach Vorwürfen gegen den frei­ge­stellten künst­le­ri­schen Geschäfts­führer und Bruck­ner­haus-Inten­danten soll der Vertrag mit einer externen Agentur, die für das Konzert­haus die Programm­ge­stal­tung mitbe­stimmt hat, aufge­löst werden. +++ 

Und wo bleibt das Posi­tive, Herr Brüg­ge­mann?

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Viel­leicht ja hier: taugt noch immer für einen Skandal. Im ZDF Magazin Royale hat seinen Song »F*uck Wagner« vorge­stellt, eine Satire über das Genie, aber auch eine kriti­sche Ausein­an­der­set­zung mit Wagners Anti­se­mi­tismus. Die Richard-Wagner-Straße in Köln würde Gonzales am liebsten in „Tina-Turner-Straße“ umbe­nennen. Das Thema beschäf­tigt Gonzales schon seit vielen Jahren. Hier ein Gespräch über Richard Wagner, das ich mit Chilly Gonzales geführt habe, in dem er die Gedanken für den jetzigen Song entwi­ckelt. Für ihn ist der Kompo­nist aus Bayreuth ein »Sozio­path«, aber Gonzales sagt eben auch: „Wir alle sind Wagner.« Schon damals zog Gonzales Paral­lelen zu Kanye West – so wie in seinem Song jetzt. 

In diesem Sinne, halten Sie die Ohren steif

Ihr

brueggemann@​crescendo.​de

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Winfried Hanu­schik, Verleger & Heraus­geber

Fotos: Foto: ZDF Magazin Royale (Still), Chicago Symphony, Strauss, Brüggemann