Robert Pfaller
Die Geister, die wir doch gar nicht riefen
von Robert Pfaller
14. Februar 2023
Robert Pfaller diagnostiziert ein von Angst gesteuertes Verhältnis zum Genie und schafft einen neuen Geniebegriff, indem er Genie in Anlehnung an Platon, Blaise Pascal und die Psychoanalyse als Übertragung definiert.
In ihrem Verhältnis zur Kreativität zeichnet sich unsere Kultur durch eine auffällige Gegenläufigkeit aus. Einerseits beschwören wir die Kreativität als unverzichtbare Ressource der Produktion. Gemäß den Gesetzen des sogenannten „Kulturkapitalismus“ müssen nun immer mehr Waren, um teuer verkäuflich zu sein, nicht nur ihre jeweiligen Zwecke erfüllen, sondern darüber hinaus durch Design und Marketing mit allen möglichen Glücksversprechen und Prestigewerten, ja sogar mit dem Hauch ganzer Lebensstile – mondäner, umweltverträglicher, solidarischer, gesunder etc . – aufgeladen werden. Zugleich müssen unsere Berufe so beschaffen sein, dass wir in sie unsere ganze Kreativität einbringen können, weil wir sonst wohl kaum in der Lage wären, ein glückliches Leben zu führen.
Dementsprechend haben die sogenannten „Kreativberufe“ in den westlichen Gesellschaften massiv an Bedeutung gewonnen; eine wachsende Zahl von Menschen strebt sie an oder übt sie bereits aus, und ihre Produktion nimmt einen immer beträchtlicheren Teil der Bruttonationalprodukte ein. Darüber hinaus werden auch viele andere Berufe zunehmend nach dem Vorbild von Kreativberufen gestaltet: Flexible Arbeitszeiten, das gewünschte Einbringen eigener Ideen, die Erlaubnis oder Forderung an die Mitarbeiter, sich die eigene „job description“ selbst zusammenzustellen oder als „Ich-AG“ vom selbst finanzierten Home Office aus zu arbeiten, sind die bekannten, durchwegs ambivalenten Züge dessen, was die Soziologen Christian Boltanski und Ève Chiapello mit dem Begriff „Künstlerkapitalismus“ theoretisch gefasst haben.
»Geniekunst wurde zu einem Inbegriff männlicher Vorherrschaft«
Andererseits aber verhalten wir uns oft so, als wollten wir die Kreativität dort, wo sie auftauchen könnte, möglichst schon im Keim ersticken. Je mehr wir einerseits die Kreativität heraufbeschwören, desto mehr scheinen wir sie andererseits zu fürchten. Wir benehmen uns dabei geradezu so wie jene Kinder im Beispiel des Philosophen Blaise Pascal, die zuerst voller Neugier eine grässliche Fratze aufs Papier kritzeln, um dann selbst vor ihr zu erschrecken.
Dies zeigt sich zum Beispiel an unserem ängstlich gewordenen Verhältnis zum Genie. Wie in Heinrich Heines schöner Erzählung Die Götter im Exil geriet der einstige Gott Genius uns zum bösen Dämon. Plötzlich wurde „Geniekunst“ zu einem Schimpfwort – zu einem Inbegriff von traditioneller, männlicher Vorherrschaft und Willkür. Die Kunst musste darum, nach dem treffenden Wort von Wolfgang Ullrich, „tiefer gehängt“ werden. Ganze Kunsthochschulreformen waren der Austreibung des Geniebegriffs verpflichtet – es sollte zum Beispiel keine „Meisterklassen“ an den Akademien mehr geben. Es gibt sie zwar immer noch, weil die Lehre der Kunst eben in anderen Sozialverbänden vollzogen werden muss als jene der Wissenschaften, aber wenigstens darf man sie nicht mehr „Meisterklassen“ nennen. Wir Kinder Pascals sind ja schon froh, wenn es uns gelungen ist, die bedrohlichen Zeichen aus der Welt zu schaffen, und fühlen uns sicher, damit auch den dahinter vermuteten Dämon gebannt zu haben!
Auch ganze Theaterfestivals kämpfen heute gegen das Genie. Zum Beispiel, indem sie durch Verfügung einer 50:50-Quote den Preis für die beste Regie, ähnlich wie im Skisport, in eine Herren- und eine Damenklasse aufteilen. Dann gewinnen nicht mehr immer nur die Männer mit ihrem fehlgeleiteten männlichen Geniebegriff, sondern auch die Frauen, die keinen haben!
»Ist es so sicher, dass das Genie immer männlich ist?«
Fraglich ist, ob die Frauen dabei nicht mehr verlieren. Denn sie spielen nun nicht mehr mit den Männern in einer Klasse. Es ist ihnen darum, wie auch manche Skirennläuferinnen mitunter bedauert haben, nicht mehr möglich, sie zu schlagen. Gerade in dem Moment, in dem die Aufgabe der Regie auch für Frauen in größerer Zahl zugänglich geworden ist – und damit vielleicht auch das damit verbundene Geniale – schließt man die Frauen von alldem gleich wieder aus. Ist es denn so sicher, dass das Genie immer männlich ist? Warum sollen Frauen es denn nicht auch haben können? Und wenn eine Kunst ohne Genie besser ist als eine solche mit, warum soll sie dies dann nicht in einer gemeinsamen Wertung unter Beweis stellen können? Möglicherweise verhält es sich mit dem Verschwinden des Genies ganz ähnlich wie mit dem sogenannten Tod des Autors. Wie die psychoanalytische Kulturtheoretikerin Insa Härtel bemerkt hat, ist es doch eigentümlich, dass man genau in jenem Moment, in dem die Funktion der Autorschaft erstmals auch von einer großen Zahl von Frauen in Anspruch genommen wird, beschlossen hat, den „Autor“ für tot zu erklären.
Es war bei alldem übrigens auch nie ganz klar, ob es das Geniale gar nicht gab, oder ob man es nur verbieten musste. Darum machten wir sicherheitshalber beides: Wir glaubten selbstverständlich nicht mehr daran; und wir unternahmen alles Nötige, damit es nicht mehr vorkam.
»Vielleicht wäre es ein Ausweg, dem Genie unerschrockener in die Augen zu blicken«
Leider suchen auch andere Diven uns als Dämonen heim. Wir laden den Rapper Yung Hurn zur Eröffnung eines Kulturfestivals ein und empören uns, wenn er frauenfeindliche Texte singt. Dann fordern wir die Ausladung des Künstlers. Wir sind andererseits aber auch empört, wenn der Künstler Jonathan Meese bei einer Performance einmal nicht die Diktatur der Kunst ausruft und dazu den Hitlergruß macht, sondern einfach nur für seine Frau Mutter ein paar Blumen wie zum Beispiel das Usambaraveilchen malt. Wir wollen uns gerne mit dem Nimbus der Subkultur umgeben; nicht weil wir diese etwa mögen, sondern weil wir uns selbst gefallen in der Rolle offener, liberaler Geister, die sogar für so etwas Verständnis aufbringen können. Und dann besitzt diese Subkultur die Frechheit, tatsächlich subkulturell zu sein! Oder, noch schlimmer, sie ist es womöglich nicht! Da haben wir uns nun schon einmal daran gewöhnt – und dann empört sie plötzlich nicht! Wie empörend ist das denn! Freilich sind wir bei dergleichen not amused. Für eine Betrachtung von außen müssten wir aber ein ziemlich amüsantes Bild abgeben.
Vielleicht wäre es ein Ausweg aus derartigen Widersprüchen, solchen Dämonen wie dem Genie ein wenig unerschrockener in die Augen zu blicken. Dann zeigte sich, dass das Genie gar nicht (wie die Kritik annimmt) das persönliche Eigentum einzelner Künstler ist. Vielmehr wird es, zum Beispiel in Platons Dialog Ion, als etwas beschrieben, das von anderswo herkommt und fallweise durch die jeweilige Künstlerperson hindurch spricht, singt, tanzt, philosophiert etc.. Man ist kein Genie, und man besitzt es nicht; man wird (unter Umständen) von ihm besessen. Woher aber kommt es? – Keine schlechte Antwort auf diese Frage hat Blaise Pascal gegeben. Er schreibt: „Es gibt Leute, die gut reden und nicht gut schreiben. Das kommt, weil der Ort und die Zuhörer sie anfeuern und ihrem Geist mehr entlocken, als sie in ihm ohne diese Anfeuerung finden.“
Es ist eine aus dem Publikum kommende soziale Energie, welche die Kunstschaffenden zu ihren erstaunlichen Leistungen befeuert – ähnlich wie der Heimvorteil im Fußball oft Mannschaften zu erstaunlichen Erfolgen beflügelt. Freilich müssen die Kunstschaffenden ebenso wie die Spieler mit den dazu erforderlichen technischen Fertigkeiten ausgestattet sein. Anders ließe sich diese gesteigerte Energie nicht auf den Platz bringen oder in eine künstlerische Arbeit verwandeln. Aber sie müssen eben auch aufnahmefähig sein für diese zusätzliche, von außen kommende Energie. Geniale Kunstschaffende wären demnach diejenigen, welche die Fähigkeit besitzen, sich für die Energie ihrer Gruppe zu öffnen. Den entsprechenden Vorgang nennt man in der Psychoanalyse „Übertragung“. Der Genius ist die von der jeweiligen Gruppe an die vorführende Person übertragene Energie. Was uns an der Kunst begeistert oder uns abstößt, hat darum mehr mit uns selbst zu tun, als wir meist wahrhaben wollen. Darin liegt die gute Nachricht zum bösen Genie: Das Erstaunliche und das Empörende der Kunst sind nichts anderes als geschickt zur Darstellung gebrachte Effekte unserer eigenen Erwartungen – unserer Wünsche ebenso wie unserer Ängste.