Jedermann/ Salzburger Festspiele 2024
Party bis dass der Tod kommt
2. September 2024
Die Welt ist eine glitzernde Diskokugel, die von rauschenden Partys und Festivitäten angetrieben wird. Zum strahlenden Aufblitzen bringen sie die Jedermänner und -frauen dieser Tage, die mit ihren Festspielroben und Ausgehkleidern um Aufmerksamkeit und Anerkennung buhlen und sich dabei liebend gern im Rausch von Selbstdarstellung und leichter Unterhaltung verfangen.
Die Welt als ausgelassene Partygesellschaft unter blitzenden Diskolichtern.
Und die Kugel dreht sich. So lang und so schnell es geht – bis …
Bis der Tod kommt und alle erschreckt.
Ziemlich genau so ist die Neuinszenierung von „Jedermann“ der diesjährigen Salzburger Festspiele angelegt. Es betrifft dich und mich, uns, euch und alle anderen dieser Zeit. Unsere Gesellschaft wird angesprochen, in der sich alles um Geld, Macht und Einfluss dreht. Eine Gesellschaft, die von Feierlaune, vor allem aber von Oberflächlichkeit beherrscht wird. Wer das meiste Geld hat, kann die schillerndsten Partys feiern und ist stets bestens unterhalten von und mit seinen zahlreichen „Freunden“.
Und danach? Was, wenn die Party zu Ende ist?
Der Finger wird in die Wunde gelegt, aber das tut am Anfang noch gar nicht weh, weil das Schöne doch so nah ist und in ein leichtes Sein sausend und brausend lockt. Wer ließe sich da nicht verführen?
Wie im wahren Leben: ein fixes Selfie, der schnelle Drink, und der leichten Unterhaltung steht nichts im Wege
Es ist, als würde man am Küchenfenster das Geschehen in Nachbars Garten beobachten: Da fährt der neureiche Typ namens Jedermann im gold-glänzenden Benz schnittig vor. Prall voll freudiger Selbstüberzeugtheit springt er aus dem Cabrio. Und mit den Worten „Mein Haus hat ein gut Ansehn, das ist wahr, / Steht stattlich da, vornehm und reich, / Kommt in der Stadt kein andres gleich“ zückt er das Handy und macht von allen Seiten Selfies vor dem im Hintergrund befindlichen Anwesen. Just in dem Moment ist auch schon der engste Freund, der gute Gesell, zur Stelle und hält ein paar Sommerdrinks parat. So kann die Unterhaltung weitergehen, in der sich – natürlich – alles ums Geld dreht, ganz konkret um das neue Anwesen, das Jedermann erworben hat – einen Lustgarten für seine Geliebte, die Buhlschaft.
Der Jedermann 2024: ein äußerst energetischer und unterhaltsamer Zeitgenosse; die Rolle des unersättlichen Lebemanns ist Philipp Hochmair auf den Leib geschrieben – seine Fans wissen das. Nicht umsonst waren die Vorstellungen im Handumdrehen ausverkauft.
Hochmair endlich am großen Zug der Salzburger Festspiele
Die Wogen schlugen hoch als Ende letzten Jahres bekannt wurde, dass nach nur einer Spielzeit die inzwischen letzte Jedermann-Inszenierung von Michael Sturminger abgesetzt wurde und die Wahl zum neuen Jedermann auf den Vorstadtweiber-Star Hochmair gefallen war.
Schon einmal stand er auf dem Domplatz in dieser Rolle. 2018 wurde er gerufen, als Tobias Moretti erkrankt war. Seither galt Hochmair, der damals nur 48 Stunden Zeit zur Vorbereitung für das Salzburg-Spektakel hatte und dafür vom Publikum auf Händen getragen und frenetisch bejubelt wurde, als klarer Kandidat für die Moretti-Nachfolge. Klar für die breite Zuschauerschaft. Für die Festival-Leitung blieb er der Einspringer. Zumindest fünf Jahre und zwei Neuinszenierungen lang, die nach Moretti von Lars Eidinger und Michael Maertens bestritten wurden.
Mit Hochmair verbunden sind seither die höchsten Erwartungen an künstlerische Tiefe und eine komplette Neudarstellung des Jedermann, weil er bekannt dafür ist, dass er mit seinen eigenen Produktionen (wie den Schiller‑, Werther‑, Kafka oder ebenfalls Jedermann-Abenden) radikal ins Benehmen geht. Dabei hält er sich zwar grundsätzlich an die Original-Texte, schneidet, sägt, hämmert aber hie und da, klopft das eine oder andere Bruchstück ab, verkürzt ordentlich den Stoff, so dass er in der selbstgebrauten Essenz jede einzelne Rolle spielen kann. Und dabei versprüht er eine solch enorme Energie, die bis in die letzte Stuhlreihe hineinzureichen vermag.
Nun zeichnet aber nicht Hochmair für die Neuinszenierung am Domplatz in Salzburg verantwortlich, sondern der kanadische Regisseur Robert Carsen. Und der bringt seine Darsteller zwar in das Gewand der Neuzeit, belässt das Geschehen aber lieber in besagt beschaulichem Garten von nebenan.
„Ich hätte am liebsten mitgetanzt!“
Und dann ist schon fast alles bereit für das große Gelage:
Eine typische News-Situationen aufgreifend wird noch schnell der Schuldner vorbeigetrieben, begleitet von seinen Anwälten, gejagt von Papparazzi und lästigen Journalisten. Letztere stürzen sich recht schnell auf Jedermann als öffentliche Person, der von der Ehefrau des Schuldners angeklagt wird, ihn und dessen Familie mit seiner Geldgier ins Verderben zu stürzen. Ein kleines Geldversprechen später und ein tröstliches Gespräch mit der Mutter (von Andrea Jonasson sehr präsent und sonor gespielt) auf der Gartenbank weiter, wird der Rollrasen perfekt ausgerollt. Kein Fältchen ist am Boden zu sehen, wenn die runden Cateringtische aufgestellt und alles für die feine Tischgesellschaft vorbereitet wird. So arbeitet ein Carsen – perfekt bis ins kleinste Detail.
Und dann geht es los: Nach einer stürmischen Breakdance-Einlage in paillettenreichen Outfits eröffnen Jedermann und seine Buhlschaft das Abendmahl. Als Star-Moderatoren mit Mikros in den Händen begrüßen sie die Gäste und feuern sie mit einem echten Dance Battle zu mitreißenden Beats an. Zwar hört Jedermann zwischendurch bereits den Todesruf, doch die heitre Gesellschaft tut es nicht und zieht den zweifelnden Jedermann zurück in die Feiermeile.
Die eingespielte Musik ist ein rhythmischer Mix von bekannten wie unbekannten Songs, so zeitgemäß partylike, dass nach Vorstellungsende mehrfach zu hören ist „Ich hätte am liebsten mitgetanzt“. Auch das eingesetzte Salonorchester (Ensemble 013) spielt hervorragend live und bietet Hochmair kurze intensive Einzeldialoge, in die er sich – ganz er selbst – hineinrocken kann. Und wenn der Dicke Vetter in seinem pastellblauen Anzug aus der Gesellschaft hervortritt, um mit dem Jazz-Standard „I´m gonna live till I die“ die Wolllust der Stunde zu beschreiben, mit dem schon Frank Sinatra begeisterte, dann ist das sicher einer der nächsten Höhepunkte des ausgelassenen Feierabends.
Perfektes Spiel wie auf dem Schachbrett angeordnet
Doch dann taucht plötzlich ein Kellner auf, der – obwohl zurückhaltend und wie die anderen seiner Zunft in schwarz-weißer Livree gekleidet – alle Blicke auf sich zieht. Ruhig und mahnend baut er sich inmitten des bunten Treibens auf. Sein Outing als Tod führt zur Schockstarre. Einen Sekundenbruchteil später stürmen alle davon. Die Bühne ist leergefegt. Sogar die Buhlschaft hat es weggerissen, obwohl sie einen Moment zuvor noch Jedermann ihre Liebe bestätigt hatte. Auch Jedermann unternimmt den Ansatz der Flucht, doch er weiß es schon längst: er kann dem ungebetenen Gast nicht entkommen. Ein kleiner Aufschub wird verhandelt. Und nun beginnt die eigentliche Reise: Jedermann versucht, sämtliches Hab und Gut auf den letzten Weg mitzunehmen und bittet die wichtigsten Freunde und Verwandten, ihn in das Unvorhersehbare zu begleiten. Alle weichen von ihm.
Der herbeigerufene Mammon hält zwar kurz an, aber nicht des Schutzes willen; er reißt an sich, was er kriegen kann und dem Jedermann noch das letzte Kleid vom Leib.
Nackt und bloßgestellt – „wie aus Mutters Leib gekommen“ – liegt der Jedermann auf dem kalten marmornen Boden des Doms – verletzlich wie ein Kind, das in eine unbekannte Welt geboren wird.
Mit dem Einzug der Dunkelheit (dramaturgisch fantastisch am Domplatz unter freiem Himmel genutzt) beginnt die Läuterungsphase: Schlagartig ist alles ruhig und kahl. Nichts bietet mehr Ablenkung. Nun zählen die wichtigen Gedanken des Lebens. Jedermann tritt an zur inneren Einkehr und Besinnung. Im Dunkel der Nacht sind die gleißenden Scheinwerfer nur auf ihn gerichtet. Und er windet sich. Stellt sich zaghaft auf. Schaut sich ein wenig neugierig um, versucht sich zu orientieren.
Einzig seine „Werke“ bieten sich ihm an; doch noch immer hochnäsig will der Jedermann dieses in Lumpenklamotten steckende Etwas nicht näher an sich heranlassen.
Diese sind die großen Momente der neuen Inszenierung. Carsen spielt grandios mit dem Licht und ordnet die Darsteller in ihrem Spiel perfekt an – wie auf einem Schachbrett. Und Hochmair nutzt die Langsamkeit des einsamen Moments: Er ist sich selbst genug auf der großen Bühne und als Jedermann auf der Suche nach dem Wahrhaften in stiller Einkehr. Dabei nimmt er das atemanhaltende Publikum mit, welches diese unerwartet fast schon klirrend bedächtige Leere kaum erträgt.
Ein ebenfalls genialer Schachzug: den Glauben als Putzfrau auftreten zu lassen, die den letzten Dreck der Party wegschrubbt. Und Jedermann greift den Lappen auf, um – inzwischen selbst in Lumpenkleidern, sich nicht mehr von seiner Umgebung unterscheidend – einer ganzen Schar von Bettlern die Füße zu waschen, bevor er mit seinen Werken (Dörte Lyssewski) und dem Glauben (Regine Zimmermann) an der Hand in reinem Weiß und mit friedlichem Gesichtsausdruck ins Grab steigen kann.
Die Paarszenen sind überzeugend gespielt: Deleila Piasko (wohl eher dem jüngeren Publikum aus der Netflix-Serie „Transatlantic“ bekannt) glänzt als starke schöne junge Frau, die über sich selbst herrscht und überzeugend an des Partners Seite steht, bis es eben nicht mehr geht.
Ebenfalls schön anzuschauen die Tango-Szene: Natürlich steht der Tango Argentino per se für ein gleichberechtigtes Liebesleben; beide Hauptdarsteller beschreiben allein mit ihrer Präsenz das sinnliche Spiel der Liebe von Anziehung und Distanz.
Absolute Hochachtung gebührt den Statisten, die als Hauspersonal in Form eines stehendes Bildes mehrere Minuten in derselben Position verharren, wenn der Mammon erscheint und mit Jedermann die letzte Rechnung durchgeht. Während der eine sich aufs Geradewohl in sämtliche Richtungen verdreht, halten die anderen so still, dass Zweifel über die Lebendigkeit der Dienerschaft aufkommt.
Die Rollen sind fein besetzt. Christoph Luser spielt zunächst den netten Freund, der stets zur Seite ist (guter Gesell), um später im intensiven Spiel als wahrer Charakterdarsteller den Teufel auf dem feurigen Rachefeldzug zu geben; und da gibt er alles, was es für diese Rolle braucht und das Publikum sehen will: innere Anspannung bis in jede einzelne äußerlich sichtbare Sehne, furchterregenden Glanz in den Augen, spannungsgeladene Wut und die Freude an der List.
Fraglich ist, ob der Werke Worte schon jemals so warm und hingebungsvoll wie aus dem Munde von Dörte Lyssewski geklungen haben; ihre Darstellung ist allein stimmlich absolut fesselnd und grenzenlos tröstlich.
Eine Sensation auch Kristof Van Boven: Als Mammon verbiegt er sich wie es gerade nur geht und spielt perfekt die Rolle des Geldes aus, das sich zu gern in alle Richtungen hin anpasst und selbst in die kleinste Ritze zwängt, um sich mit Macht, Reichtum und Einfluss zu paaren.
Mit Dominik Dos-Reis findet sich eine weitere interessante Besetzung. In seiner Bescheidenheit verblüfft der junge Mime als unverbrauchter und innerlich klar aufgestellte Tod.
Schön, dass Carsen auch weniger bekannte Namen gesetzt hat und damit durchaus Begabten eine echte Chance gibt. Schließlich setzen die Salzburger Festspiele nach wie vor Zeichen in die internationale Kunstwelt; und nach wie vor gelten vor allem die Besetzungen im „Jedermann“ als Ritterschlag für ausgezeichnete Schauspielkunst.
Carsen-Konzept geht auf: er lässt die Zuschauer in den Spiegel schauen …
Es ist paradox: So mitreißend der Abend und an manchen Stellen auch berührend ist, am Ende verbleibt Leere. Die Musik – einst ein Sog – ist nicht mehr hörbar. Einige Bilder ploppen zwar auf, verbleiben aber nur kurz, um in der Erinnerung wieder vorbeiziehen.
Letztlich fühlt man sich, als würde man nüchtern von einer Party kommen, die irgendwie zu Ende gegangen ist, ohne dass man es bemerkt hat.
Alles scheint im Mittelmaß stehen geblieben. Fehlt das Besondere? Fehlt hier Tiefe?
Scheinbar.
Aber das ist vermutlich genau der Zug, mit dem Carsen alle Schachmatt setzt:
Jeder wäre gern auf dieser Glitzer-Party eingeladen gewesen. Und die, die es waren, bedauern, was zu Ende geht, weil sie insgeheim noch auf das Highlight in eigener Person gewartet haben.
So ist Leben. Es zieht vorbei, während wir auf der Suche sind, während wir arbeiten, um zu feiern, während wir feiern, um Außergewöhnliches zu erleben.
Das Konzept von Carsen geht auf. Er hat uns im Kasten. Man muss es nur verstehen. Oder zulassen, den Kasten aufzumachen und wagen ins Innere zu schauen.
Offensichtlich ist es ja: Während im ersten Teil alle Darsteller im Hier und Jetzt modern bis extravagant aufgestellt sind, stehen sie in der Transformationsphase uniform in einer Reihe: allesamt in Lumpenkleidern, allesamt bloße Bittsteller auf der Bühne des Lebens bevor sie am Ende jeder allein für sich das letzte weiße Hemd tragen.
Und immer wieder geht der Fingerzeig ins Publikum: direkt zu Beginn mit dem eröffnenden Prolog, der klar an Goethes Faust erinnert, oder am Ende, wenn hier wie dort der Tod als Priester erscheint, und das Publikum ermahnt, der Vorstellung genau zu folgen „und aus dem Inhalt die Lehr ausspüren“.
Klar die Ansage, dass Gott Jedermann richten wolle. Sicherheitshalber wird das gleich noch wiederholt und dabei jede einzelne Silbe betont: JE-DER-MANN. Das ist nicht mehr nur plakativ – das ist ein-eindeutig.
Kostüm zeigt in Richtung Festspielgemeinde
Erstmals erscheinen Buhlschaft, Jedermann und Mammon im gleichen Kostüm; sie sind aus demselben Stoff: Wie sie doch einander bedingen – jeder von jedem abhängig, jeder Teil des jeweils anderen.
Dabei erinnert der Brokat mit floralem Muster an edles Versace-Design. Die roten Schuhsohlen der drei winken über den Teufelsbuckel hin zu Prada.
Logisch: nur das Feinste vom Feinsten. So muss es sein: das prunkvollste Gewand zur Feier des Tages. Aber ein Augenzwinkern ist in den seidigen Faden eingewebt: Mit den Farben Schwarz, Rot, Gold greift das prachtvolle Gewebe kräftig ins Logo der Salzburger Festspiele und nimmt sich selbst und damit auch deren Besucher auf die Schippe oder wenigstens genauer unter die Lupe.
Die zwei Seiten des Hochmair:
einer, der sich eingliedert und einer, der sich freischießt
Hochmair ist eigentlich ein Einzelkämpfer, treffender noch: ein Freiheitskämpfer. Einer, dem eng geschnürte Korsetts nicht recht passen mögen. Einer, der sich von starren Vorgaben befreien muss. Seine Engagements am Burgtheater in Wien oder in Hamburg am Thalia Theater liegen schon länger zurück, „es war gut und wichtig“ – mehr hat er dazu nicht zu sagen. Seit Jahren zieht er mit seinem persönlichen Schild durch die Lande, das er zur Bühne aufklappt. Dort haben ausschließlich seine musikalischen Freunde oder ab und an ausgewählte Spielkollegen für ein kurzes Intermezzo im Rahmen seiner Eigenproduktionen Platz.
Im Festspiel-Jedermann nimmt sich Hochmair zugunsten des Ensembles zurück und fügt sich in eine große Gemeinschaft. Das muss man als überzeugter Einzelgänger erst einmal schaffen, wenn man es gewohnt ist, stets den wichtigsten Ton anzugeben. Er nutzt seine Plattform aber auch auf dem Domplatz, um seine Liebe zum Spiel auszuleben. Unverkennbare Akzente setzt er, wenn er im Gespräch mit der Mutter unvermittelt dicht an sie heranrückt, um sie zu besänftigen, aber in Windeseile wieder das Ende der Bank, auf der beide sitzen, sucht, als sie ihn zu konkretem Heiratsvorhaben drängt. Oder wenn er in seiner Sprechtypik ab und an die Worte als englische Floskel wiederholt – so wie er es in seinen eigenen Produktionen lebt.
Zu Beginn der Festspiele konnte Philipp Hochmair noch häufig unerkannt die Plätze und Gassen von Salzburg passieren. Mit 15 Auftritten, etlichen Interviews und Berichterstattungen hat er zahlreiche Fans dazugewonnen. Die Salzburger nehmen ihn dankbar als „wahren Jedermann“ an, „weil er so nahbar ist, auf alle Selfie-Wünsche eingeht und geduldig Autogramme gibt“ – schwärmt eine begeisterte Zuschauerin.
„Ich werde der Heesters vom Domplatz“
Und Hochmair selbst? Während die Festspielgemeinde bei fast durchgehend 30 Grad und mehr „einen heißen Sommer, der kaum zum Aushalten ist“ konstatiert und angesichts dieser Hitze schon die verpflichtenden Auftritte am Domplatz bzw. im Festspielhaus bewundernd applaudiert, gibt sich Hochmair hiermit noch lange nicht zufrieden.
Er bespielt zwischendurch weitere Veranstaltungsorte wie die Burg Clam und Golling, tritt für eine Privatbank zur Aufführung an und gibt nach seinen Festspielaufführungen sogar noch ein Abschlusskonzert oberhalb von Salzburg, um zwei Tage später Siegen zu entzünden.
Wo er die enorme Kraft hernimmt? Vermutlich von eben diesen zusätzlichen Ausritten. Und sicher bekommt Hochmair genau über die eigenen One-Man-Shows dann wieder seinen Boden unter den Füßen zu spüren, der dem Himmel ganz nah ist, weil er seine Flügel entfalten kann – den Ausgleich zum traditionierten Festspielgehäuse suchend, nach dem freien Spiel zu seinem Sound immer wieder lechzend. In seinen Shows kann er sein wie er ist: Alles und alle und alle einzeln. Im Bruchteil von Sekunden schlüpft er in die unterschiedlichen Rollen und spielt beispielsweise den „Jedermann“ in gekürzter Fassung komplett allein. Nur von den Beats lässt er sich tragen. Oder feuert sie an. Dabei wird dem Publikum ordentlich eingeheizt, bis es nach und nach auf dem Feuerspieß mit der Hochmair´schen Energie komplett übergossen und während einiger Umdrehungen saftig gegrillt wird. Hochmair wächst über sich als Jedermann hinaus, sackt in sich zusammen und bettelt bibbernd als Bittsteller, säuselt als Mammon, mimt lüstern gefräßig den Tod, fleht buckelig als umsorgende Mutter. Wie bei seinen Reiseplänen: In dem einen Moment war er gerade noch nach dem Horizont greifend an der einen Bühnenkante zu sehen, im nächsten windet er sich zwei Meter entfernt unter einem goldschimmernden Lametta-Haufen. Den Zuschauern ist nach gut eineinhalb Stunden „Hochmair pur“ ein wenig schwindlig. Während die einen ausflippen und feiern, kleben die anderen benommen in ihren Stühlen und sinnieren gemeinsam mit den in der Luft tanzenden Goldfäden, die das Hochmair-Spiel am Mikrofon hinterlassen hat.
Hochmair lebt in Salzburg zwei Seiten seiner selbst. Damit macht er nicht nur die Zuschauer glücklich. Er selbst ist es auch, wenn er nach seinen Vorstellungen ins Mikro schreit: „ … noch weitere 50 Jahre Festspiele, noch weitere 500 Jahre …“. Zunächst hat er erstmal einen Zwei-Jahres-Vertrag mit Option auf ein drittes Jahr. Sein Lehrer Klaus Maria Brandauer spielte sieben Runden. Und Hochmair kündigt lachend an: „Ich werde der Heesters vom Domplatz“.
Wozu noch ein „Jedermann“ in unserer aufgeklärten Zeit?
Es stellt sich die Frage: Welche Berechtigung der „Jedermann“ in Salzburg – vor allem bei den Festspielen – und auch auf anderen Bühnen in unserer Gesellschaft noch hat. Immerhin ist der allegorische Stoff von Hugo von Hofmannsthal im strengen alt-katholischen Sinne angelegt und verweist als einziges Heil- und Erlösungsmittel auf den Glauben an Gott. Inzwischen wissen wir in unserer Zivilgesellschaft glücklicherweise, dass Glaube individuell sein kann und jeder für sich suchen darf.
Die Anlage und Inszenierung des aktuellen „Jedermann“ zeigen, dass es in der Erkenntnisphase weit über den Glauben an einen Gott hinaus geht. Diese Aufführung macht deutlich: es geht vor allem um das, was der Mensch in seinem Leben schafft, wie verantwortlich er mit sich und seinen Mitmenschen umgeht, wie sinnvoll er das Leben nutzt, bevor das Ende – meist unerwartet – naht.
In Salzburg hat das Stück allemal seine Berechtigung, ist doch damit gerade hier seit über einem Jahrhundert mit Beginn der Salzburger Festspiele 1920 Geschichte geschrieben worden. Während andere Aufführungen wechseln, ist der „Jedermann“ fester Bestandteil des jährlich stattfindenden Festivals. Und es ist nicht nur von Bedeutung, dass die Darsteller mit ihrer Besetzung in dem alten Stück geehrt werden und über den Salzburger Domboden einen zusätzlichen Karriereschub erlangen. Auch die ansässigen Familien fiebern seit eh und je mit: wenn der Opa bereits vor Jahrzehnten als „Rufer“ eingesetzt war und die Enkelin heute als Statistin in der Gartenlounge tanzt – dann setzt sich auch hier Tradition fort. Und mit jedem Jahr wird ein neues Kapitel dieser speziellen Salzburg-Geschichte geschrieben. Wer die beiden Darstellungsformate – die klassische vom Festspielprogramm und Hochmairs Rockvariante – gesehen hat, der stellt sich diese Frage nicht mehr. Im Gegenteil. Es ist eher eine Frage der Zeit, wann Hochmair mit seiner Band „Elektrohand Gottes“ den Domplatz zu Salzburg erbeben lässt.