Mammon greift Jedermann an und verlässt ihn.

Jedermann/ Salzburger Festspiele 2024

Party bis dass der Tod kommt

von Gabrielle Pinkert

2. September 2024

Die Welt ist eine glitzernde Diskokugel, die von rauschenden Partys und Festivitäten angetrieben wird. Zum strahlenden Aufblitzen bringen sie die Jedermänner und -frauen dieser Tage, die mit ihren Festspielroben und Ausgehkleidern um Aufmerksamkeit und Anerkennung buhlen und sich dabei liebend gern im Rausch von Selbstdarstellung und leichter Unterhaltung verfangen.

Die Welt als ausge­las­sene Party­ge­sell­schaft unter blit­zenden Disko­lich­tern.
Und die Kugel dreht sich. So lang und so schnell es geht – bis …
Bis der Tod kommt und alle erschreckt.

Ziem­lich genau so ist die Neuin­sze­nie­rung von „Jeder­mann“ der dies­jäh­rigen Salz­burger Fest­spiele ange­legt. Es betrifft dich und mich, uns, euch und alle anderen dieser Zeit. Unsere Gesell­schaft wird ange­spro­chen, in der sich alles um Geld, Macht und Einfluss dreht. Eine Gesell­schaft, die von Feier­laune, vor allem aber von Ober­fläch­lich­keit beherrscht wird. Wer das meiste Geld hat, kann die schil­lerndsten Partys feiern und ist stets bestens unter­halten von und mit seinen zahl­rei­chen „Freunden“.

Und danach? Was, wenn die Party zu Ende ist?
Der Finger wird in die Wunde gelegt, aber das tut am Anfang noch gar nicht weh, weil das Schöne doch so nah ist und in ein leichtes Sein sausend und brau­send lockt. Wer ließe sich da nicht verführen?

Wie im wahren Leben: ein fixes Selfie, der schnelle Drink, und der leichten Unter­hal­tung steht nichts im Wege

Es ist, als würde man am Küchen­fenster das Geschehen in Nach­bars Garten beob­achten: Da fährt der neureiche Typ namens Jeder­mann im gold-glän­zenden Benz schnittig vor. Prall voll freu­diger Selbst­über­zeugt­heit springt er aus dem Cabrio. Und mit den Worten „Mein Haus hat ein gut Ansehn, das ist wahr, / Steht statt­lich da, vornehm und reich, / Kommt in der Stadt kein andres gleich“ zückt er das Handy und macht von allen Seiten Selfies vor dem im Hinter­grund befind­li­chen Anwesen. Just in dem Moment ist auch schon der engste Freund, der gute Gesell, zur Stelle und hält ein paar Sommer­drinks parat. So kann die Unter­hal­tung weiter­gehen, in der sich – natür­lich – alles ums Geld dreht, ganz konkret um das neue Anwesen, das Jeder­mann erworben hat – einen Lust­garten für seine Geliebte, die Buhl­schaft.

Jeder­mann u Buhl­schaft eröffnen Tisch­ge­sell­schaft. Salz­burger Fest­spiele 2024/ Hugo von Hofmannsthal/​Jedrmann/​Première am 20.Juli 2024// : Regie/​Robert Carsen, Luis F. Carvalho: Bühne/​Luis F. Carvalho: Kostüme/​Robert Carsen, Giuseppe di Iorio: Licht/​Rebecca Howell:Choreografie/ Tushingham:Dramaturgie// :Jeder­mann, Deleila Piasko:Buhlschaft

Der Jeder­mann 2024: ein äußerst ener­ge­ti­scher und unter­halt­samer Zeit­ge­nosse; die Rolle des uner­sätt­li­chen Lebe­manns ist Philipp Hoch­mair auf den Leib geschrieben – seine Fans wissen das. Nicht umsonst waren die Vorstel­lungen im Hand­um­drehen ausver­kauft.

Hoch­mair endlich am großen Zug der Salz­burger Fest­spiele

Die Wogen schlugen hoch als Ende letzten Jahres bekannt wurde, dass nach nur einer Spiel­zeit die inzwi­schen letzte Jeder­mann-Insze­nie­rung von abge­setzt wurde und die Wahl zum neuen Jeder­mann auf den Vorstadt­weiber-Star Hoch­mair gefallen war.
Schon einmal stand er auf dem Domplatz in dieser Rolle. 2018 wurde er gerufen, als erkrankt war. Seither galt Hoch­mair, der damals nur 48 Stunden Zeit zur Vorbe­rei­tung für das Salz­burg-Spek­takel hatte und dafür vom Publikum auf Händen getragen und frene­tisch beju­belt wurde, als klarer Kandidat für die Moretti-Nach­folge. Klar für die breite Zuschau­er­schaft. Für die Festival-Leitung blieb er der Einspringer. Zumin­dest fünf Jahre und zwei Neuin­sze­nie­rungen lang, die nach Moretti von und Michael Maer­tens bestritten wurden.

Mit Hoch­mair verbunden sind seither die höchsten Erwar­tungen an künst­le­ri­sche Tiefe und eine komplette Neudar­stel­lung des Jeder­mann, weil er bekannt dafür ist, dass er mit seinen eigenen Produk­tionen (wie den Schiller‑, Werther‑, Kafka oder eben­falls Jeder­mann-Abenden) radikal ins Benehmen geht. Dabei hält er sich zwar grund­sätz­lich an die Original-Texte, schneidet, sägt, hämmert aber hie und da, klopft das eine oder andere Bruch­stück ab, verkürzt ordent­lich den Stoff, so dass er in der selbst­ge­brauten Essenz jede einzelne Rolle spielen kann. Und dabei versprüht er eine solch enorme Energie, die bis in die letzte Stuhl­reihe hinein­zu­rei­chen vermag.

Nun zeichnet aber nicht Hoch­mair für die Neuin­sze­nie­rung am Domplatz in Salz­burg verant­wort­lich, sondern der kana­di­sche Regis­seur Robert Carsen. Und der bringt seine Darsteller zwar in das Gewand der Neuzeit, belässt das Geschehen aber lieber in besagt beschau­li­chem Garten von nebenan.

Der gute Gesell outet sich später als Teufel (Chris­toph Luser)

„Ich hätte am liebsten mitge­tanzt!“

Und dann ist schon fast alles bereit für das große Gelage:
Eine typi­sche News-Situa­tionen aufgrei­fend wird noch schnell der Schuldner vorbei­ge­trieben, begleitet von seinen Anwälten, gejagt von Pappa­razzi und lästigen Jour­na­listen. Letz­tere stürzen sich recht schnell auf Jeder­mann als öffent­liche Person, der von der Ehefrau des Schuld­ners ange­klagt wird, ihn und dessen Familie mit seiner Geld­gier ins Verderben zu stürzen. Ein kleines Geld­ver­spre­chen später und ein tröst­li­ches Gespräch mit der Mutter (von Andrea Jonasson sehr präsent und sonor gespielt) auf der Garten­bank weiter, wird der Roll­rasen perfekt ausge­rollt. Kein Fält­chen ist am Boden zu sehen, wenn die runden Cate­ring­ti­sche aufge­stellt und alles für die feine Tisch­ge­sell­schaft vorbe­reitet wird. So arbeitet ein Carsen – perfekt bis ins kleinste Detail.

Und dann geht es los: Nach einer stür­mi­schen Break­dance-Einlage in pail­let­ten­rei­chen Outfits eröffnen Jeder­mann und seine Buhl­schaft das Abend­mahl. Als Star-Mode­ra­toren mit Mikros in den Händen begrüßen sie die Gäste und feuern sie mit einem echten Dance Battle zu mitrei­ßenden Beats an. Zwar hört Jeder­mann zwischen­durch bereits den Todesruf, doch die heitre Gesell­schaft tut es nicht und zieht den zwei­felnden Jeder­mann zurück in die Feier­meile.

Die einge­spielte Musik ist ein rhyth­mi­scher Mix von bekannten wie unbe­kannten Songs, so zeit­gemäß party­like, dass nach Vorstel­lungs­ende mehr­fach zu hören ist „Ich hätte am liebsten mitge­tanzt“. Auch das einge­setzte Salon­or­chester (Ensemble 013) spielt hervor­ra­gend live und bietet Hoch­mair kurze inten­sive Einzel­dia­loge, in die er sich – ganz er selbst – hinein­ro­cken kann. Und wenn der Dicke Vetter in seinem pastell­blauen Anzug aus der Gesell­schaft hervor­tritt, um mit dem Jazz-Stan­dard „I´m gonna live till I die“ die Woll­lust der Stunde zu beschreiben, mit dem schon Frank Sinatra begeis­terte, dann ist das sicher einer der nächsten Höhe­punkte des ausge­las­senen Feier­abends.

Noch will Jeder­mann retten, was möglich ist und alles Hab und Gut auf den letzten Weg mitnehmen.
Kristof van Boven:Mammon, Philipp Hochmair:Jedermann

Perfektes Spiel wie auf dem Schach­brett ange­ordnet


Doch dann taucht plötz­lich ein Kellner auf, der – obwohl zurück­hal­tend und wie die anderen seiner Zunft in schwarz-weißer Livree gekleidet – alle Blicke auf sich zieht. Ruhig und mahnend baut er sich inmitten des bunten Trei­bens auf. Sein Outing als Tod führt zur Schock­starre. Einen Sekun­den­bruch­teil später stürmen alle davon. Die Bühne ist leer­ge­fegt. Sogar die Buhl­schaft hat es wegge­rissen, obwohl sie einen Moment zuvor noch Jeder­mann ihre Liebe bestä­tigt hatte. Auch Jeder­mann unter­nimmt den Ansatz der Flucht, doch er weiß es schon längst: er kann dem unge­be­tenen Gast nicht entkommen. Ein kleiner Aufschub wird verhan­delt. Und nun beginnt die eigent­liche Reise: Jeder­mann versucht, sämt­li­ches Hab und Gut auf den letzten Weg mitzu­nehmen und bittet die wich­tigsten Freunde und Verwandten, ihn in das Unvor­her­seh­bare zu begleiten. Alle weichen von ihm.

Der herbei­ge­ru­fene Mammon hält zwar kurz an, aber nicht des Schutzes willen; er reißt an sich, was er kriegen kann und dem Jeder­mann noch das letzte Kleid vom Leib.
Nackt und bloß­ge­stellt – „wie aus Mutters Leib gekommen“ – liegt der Jeder­mann auf dem kalten marmornen Boden des Doms – verletz­lich wie ein Kind, das in eine unbe­kannte Welt geboren wird.

Mit dem Einzug der Dunkel­heit (drama­tur­gisch fantas­tisch am Domplatz unter freiem Himmel genutzt) beginnt die Läute­rungs­phase: Schlag­artig ist alles ruhig und kahl. Nichts bietet mehr Ablen­kung. Nun zählen die wich­tigen Gedanken des Lebens. Jeder­mann tritt an zur inneren Einkehr und Besin­nung. Im Dunkel der Nacht sind die glei­ßenden Schein­werfer nur auf ihn gerichtet. Und er windet sich. Stellt sich zaghaft auf. Schaut sich ein wenig neugierig um, versucht sich zu orien­tieren.

Jeder­mann von allen verlassen, muss seinen letzten Gang allein antreten.

Einzig seine „Werke“ bieten sich ihm an; doch noch immer hoch­näsig will der Jeder­mann dieses in Lumpen­kla­motten steckende Etwas nicht näher an sich heran­lassen.

Diese sind die großen Momente der neuen Insze­nie­rung. Carsen spielt gran­dios mit dem Licht und ordnet die Darsteller in ihrem Spiel perfekt an – wie auf einem Schach­brett. Und Hoch­mair nutzt die Lang­sam­keit des einsamen Moments: Er ist sich selbst genug auf der großen Bühne und als Jeder­mann auf der Suche nach dem Wahr­haften in stiller Einkehr. Dabei nimmt er das atem­an­hal­tende Publikum mit, welches diese uner­wartet fast schon klir­rend bedäch­tige Leere kaum erträgt.

Ein eben­falls genialer Schachzug: den Glauben als Putz­frau auftreten zu lassen, die den letzten Dreck der Party wegschrubbt. Und Jeder­mann greift den Lappen auf, um – inzwi­schen selbst in Lumpen­klei­dern, sich nicht mehr von seiner Umge­bung unter­schei­dend – einer ganzen Schar von Bett­lern die Füße zu waschen, bevor er mit seinen Werken (Dörte Lyssewski) und dem Glauben (Regine Zimmer­mann) an der Hand in reinem Weiß und mit fried­li­chem Gesichts­aus­druck ins Grab steigen kann.

Die Paar­szenen sind über­zeu­gend gespielt: Deleila Piasko (wohl eher dem jüngeren Publikum aus der Netflix-Serie „Trans­at­lantic“ bekannt) glänzt als starke schöne junge Frau, die über sich selbst herrscht und über­zeu­gend an des Part­ners Seite steht, bis es eben nicht mehr geht.
Eben­falls schön anzu­schauen die Tango-Szene: Natür­lich steht der Tango Argen­tino per se für ein gleich­be­rech­tigtes Liebes­leben; beide Haupt­dar­steller beschreiben allein mit ihrer Präsenz das sinn­liche Spiel der Liebe von Anzie­hung und Distanz.

Abso­lute Hoch­ach­tung gebührt den Statisten, die als Haus­per­sonal in Form eines stehendes Bildes mehrere Minuten in derselben Posi­tion verharren, wenn der Mammon erscheint und mit Jeder­mann die letzte Rech­nung durch­geht. Während der eine sich aufs Gera­de­wohl in sämt­liche Rich­tungen verdreht, halten die anderen so still, dass Zweifel über die Leben­dig­keit der Diener­schaft aufkommt.

Die Rollen sind fein besetzt. Chris­toph Luser spielt zunächst den netten Freund, der stets zur Seite ist (guter Gesell), um später im inten­siven Spiel als wahrer Charak­ter­dar­steller den Teufel auf dem feurigen Rache­feldzug zu geben; und da gibt er alles, was es für diese Rolle braucht und das Publikum sehen will: innere Anspan­nung bis in jede einzelne äußer­lich sicht­bare Sehne, furcht­erre­genden Glanz in den Augen, span­nungs­ge­la­dene Wut und die Freude an der List.

Frag­lich ist, ob der Werke Worte schon jemals so warm und hinge­bungs­voll wie aus dem Munde von Dörte Lyssewski geklungen haben; ihre Darstel­lung ist allein stimm­lich absolut fesselnd und gren­zenlos tröst­lich. 
Eine Sensa­tion auch Kristof Van Boven: Als Mammon verbiegt er sich wie es gerade nur geht und spielt perfekt die Rolle des Geldes aus, das sich zu gern in alle Rich­tungen hin anpasst und selbst in die kleinste Ritze zwängt, um sich mit Macht, Reichtum und Einfluss zu paaren.
Mit Dominik Dos-Reis findet sich eine weitere inter­es­sante Beset­zung. In seiner Beschei­den­heit verblüfft der junge Mime als unver­brauchter und inner­lich klar aufge­stellte Tod.
Schön, dass Carsen auch weniger bekannte Namen gesetzt hat und damit durchaus Begabten eine echte Chance gibt. Schließ­lich setzen die Salz­burger Fest­spiele nach wie vor Zeichen in die inter­na­tio­nale Kunst­welt; und nach wie vor gelten vor allem die Beset­zungen im „Jeder­mann“ als Ritter­schlag für ausge­zeich­nete Schau­spiel­kunst.

Ausge­las­sene Party­ge­sell­schaft feiert wild und berauscht sich an sich selbst.

Carsen-Konzept geht auf: er lässt die Zuschauer in den Spiegel schauen …

Es ist paradox: So mitrei­ßend der Abend und an manchen Stellen auch berüh­rend ist, am Ende verbleibt Leere. Die Musik – einst ein Sog – ist nicht mehr hörbar. Einige Bilder ploppen zwar auf, verbleiben aber nur kurz, um in der Erin­ne­rung wieder vorbei­ziehen.
Letzt­lich fühlt man sich, als würde man nüch­tern von einer Party kommen, die irgendwie zu Ende gegangen ist, ohne dass man es bemerkt hat.
Alles scheint im Mittelmaß stehen geblieben. Fehlt das Beson­dere? Fehlt hier Tiefe?
Scheinbar.

Aber das ist vermut­lich genau der Zug, mit dem Carsen alle Schach­matt setzt:
Jeder wäre gern auf dieser Glitzer-Party einge­laden gewesen. Und die, die es waren, bedauern, was zu Ende geht, weil sie insge­heim noch auf das High­light in eigener Person gewartet haben.
So ist Leben. Es zieht vorbei, während wir auf der Suche sind, während wir arbeiten, um zu feiern, während wir feiern, um Außer­ge­wöhn­li­ches zu erleben.

Das Konzept von Carsen geht auf. Er hat uns im Kasten. Man muss es nur verstehen. Oder zulassen, den Kasten aufzu­ma­chen und wagen ins Innere zu schauen.
Offen­sicht­lich ist es ja: Während im ersten Teil alle Darsteller im Hier und Jetzt modern bis extra­va­gant aufge­stellt sind, stehen sie in der Trans­for­ma­ti­ons­phase uniform in einer Reihe: alle­samt in Lumpen­klei­dern, alle­samt bloße Bitt­steller auf der Bühne des Lebens bevor sie am Ende jeder allein für sich das letzte weiße Hemd tragen.
Und immer wieder geht der Finger­zeig ins Publikum: direkt zu Beginn mit dem eröff­nenden Prolog, der klar an Goethes Faust erin­nert, oder am Ende, wenn hier wie dort der Tod als Priester erscheint, und das Publikum ermahnt, der Vorstel­lung genau zu folgen „und aus dem Inhalt die Lehr ausspüren“.
Klar die Ansage, dass Gott Jeder­mann richten wolle. Sicher­heits­halber wird das gleich noch wieder­holt und dabei jede einzelne Silbe betont: JE-DER-MANN. Das ist nicht mehr nur plakativ – das ist ein-eindeutig.

Kostüm zeigt in Rich­tung Fest­spiel­ge­meinde

Erst­mals erscheinen Buhl­schaft, Jeder­mann und Mammon im glei­chen Kostüm; sie sind aus demselben Stoff: Wie sie doch einander bedingen – jeder von jedem abhängig, jeder Teil des jeweils anderen.
Dabei erin­nert der Brokat mit floralem Muster an edles Versace-Design. Die roten Schuh­sohlen der drei winken über den Teufels­bu­ckel hin zu Prada.
Logisch: nur das Feinste vom Feinsten. So muss es sein: das prunk­vollste Gewand zur Feier des Tages. Aber ein Augen­zwin­kern ist in den seidigen Faden einge­webt: Mit den Farben Schwarz, Rot, Gold greift das pracht­volle Gewebe kräftig ins Logo der Salz­burger Fest­spiele und nimmt sich selbst und damit auch deren Besu­cher auf die Schippe oder wenigs­tens genauer unter die Lupe.

Die zwei Seiten des Hoch­mair:
einer, der sich einglie­dert und einer, der sich frei­schießt

Hoch­mair ist eigent­lich ein Einzel­kämpfer, tref­fender noch: ein Frei­heits­kämpfer. Einer, dem eng geschnürte Korsetts nicht recht passen mögen. Einer, der sich von starren Vorgaben befreien muss. Seine Enga­ge­ments am Burg­theater in Wien oder in Hamburg am Thalia Theater liegen schon länger zurück, „es war gut und wichtig“ – mehr hat er dazu nicht zu sagen. Seit Jahren zieht er mit seinem persön­li­chen Schild durch die Lande, das er zur Bühne aufklappt. Dort haben ausschließ­lich seine musi­ka­li­schen Freunde oder ab und an ausge­wählte Spiel­kol­legen für ein kurzes Inter­mezzo im Rahmen seiner Eigen­pro­duk­tionen Platz.

Im Fest­spiel-Jeder­mann nimmt sich Hoch­mair zugunsten des Ensem­bles zurück und fügt sich in eine große Gemein­schaft. Das muss man als über­zeugter Einzel­gänger erst einmal schaffen, wenn man es gewohnt ist, stets den wich­tigsten Ton anzu­geben. Er nutzt seine Platt­form aber auch auf dem Domplatz, um seine Liebe zum Spiel auszu­leben. Unver­kenn­bare Akzente setzt er, wenn er im Gespräch mit der Mutter unver­mit­telt dicht an sie heran­rückt, um sie zu besänf­tigen, aber in Windes­eile wieder das Ende der Bank, auf der beide sitzen, sucht, als sie ihn zu konkretem Heirats­vor­haben drängt. Oder wenn er in seiner Sprech­typik ab und an die Worte als engli­sche Floskel wieder­holt – so wie er es in seinen eigenen Produk­tionen lebt.

Zu Beginn der Fest­spiele konnte Philipp Hoch­mair noch häufig uner­kannt die Plätze und Gassen von Salz­burg passieren. Mit 15 Auftritten, etli­chen Inter­views und Bericht­erstat­tungen hat er zahl­reiche Fans dazu­ge­wonnen. Die Salz­burger nehmen ihn dankbar als „wahren Jeder­mann“ an, „weil er so nahbar ist, auf alle Selfie-Wünsche eingeht und geduldig Auto­gramme gibt“ – schwärmt eine begeis­terte Zuschauerin.

„Ich werde der Heesters vom Domplatz“

Und Hoch­mair selbst? Während die Fest­spiel­ge­meinde bei fast durch­ge­hend 30 Grad und mehr „einen heißen Sommer, der kaum zum Aushalten ist“ konsta­tiert und ange­sichts dieser Hitze schon die verpflich­tenden Auftritte am Domplatz bzw. im Fest­spiel­haus bewun­dernd applau­diert, gibt sich Hoch­mair hiermit noch lange nicht zufrieden.

Er bespielt zwischen­durch weitere Veran­stal­tungs­orte wie die Burg Clam und Golling, tritt für eine Privat­bank zur Auffüh­rung an und gibt nach seinen Fest­spiel­auf­füh­rungen sogar noch ein Abschluss­kon­zert ober­halb von Salz­burg, um zwei Tage später Siegen zu entzünden. 
Wo er die enorme Kraft hernimmt? Vermut­lich von eben diesen zusätz­li­chen Ausritten. Und sicher bekommt Hoch­mair genau über die eigenen One-Man-Shows dann wieder seinen Boden unter den Füßen zu spüren, der dem Himmel ganz nah ist, weil er seine Flügel entfalten kann – den Ausgleich zum tradi­tio­nierten Fest­spiel­ge­häuse suchend, nach dem freien Spiel zu seinem Sound immer wieder lech­zend. In seinen Shows kann er sein wie er ist: Alles und alle und alle einzeln. Im Bruch­teil von Sekunden schlüpft er in die unter­schied­li­chen Rollen und spielt beispiels­weise den „Jeder­mann“ in gekürzter Fassung komplett allein. Nur von den Beats lässt er sich tragen. Oder feuert sie an. Dabei wird dem Publikum ordent­lich einge­heizt, bis es nach und nach auf dem Feuer­spieß mit der Hochmair´schen Energie komplett über­gossen und während einiger Umdre­hungen saftig gegrillt wird. Hoch­mair wächst über sich als Jeder­mann hinaus, sackt in sich zusammen und bettelt bibbernd als Bitt­steller, säuselt als Mammon, mimt lüstern gefräßig den Tod, fleht buckelig als umsor­gende Mutter. Wie bei seinen Reise­plänen: In dem einen Moment war er gerade noch nach dem Hori­zont grei­fend an der einen Bühnen­kante zu sehen, im nächsten windet er sich zwei Meter entfernt unter einem gold­schim­mernden Lametta-Haufen. Den Zuschauern ist nach gut einein­halb Stunden „Hoch­mair pur“ ein wenig schwindlig. Während die einen ausflippen und feiern, kleben die anderen benommen in ihren Stühlen und sinnieren gemeinsam mit den in der Luft tanzenden Gold­fäden, die das Hoch­mair-Spiel am Mikrofon hinter­lassen hat.

Hoch­mair lebt in Salz­burg zwei Seiten seiner selbst. Damit macht er nicht nur die Zuschauer glück­lich. Er selbst ist es auch, wenn er nach seinen Vorstel­lungen ins Mikro schreit: „ … noch weitere 50 Jahre Fest­spiele, noch weitere 500 Jahre …“. Zunächst hat er erstmal einen Zwei-Jahres-Vertrag mit Option auf ein drittes Jahr. Sein Lehrer Klaus Maria Bran­dauer spielte sieben Runden. Und Hoch­mair kündigt lachend an: „Ich werde der Heesters vom Domplatz“.

Wozu noch ein „Jeder­mann“ in unserer aufge­klärten Zeit?

Es stellt sich die Frage: Welche Berech­ti­gung der „Jeder­mann“ in Salz­burg – vor allem bei den Fest­spielen – und auch auf anderen Bühnen in unserer Gesell­schaft noch hat. Immerhin ist der alle­go­ri­sche Stoff von Hugo von Hofmanns­thal im strengen alt-katho­li­schen Sinne ange­legt und verweist als einziges Heil- und Erlö­sungs­mittel auf den Glauben an Gott. Inzwi­schen wissen wir in unserer Zivil­ge­sell­schaft glück­li­cher­weise, dass Glaube indi­vi­duell sein kann und jeder für sich suchen darf.

Die Anlage und Insze­nie­rung des aktu­ellen „Jeder­mann“ zeigen, dass es in der Erkennt­nis­phase weit über den Glauben an einen Gott hinaus geht. Diese Auffüh­rung macht deut­lich: es geht vor allem um das, was der Mensch in seinem Leben schafft, wie verant­wort­lich er mit sich und seinen Mitmen­schen umgeht, wie sinn­voll er das Leben nutzt, bevor das Ende – meist uner­wartet – naht.

In Salz­burg hat das Stück allemal seine Berech­ti­gung, ist doch damit gerade hier seit über einem Jahr­hun­dert mit Beginn der Salz­burger Fest­spiele 1920 Geschichte geschrieben worden. Während andere Auffüh­rungen wech­seln, ist der „Jeder­mann“ fester Bestand­teil des jähr­lich statt­fin­denden Festi­vals. Und es ist nicht nur von Bedeu­tung, dass die Darsteller mit ihrer Beset­zung in dem alten Stück geehrt werden und über den Salz­burger Domboden einen zusätz­li­chen Karrie­re­schub erlangen. Auch die ansäs­sigen Fami­lien fiebern seit eh und je mit: wenn der Opa bereits vor Jahr­zehnten als „Rufer“ einge­setzt war und die Enkelin heute als Statistin in der Garten­lounge tanzt – dann setzt sich auch hier Tradi­tion fort. Und mit jedem Jahr wird ein neues Kapitel dieser spezi­ellen Salz­burg-Geschichte geschrieben. Wer die beiden Darstel­lungs­for­mate – die klas­si­sche vom Fest­spiel­pro­gramm und Hoch­mairs Rock­va­ri­ante – gesehen hat, der stellt sich diese Frage nicht mehr. Im Gegen­teil. Es ist eher eine Frage der Zeit, wann Hoch­mair mit seiner Band „Elek­tro­hand Gottes“ den Domplatz zu Salz­burg erbeben lässt.

Fotos: Monika Rittershaus