Claudia Roth
Kultur. Politik. Und jetzt?
29. Dezember 2022
Wie politisch darf oder muss Kultur eigentlich sein? Die Fragen werden unbequemer, die Antworten schwieriger. Claudia Roth, die Staatsministerin für Kultur und Medien, war dennoch bereit, sich beiden zu stellen.
Frau Roth, die Kultur war in den letzten Jahren besonders gebeutelt: Erst Corona, nun Putins Angriffskrieg in der Ukraine. Wie bewerten Sie diese beiden einschneidenden Ereignisse? Während Corona haben wir die „Relevanz-Debatte“ geführt, während des Krieges hatte die Kultur plötzlich wieder Relevanz …
Ukraine-Krieg, Klimawandel, Inflation, Energiepreise, Pandemie: Wir leben in einer Zeit, in der wir mit mehreren großen Krisen gleichzeitig konfrontiert sind, die sich wie tektonische Platten überlagern und sich gegenseitig verstärken. Der große Unterschied zum Anfang der Corona-Zeit besteht jetzt darin, dass die Kultur von der Politik nicht mehr als reines Freizeitvergnügen behandelt und den Bordellen gleichgestellt wird. Und dafür gibt es ja auch sehr gute Gründe, denn Kultureinrichtungen bieten mehr als Unterhaltung, sie sind auch Orte der Bildung und der sozialen Begegnung. Gerade jetzt, wo all diese Krisen unser Zusammenleben als Gesellschaft vor enorme Herausforderungen stellen, brauchen wir die Kultur dringender als je zuvor. Denn sie stiftet Identität, sie hält unsere Gesellschaft in all ihrer Vielfalt zusammen.
Derzeit erleben wir gerade in Theatern und Orchestern, dass sie darum ringen, das Publikum zurückzuholen, das während der Pandemie verlorengegangen ist. Ausgerechnet in dieser Zeit kommt die Energiekrise, und allein die Kostenfaktoren machen es schwer, dass das Publikum zurückkehrt. Sie haben Hilfen in Milliardenhöhe versprochen – was raten Sie den Häusern aber strategisch, um das Publikum wieder zu gewinnen?
Ja, das Publikum ist zurückhaltend. Das sagen wirklich alle: die Orchester, Konzert- und Opernhäuser, die Museen und die Theater, die Clubs und die Kinos. Dafür gibt es unterschiedliche Ursachen. Zum einen die Angst vor einer Ansteckung mit Covid. Tatsächlich ist es ja so, dass Kulturveranstaltungen erwiesenermaßen keine Super-Spreader-Events sind. Das liegt auch daran, dass viele Einrichtungen seit dem Beginn der Pandemie neue Lüftungen eingebaut haben – häufig mit Unterstützung meines Hauses.
Viele Menschen wissen aber nicht, wie sicher Kultureinrichtungen sind. Deshalb kommt es jetzt für die Kultureinrichtungen vor allem darauf an, Vertrauen beim Publikum aufzubauen. Und die Aufgabe der Kulturpolitik ist es, sie dabei zu unterstützen. Wir haben genau deshalb ein Hygienezertifikat entwickelt, mit dem die Einrichtungen werben können. Ich kann nur an alle Orchester, Konzerthäuser und Theater appellieren, dieses Zertifikat bei der Deutschen Theatertechnischen Gesellschaft zu beantragen und es dann auch zu nutzen!
»Viele Menschen müssen angesichts von Inflation und drohender Wirtschaftskrise bei der Kultur sparen«
Gibt es weitere Gründe, warum das Publikum derzeit noch nicht wiederkommt?
Ja, ein zweiter Grund für die Zurückhaltung des Publikums besteht in einer gewissen Entwöhnung durch die Corona-Zeit. Der Lebensrhythmus, die Gewohnheiten haben sich zum Teil verändert. Manche Menschen haben sich an rein digitale Formate gewöhnt und sind nicht zurückgekommen in die Konzert- und Opernhäuser, in die Museen und Kinos. Und dabei ist es doch gerade in der Klassik ein gigantischer Unterschied, ob ich mir eine Aufführung allein zu Hause auf dem Sofa ansehe oder diese Aufführung gemeinsam mit anderen Menschen live erlebe!
Und schließlich besteht ein weiterer, entscheidender Grund für das Zögern des Publikums darin, dass viele Menschen angesichts von Inflation und drohender Wirtschaftskrise ganz allgemein weniger Geld ausgeben können und auch bei der Kultur sparen. Wir in der Kulturpolitik sind uns dieses Problems bewusst. Hier müssen wir wirklich schauen, wie wir dem entgegenwirken können. Mein Haus ist dazu bereits mit den Ländern, Kommunen und Verbänden im Austausch.
Wie stellen Sie sich die Debatte in Zukunft vor?
Grundsätzlich ist bei diesem ganzen Themenkomplex aber nicht nur die Politik gefragt. Auch die Kultureinrichtungen selber müssen aktiv werden und sich in den kommenden Monaten stärker um ihr Publikum bemühen. Das bedeutet: mehr Investitionen in Marketing und Kommunikation, neue Wege bei der Ansprache des Publikums. Manche Orchester, Konzert- und Opernhäuser sind hier schon sehr gut aufgestellt, bei anderen gibt es noch Luft nach oben. Deshalb kann es sinnvoll sein, dass die Einrichtungen sich stärker untereinander austauschen, dass sie ihr Wissen und ihre Erfahrungen noch mehr teilen. Klar ist jedenfalls, dass der Winter auch für die Kultur hart werden wird. Aus diesem Grund müssen Politik, Zivilgesellschaft und Kulturszene jetzt fest zusammenstehen.
»Eine lebendige Debattenkultur ist das Fundament jeder starken Demokratie«
Wir leben in einer Zeit, in der wir verhärtete Fronten innerhalb der Bevölkerung beobachten: verschiedene Lager, die einander oft unversöhnlich gegenüberstehen. Wie sehr der Ton sich verschärft, erleben Sie als Politikerin wahrscheinlich täglich. Kultur könnte eine Möglichkeit sein, eine Gesellschaft zu einen und Streit auf produktiver Ebene auszufechten – warum gelingt das in der Kultur derzeit so selten?
Eine lebendige Debattenkultur ist das Fundament jeder starken Demokratie. Und wir brauchen Orte, an denen diese Debatten geführt werden können, an denen der Wettstreit der Ideen stattfinden kann. Kultureinrichtungen eignen sich hervorragend dafür, Menschen unterschiedlicher Ansichten zusammenzubringen und damit den gegenseitigen Respekt zu fördern. Häufig gelingt das auch schon, in vielen Fällen aber auch nicht. Ein Grund dafür ist die mangelnde Diversität der Kultureinrichtungen. Bei den „drei Ps“, also bei Personal, Publikum und Programm, finden wir dort häufig kein Abbild unserer bunten, vielfältigen Gesellschaft. In den Opern- und Konzerthäusern sind zum Beispiel Menschen mit Einwanderungsgeschichte und jüngere Menschen deutlich unterrepräsentiert. Wir brauchen schlichtweg mehr Diversität in der Kulturszene, gerade auch in der Klassik. Dabei sind Programme für kulturelle Teilhabe in einer immer vielfältiger werdenden Gesellschaft auch im ureigensten Interesse der Kultureinrichtungen – denn wer sich jetzt nicht darum kümmert, dem wird in Zukunft ein großer Teil des Publikums wegbrechen.
Sie betonen immer wieder, dass Kultur an sich politisch sein soll und umgeben sich gern mit Künstlern wie Igor Levit, die explizit und offen auf Twitter Ihre Parteilinie vertreten. Glauben Sie, dass Künstlerinnen und Künstler IMMER politisch sein sollten – und dass es zur Kunst gehört, sich politisch zu positionieren?
Bei Kunst kommt es mir nicht auf die Parteilinie an. Im Gegenteil: Ich finde es bereichernd, mich mit künstlerischen Positionen auseinanderzusetzen, die mir zunächst fremd und unbequem sind, die mich aufrütteln. Eine lebendige Demokratie braucht genau das: Sie braucht Impulse und Perspektivwechsel, sie braucht Denkanstöße und Kritik, sie braucht Zweifel und Widerspruch. Die Kultur kann all das leisten, gerade das macht sie zu einem Lebenselixier unserer Demokratie. Aber ich sage auch ganz klar: Kunst muss nicht politisch sein und darf erst recht nicht zum Politikersatz werden. Kunst kann einfach nur sich selbst genügen, sie braucht keinen anderen Zwecken zu dienen außer sich selbst – auch das bedeutet Kunstfreiheit.
Gegenüber „Crescendo“ hat der Intendant der Münchner Staatsoper, Serge Dorny, angeregt, grundsätzliche Strukturen etwa der Stadttheater in Deutschland neu zu beleuchten: Er fragt, ob wir die Ticketpreise nicht anders organisieren müssen – billiger, auch in den hohen Kategorien –, und vor allen Dingen, warum wir ein Theater-System für alle Häuser in Deutschland haben: Er plädiert dafür, dass wir je nach Standort und den dortigen Gegebenheiten frei entschieden sollten, ob ein Haus im Repertoire- oder Stagione-Prinzip arbeitet, ein festes Ensemble oder viele Gäste hat. Denken Sie auch, dass wir Kultur in Deutschland flexibler gestalten müssen?
Ich muss an dieser Stelle darauf hinweisen, dass der Bund kein einziges Opernhaus oder Theater betreibt. Dafür sind die Länder und Kommunen zuständig. Ich finde es daher schwierig, aus meiner Position heraus Empfehlungen über mögliche Strukturen abzugeben. Aber grundsätzlich macht es natürlich Sinn, das Kulturleben in Deutschland offener zu gestalten. Mein Haus und ich setzen uns zum Beispiel dafür ein, die drohende Spaltung unseres Kulturlebens in eine prekäre freie Szene und eine gut abgesicherte etablierte Szene zu verhindern. Dazu müssen wir uns auch vom verengten Blick auf wenige renommierte Häuser verabschieden – was überhaupt nicht bedeutet, dass ich irgendjemandem etwas wegnehmen möchte. Aber unsere Demokratie lebt nun mal von der Kultur in ihrer ganzen Vielfalt, von Philharmonie und Club, von etablierter und freier Szene.
»Führungspositionen in der Kultur sollten nicht nur nach künstlerischen Kriterien vergeben werden«
Dieses Jahr war in der Kultur auch wieder von Debatten über #metoo und Führungsqualitäten geprägt. Dirigenten wie Daniel Barenboim an der Staatsoper standen in der Kritik. Glauben Sie, dass bei der Besetzung von Führungsposten neben der künstlerischen Qualität verstärkt auch auf Führungsqualitäten geachtet werden sollte? Und warum scheint das gerade den Kulturinstitutionen so schwerzufallen?
Bei der Gleichberechtigung von Frauen ist der Kulturbetrieb noch nicht im 21. Jahrhundert angekommen. Wenn wir uns Jurys und Leitungspositionen ansehen, dann sind dort 51% unserer Bevölkerung im Kulturbereich einfach nicht angemessen repräsentiert. Und der Gender Pay Gap ist in der Kulturbranche sogar höher als in manch anderen Wirtschaftszweigen. Zudem haben wir in der Kultur auch ein massives Sexismus-Problem, das mit den häufig verkrusteten Machtstrukturen zusammenhängt. Es gibt hier also ohne jeden Zweifel Nachholbedarf. Ich bin deshalb unbedingt dafür, Führungspositionen in der Kultur nicht nur nach künstlerischen Kriterien zu vergeben. Denn ein genialer Künstler ist nicht automatisch ein guter Chef, da muss noch viel mehr dazukommen.
Liebe Frau Roth, verraten Sie uns noch ihre drei Kultur-Highlights von 2022 und die drei Events, auf die Sie sich 2023 besonders freuen?
Es ist immer schwer, einzelne Ereignisse hervorzuheben. Aber ich will es trotzdem versuchen. Für den Klassikbereich fällt mir zuerst die grandiose Gala zum Ende von Barrie Koskys Intendanz an der Komischen Oper Berlin ein. Die Barrie Koskys All-Singing, All-Dancing Yiddish Revue war eine rauschende, bunte Abschiedsparty mit wahnsinnig lustigen und gleichzeitig zutiefst melancholischen Momenten. Im Pop-Bereich war einer meiner Höhepunkte das Konzert zum 40-jährigen Band-Jubiläum der Toten Hosen in Berlin. Ihren Song Steh auf, wenn du am Boden bist gemeinsam mit 60.000 anderen Menschen zu erleben – das war ein wundervolles Gefühl in dieser Zeit sich überlagernder Krisen. Ein weiteres Highlight war für mich die Performance 254 von Maria Kulikovska. Die aus der Ukraine stammende Künstlerin hatte sich auf die harten Stufen vor der Neuen Nationalgalerie in Berlin gelegt und in die ukrainische Flagge eingewickelt. In ihrer zutiefst bewegenden Performance schwang wahnsinnig viel mit: die Trauer über die Opfer des Krieges, der Verlust jeglicher Sicherheit, das Leid der Geflüchteten, die Widerstandskraft der Ukrainerinnen und Ukrainer.
Und wenn Sie mich fragen, worauf ich mich im nächsten Jahr freue, dann muss ich zunächst einmal sagen: Meine größte Hoffnung für 2023 ist, dass dieser schreckliche Krieg endlich vorbei ist. Frieden für die Ukraine, Frieden für Europa – das ist wichtiger als alles andere. Bis dahin werden mein Haus und ich mit Hochdruck daran arbeiten, die Kultur gut durch den Winter zu bringen – sodass wir alle im nächsten Jahr Kultur in ihrer wunderbaren Vielfalt erleben können: von Oper und Philharmonie über Theater und Museum bis hin zu Kino, Poetry Slam, Graphic Novel und Club.