Lionel Bringuier
Nizza – die Grande Dame an der Engelsbucht
14. November 2021
Der Dirigent und Cellist Lionel Bringuier lädt in seine Heimatstadt Nizza ein.
Ja, es gibt Menschen, die sind hier geboren und aufgewachsen. Der Dirigent und Cellist Lionel Bringuier ist so einer. Er zeigt uns seine Herzensstadt, die so viel mehr ist als die vermeintliche Filmkulisse. Großzügig und ausgesprochen vielfältig. Eine Stadt, die ihn zu dem gemacht hat, der er heute ist.
Lionel Bringuier und Nizza: eine eingeschworene Gemeinschaft. Zwar treibt der Erfolg den Dirigenten immer wieder hinaus zu den großen Bühnen der Welt – Sydney, Tokio, Barcelona. Doch wann immer er kann, kehrt er zurück in seine Heimat- und Lebensstadt. „Eigentlich habe ich Nizza nie wirklich verlassen, es war immer in meinem Herzen“, sagt Bringuier und lacht.
An einem Spätsommertag sitzt Bringuier in einem gut gefüllten Café gegenüber dem Justizpalast. Er hat einen kleinen Tisch mitten im Trubel ausgewählt, irgendwo läuft das Radio, an der Theke werden klappernd Espressoteller gestapelt, am Nachbartisch wird laut gelacht. Bringuier liebt diesen Sound der Altstadt, das „Allegro vivace con grazie“, das über der gesamten Metropole zu liegen scheint.
»Ich habe Nizza nie wirklich verlassen, es war immer in meinem Herzen.«
Nizza gleicht einer strahlenden Grande Dame am Meer: ausladend die berühmte sieben Kilometer lange Promenade des Anglais, lebendig und bunt das Leben im malerischen Zentrum, charmant und verschroben die zahlreichen kleinen Gässchen mit ihren Bars und Antiquitätenläden. Es ist eine besondere Aura, die einem in dieser Stadt entgegenweht: vielfältig und friedvoll, quirlig und gemütlich zugleich.
„Die Atmosphäre hier ist so entspannt, dazu diese wunderbare Natur“, sagt Bringuier. „Das hält den Kopf sehr frisch.“ Wenn er Zeit hat, spaziert er an der Uferpromenade bis ins nächstgelegene Städtchen Villefranche-sur-Mer. Oder er stöbert in den vielen Kisten und Auslagen auf dem Büchermarkt vor dem Justizpalast.
Längst gilt Nizza als „grüne Stadt des Mittelmeers“. Parkanlagen bereichern das malerische Stadtbild, etwa die Promenade du Paillon, ein neu angelegter Park im Herzen Nizzas mit exotischen Pflanzen und Spielbereichen – noch ein Lieblingsplatz des umtriebigen Künstlers.
»Die Atmosphäre hier ist so entspannt, dazu diese wunderbare Natur. Das hält den Kopf sehr frisch.«
Vor gut 33 Jahren kam Bringuier hier zur Welt, verbrachte die Kindheit mit vier Geschwistern hier und fand in der Oper bereits früh sein zweites Zuhause, wie er sagt. Schon bald spürte er, dass er Musiker werden wollte, noch lag der Fokus auf dem Cello: Unterricht mit fünf, mit 13 Jahren ging er schließlich ans Konservatorium nach Paris und begann dort parallel zum Cello-Studium mit dem Dirigieren, das schon nach kurzer Zeit im Zentrum stand.
Rasch nahm seine Karriere Fahrt auf. Von 2006 bis 2013 war er Assistent von Esa-Pekka Salonen bei der Los Angeles Philharmonic, von 2014 bis 2018 leitete Bringuier das Tonhalle-Orchester Zürich. Als freier Dirigent ist er heute gut gebucht und weltweit unterwegs.
Doch auch Nizza hat ihn wieder an sich gebunden: In der Saison 2019⁄20 ist er als Artist in Residence an der Oper engagiert, dort, wo er schon als kleiner Junge in den Orchestergraben geblickt hat. Und beschert seiner neuen alten Heimat nun verschiedene Konzerte mit renommierten Kollegen und dirigiert Musiker, die er teilweise noch aus seiner Kindheit kennt.
Erst am Abend vorher hat er dort ein gefeiertes Konzert gegeben. Unter tosendem Applaus lief er mit federndem Schritt und konzentriertem Blick auf die Bühne, inszenierte Dukas« Zauberlehrling als gewaltige sinfonische Ballade und trat bei Ravels Klavierkonzert in innigen musikalischen Dialog mit der Solistin Hélène Grimaud, bevor er die Musik bei Strawinskys Le sacre du printemps mit markanter Gestik kraftvoll und archaisch bersten ließ.
»Man ist in Nizza immer von Menschen umgeben, und wenn ich unterwegs bin, treffe ich ständig Bekannte.«
Über das Phänomen des Dirigierens hat er sich in all den Jahren oft den Kopf zerbrochen: Natürlich seien Technik und absolute Präzision der Gestik von großer Bedeutung. „Das Allerwichtigste aber ist die Kommunikation mit den Musikern, und die geht nicht über Arme und Hände“, so Bringuier.
Bringuier selbst ist fraglos ein kommunikativer Typ: zugewandt, freundlich, verbindlich. Als Dirigent sieht er sich mehr als Kammermusiker denn als Anführer. Und auch wenn er in den Stunden vor einem Konzert die Stille sucht, meditiert und in sich geht, ist er sonst ein Freund der klangvollen, lebendigen Welt. „Ich brauche das um mich, die Leute, den Lärm“, sagt Bringuier. „Man ist hier immer von Menschen umgeben, und wenn ich unterwegs bin, treffe ich ständig Bekannte“. Auch in fremden Städten gehe er immer zuerst ins Zentrum und sauge den Puls des jeweiligen Ortes ein. Den von Nizza trägt er im Herzen.
Bringuier trinkt seinen Espresso aus, schiebt sich die Sonnenbrille auf die Nase und strahlt: „Lassen Sie uns zum Cours Saleya gehen, das ist einer der schönsten Plätze hier.“ Sagt’s und taucht mitten hinein in die üppige Vielfalt an Düften und Farben ein paar Meter weiter, wo sich Tische mit Lavendelseifen, Meeresfrüchten und Tomaten aneinanderreihen und die Händler ihre Waren anpreisen. Unzählige Male schon hat Bringuier diese betörende Mixtur aufgesogen; und nicht selten hat der Hobbykoch die Zutaten für das Abendessen dort erstanden.
»Aus Nizza ziehe ich meine Energie, aus den vielen Menschen hier, dem Leben in dieser Stadt.«
Nizza ist seine Heimat, sein Anker, seine Kraftquelle. „Aus ihr ziehe ich meine Energie; aus den vielen Menschen hier, dem Leben in dieser Stadt“, so Bringuier. Das Wichtigste sei für ihn die Balance zwischen Arbeit und Freizeit. Als international gefragter Dirigent ist Bringuier oft Zigtausende Meilen von seiner Heimat entfernt. Doch fast immer gelingt es ihm, nach einer intensiven Arbeitswoche wieder für ein paar Tage nach Hause zu fliegen in die bunte Stadt am Meer.
Noch schnell ein Abstecher in die Oper. Durch den Hintereingang geht es in den ersten Stock, vorbei an den Probenräumen in die noch dunkle Künstlergarderobe, in der sich Bringuier vor den Konzerten aufhält. Ein Griff zum Fenster, dann sind die Läden offen, Sonnenlicht fällt herein. Der Blick: direkt aufs Meer.
„Ist das nicht fantastisch?“, sagt Bringuier. Am Strand unweit der Oper hat er als Jugendlicher seine ersten Partituren studiert, nahe dem Meer harmonische und rhythmische Finessen durchdrungen. Noch heute sind die Flecken des Salzwassers auf dem Papier von Rimski-Korsakows Scheherazade zu sehen. Denkwürdige Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend. Reich an Sonne und Tönen.
Weitere Informationen und Auftrittstermine von Lionel Bringuier unter: www.lionelbringuier.com