KlassikWoche_RGB_2020-09

Ein Dudelsackpfeifer und der Latte-Mann

Willkommen in der neuen KlassikWoche,

heute mit allerhand Abrechnungskram, einer viel zu großen Latte, Abschied von Franz Xaver Ohnesorg und einer Nachtkritik zum Wiener Schwanda von Tobias Kratzer.

Kling-Kässchen, Klingelingeling I

Bereits letzte Woche hatte ich über den GEMA-Streit der Weihnachtsmärkte berichtet – und bekam Leserpost. Dort wurde ich auf einen umfangreichen Bericht des rbb hingewiesen. Der beschreibt das Problem genau: Die GEMA hat die Märkte großflächig überprüft und rechnet inzwischen nicht nach Lautsprechergröße, sondern nach Größe des Veranstaltungsbereiches ab. Das Ergebnis: sehr hohe Rechnungen. Und ein kompliziertes Abrechnungssystem: Alte Klassiker wie Oh Tannenbaum oder Ihr Kinderlein, kommet sind gebührenfrei – es sei denn, es werden Umarbeitungen und Neufassungen gespielt, deren Urheber noch nicht seit 70 Jahren gestorben sind.
Bleibt die Frage: Warum handeln die Städte nicht eine GEMA-Pauschale aus? Und warum hat noch niemand eine GEMA-freie Weihnachtslied-Playlist erstellt (oder gibt es die schon? Dann bitte an mich schicken, und ich werde sie kommende Woche noch einmal bewerben.)   

Kling-Kässchen, Klingelingeling II

Tja, und dann gibt es auch bei Spotify noch einen neuen Abrechnungsmodus, der besonders die MusikerInnen jenseits des Mainstreams in Rage bringt: Neuerdings schüttet der Streaming-Riese überhaupt erst Geld aus, wenn ein Song mindestens 1000 Mal gehört wurde. Spotify spart dadurch wahrscheinlich Millionen – und die MusikerInnen, die es eh schwer haben, werden weiter gegenüber den Big-Playern benachteiligt.

Kai Uwes Mega-Latte

Unser Freund Kai Uwe Laufenberg (so nennen ihn seine Freunde am Theater) steht vor dem Ende seiner Amtszeit als Intendant des Wiesbadener Staatstheaters. Auch, weil seine Ära ziemlich desaströs war: Generalmusikdirektor Patrick Lange verließ entnervt das Haus, es tobt ein Dauer-Zoff mit Geschäftsführer Holger von Berg, ein Auftritt von Anna Netrebko fand gegen den Willen der Landesregierung statt, und dass Kai Uwe mich einst einen „Parasiten“ schimpfte, blieb ebenfalls nicht ohne Konsequenzen. Damals entschuldigte er sich mit den Worten: „Das soll nicht wieder vorkommen.“ Doch nun geht Kai Uwe wieder auf einen kritischen Journalisten los: Latte – Korrespondenz mit einem Redakteur heißt das Programm, das er ankündigt, gemeint ist der kritische und recherchierende Kollege des Wiesbadener Kuriers. Das Theater verspricht „ein Sittenbild unserer heutigen Zeit sowie der scheinbar überwundenen Corona-Krise und den Zustand der Hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden.“ Andere vermuten eher eine öffentliche Demütigung eines Kritikers. Will Kai Uwe die Pressefreiheit durch die Kunstfreiheit austreiben? JournalistInnen in ganz Deutschland zeigen sich schockiert, auch die FAZ hat klar Position bezogen.
Ich habe bei Hessens Ministerin für Wissenschaft und Kunst, Angela Dorn, nachgefragt. Ihre Antwort (hier ganz zu lesen) wurde inzwischen in vielen Medien zitiert und lautet zusammengefasst: „Art und Weise der Ankündigung lassen ein fragwürdiges Verständnis des Verhältnisses von Kunst- und Pressefreiheit befürchten. Auch nur den Eindruck zu erwecken, die Pressefreiheit mit der Autorität eines Intendanten infrage zu stellen, schädigt aus Sicht der Träger den Ruf des Staatstheaters, da dies als Versuch einer Einschüchterung gedeutet werden könnte. (…) Die ersten öffentlichen Reaktionen lassen befürchten, dass schon die Ankündigung der Veranstaltung geeignet ist, dem Ansehen des Staatstheaters Schaden zuzufügen. Kunstministerin Angela Dorn und Oberbürgermeister Gert-Uwe Mende haben dem Intendanten in einem gemeinsamen Schreiben mitgeteilt, dass sie erwarten, dass er die aufgezeigten Grenzen mit Blick auf seine Verantwortung für das Ansehen des Staatstheaters und zum Schutz der Kunstfreiheit vor Missbrauch beachtet.“ Die Muster ähneln sich: Bedenken, eine Mahnung und leises Drohen – das hat Problem-Intendant Kai Uwe noch nie beeindruckt. Der Imageschaden, den seine Amtszeit hinterlässt, trifft nicht nur das Theater, sondern den Kulturbetrieb und das öffentliche Bild seines Berufsstandes an sich. Einziger Trost: Es ist nicht davon auszugehen, dass Kai Uwe in Deutschland noch einen besseren Job bekommen wird – vielleicht suchen sie in Sotschi ja noch einen Regisseur. 

Russland-Gott Gergiev

Nach Veröffentlichung der Zypern-Papiere zeigt sich, dass man den Einfluss Russlands auf Kultur und Sport in Europa gar nicht überschätzen kann. Selbst der für ARD und ZDF tätige Journalist und Buchautor Hubert Seipel wurden mit 600.000 Euro bedacht. Als Autor dieses Newsletters macht mich das besonders wütend. Es ist schließlich nicht schwer, derartige Gelder einfach abzulehnen – und unabhängig zu bleiben. Ich kenne das aus eigener Erfahrung. Einen von Gazprom mitfinanzierten Film habe ich natürlich bereits nach der Annexion der Krim durch Russland ausgeschlagen, ebenso wie journalistische Projekte unter Regierungsbeteiligungen von AfD oder FPÖ. Man muss dafür einfach nur Nein sagen!
Und, ja, es ist vielleicht mal ganz wichtig, zu sagen, dass der Druck auf kritische JournalistInnen inzwischen mindestens so groß ist wie die Belohnung für KollegInnen, die mit diktatorischen Systemen kooperieren. Gerade deshalb war es selten so wichtig, standhaft zu bleiben, wie in diesen Tagen. Doch für viele scheint das Mitspielen in Machtsystemen offensichtlich interessanter zu sein. Wladimir Putin beförderte den linientreuen Musiker Valery Gergiev gerade. Der ehemalige Chefdirigent der Münchner Philharmoniker soll nicht nur das Mariinski-Theater in St. Petersburg leiten, sondern auch das Bolschoi-Theater in Moskau. Damit wird er Wladimir Urin ersetzen. Der fiel nach dem völkerrechtswidrigen Angriff Russlands auf die Ukraine besonders durch seine liberale und kritische Haltung auf. 

Personalien der Woche

Dirigent Omer Meir Wellber hat im Hamburger Abendblatt ein starkes Statement zur Situation in Israel vorgelegt. Seine Hauptbotschaft: „Wir müssen für eine Zukunft ohne die Hamas und ohne Netanjahu kämpfen.“ +++ Pianist Igor Levit überlegt auf Grund des Antisemitismus in Deutschland, auszuwandern. Sein Konzert gegen Antisemitismus mit Wolf Biermann, Joana Mallwitz, Dunja Hayali und Luisa Neubauer wird in der ARD-Mediathek übertragen. +++ Das Chicago Symphony Orchestra bestreitet sein Jahr mit einem 1,4-Millionen-Defizit. Das berichtet Norman Lebrecht auf seiner Seite.
Ich freue mich für die litauische Dirigentin Giedrė Šlekytė. Ich habe sie zum ersten Mal bei den Wohnzimmerkonzerten der Wiener Symphoniker getroffen. Sie gehört zu jener Generation von DirigentInnen, die nichts mehr behaupten müssen, sondern einfach dirigieren dürfen. Und das macht sie ziemlich souverän. Nachdem Daniel Barenboim die kommende USA-Tournee der Staatskapelle Berlin absagen musste, springt Šlekytė (neben Jakub Hrůša und Yannick Nézet-Séguin) ein und postet ihre Freude mit den herzerfrischenden Worten: „I mean … Pinch me!“ +++ In der neuen Folge von Alles klar, Klassik? sprechen Doro und ich über Joana Mallwitz und viele andere Themen der Klassik-Woche. Viel Spaß beim Hören.

Abschied von Franz Xaver Ohnesorg

Ich glaube, wir alle aus der Klassik-Branche kennen die Anrufe von Franz Xaver Ohnesorg. Gern am frühen Morgen, gern am Handy und meist: mit einer „ganz spannenden Sache“. Ein Roboter, der Blumen beim Klavierfestival Ruhr vergibt, das Lineup des nächsten Festivals – in der Regel Superlative des Tasteninstruments. Oder er rief einfach nur zum Smalltalk an, um uns am Ende einzuladen, oder nein: Uns zu erinnern, dass er uns erwartet – bei seinem Festival. Zu Weihnachten verschickte er Blöcke und Stifte vom Klavierfestival Ruhr, stets mit launigem, handschriftlichen Gruß. Und das beschreibt ihn wahrscheinlich am besten: seine großzügige Handschrift. Franz Xaver Ohnesorg war ein Handschlag-Impressario. Einer, der das Zwischenmenschliche als Geschäftsgrundlage verstand. Für den Musikerinnen und Musiker Freunde waren und wir Kritiker streitbare Geister, mit denen man keine Meinungsverschiedenheit nicht aus dem Weg schaffen konnte. Seinen ersten Coup landete er als Orchesterdirektor der Münchner Philharmoniker, als er – zu aller Überraschung – Sergiu Celibidache verpflichtete.
In den USA, an der Carnegie Hall kam man mit seiner Hemdsärmligkeit nicht ganz so gut klar. Also ging Ohnesorg zu den Berliner Philharmonikern, wickelte die schwierige Schluss-Ära von Claudio Abbado ab und holte Simon Rattle, bevor er selber ging – über die Gründe wurde Stillschweigen vereinbart. Ich persönlich kann nur sagen: Selbst als ich bei der Welt am Sonntag kritische Töne anschlug, war Ohnesorg stets ein Gentleman. Vielleicht, weil er vor allen Dingen eines war: ein Menschen- und Musikliebhaber. Das sah man beim Klavier-Festival Ruhr. Allein, wie gern die großen Pianisten zu ihm kamen (siehe Foto). Und dann das Jugendprojekt, das er mit viel Kraft und Wollen in Duisburg-Marxloh initiierte. Franz Xaver Ohnesorg: ein Mensch, der Menschen verführen wollte – für seine Leidenschaft. Und das auch tat. Er hatte selbst die Größe, seinen eigenen Abschied einzuleiten, die Übergabe an Katrin Zagrosek gründlich vorzubereiten. Er hatte sich selber schon ein Abschiedskonzert zusammengestellt: Martha Argerich, Lang Lang, Michael Barenboim, Anne-Sophie Mutter. Es wird nun sein Gedenkkonzert. Wie sehr hätte man ihm gewünscht, sein eigenes Festival als begeisterter Stammgast zu besuchen. Franz Xaver Ohnesorg starb am 25. November vollkommen überraschend mit 75 Jahren. Nicht nur seine Anrufe werden uns fehlen.

Und wo bleibt das Positive, Herr Brüggemann?

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Vielleicht ja hier – ich war vorgestern bei der Premiere von Jaromír Weinbergers Schwanda, der Dudelsackpfeifer. Regisseur Tobias Kratzer hat das Märchen um den Dudelsackpfeifer, seine Frau und den Räuber Babinsky in ein Ambiente von Schnitzlers Traumnovelle und die Filmästhetik von Eyes Wide Shut gegossen. Eine sinnvolle Idee: Die Werke entstanden zur gleichen Zeit und handeln von Eifersucht, erotischer Sehnsucht und vom Ausloten der Grenzen einer Ehe. Alles beginnt bei Kratzer in einem IKEA-Ehe-Höllen-Ambiente: Babinsky hat es sexuell sowohl auf Schwanda als auch auf seine Frau Dorota abgesehen – mit der er zur Ouvertüre, man muss das so sagen: fickt. Auslöser dafür, dass das Ehepaar nun durch Sex-Welten aus Masken-Erotik, SM-Kellern und Gay-Visionen torkelt. Es gibt viele offene Hosenställe an diesem Abend, aber schockieren tut das nicht mehr – und erregen eigentlich auch nicht.
Warum berührt Kratzer uns nicht mehr so seelentief wie in seinem genialen Bayreuth-Tannhäuser? Vielleicht weil er sich selber inzwischen näher kommt als seinen Charakteren? Und weil auch seine Side-Kick-Videos nicht mehr so tief ausgearbeitet sind? Kein Toter bei Burger King, der die Handlung auf den Kopf stellt wie in Bayreuth, sondern zwei Jungs am Würstelstand mit zwinkernden Transen oder irgendwelche Massenorgien. Das sind visuelle Quickies statt bleibender Opern-Eindrücke.
Der designierte Chefdirigent der Wiener Symphoniker, Petr Popelka, brilliert bei seinem Opern-Einstand in Wien, setzt bei seinem tschechischen Landsmann Weinberger aber hauptsächlich auf das Derbe, das Volksmusikalische, weniger auf die psychologische Seelenromantik. Stimmgewaltig und spielfreudig das Sängerensemble: Andrè Schuen als lyrisch beweglicher Schwanda, Pavol Breslik als schmieriger Testosteron pulsierender Babinsky und Krešimir Stražanac als Teufel aus einer abgefuckten Keller-Sex-Kneipe. Von Vera-Lotte Boecker könnte sich Nicole Kidman noch dramatisches Spiel abschauen – abgesehen von ihrer starken, großen und pathetisch verzweifelten Vokalkraft.

Am Ende war all das mehr Polka als Jazz-Suite, mehr Sex als Sehnsucht, kurz: mehr Tom Cruise als Sky du Mont. Eyes Wide Shut ist ein Filmklassiker, wirkt heute allerdings langweilig. Dieser Schwanda wird sicherlich kein Opernklassiker – aber langweilig ist er selten.

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

Axel Brüggemann

brueggemann@crescendo.de

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