Bernhard Forck u.a.
Der Reiz des barocken Off-Beats
von Michael Sellger
8. Juni 2015
Alte Musik auf historischen Instrumenten aufzuführen, war lange Zeit nur ein Anliegen weniger Nischenfreunde. Das ist längst vorbei: Alte Musik im Originalklang erfreut sich bei Künstlern und Publikum großer Beliebtheit.
Telemanns Ouvertürensuite Don Quixote veränderte Bernhard Forcks Leben – was weder zu pathetisch ist noch zu übertrieben. Er war ein junger Student, als er das Werk hörte, „eine Offenbarung“, wie der Violinist sagt: „Ich war wie geplättet über die rhythmische Kraft, das Klangspektrum, die drastischen, manchmal auch hässlichen Klangbilder.“ Forck beginnt, parallel Barockgeige zu spielen und schließt sich im zweiten Studienjahr der gerade erst gegründeten Akademie für Alte Musik Berlin an – er wird damit selbst zu einer Art Don Quixote, einem Idealisten, der einer längst vergangenen Welt verhaftet ist und der von anderen belächelt wird.
Anders als an seiner Hochschule sonst üblich, spielt er seine Barockgeige ohne Vibrato. „Damals hätte man damit kein Examen bestehen können“, sagt er. „Schlappseilvirtuose“ wird er manchmal genannt, weil die Darmsaiten seines Instrumentes weniger gespannt sind als die moderner Geigen. Doch Forck beherrscht den Spagat zwischen zwei Instrumenten und wird 1986 Mitglied des Berliner Sinfonie-Orchesters, das zwanzig Jahre später in Konzerthausorchester Berlin umbenannt werden soll. 1991, inmitten ungewisser Wendejahre, gibt er die Festanstellung auf, um sich alter Musik zuzuwenden.
»Ich kenne Orchester, die sich dem alten Repertoire über Quellenarbeit nähern.«
Heute schüttelt niemand mehr den Kopf, nicht über Töne ohne Vibrato, nicht über Barockgeigen und nicht über Forcks Drang, Alte Musik möglichst so spielen zu wollen, wie sie wohl einst gespielt wurde. Die Akademie für Alte Musik Berlin, der Forck noch immer als Konzertmeister angehört, hat im vergangenen Herbst den Echo Klassik gewonnen – nach Grammy, Grammophone Award und Diapason d’Or in den Jahren zuvor. Inzwischen fragen Musiker großer Orchester bei Forck häufig nach Workshops, weil sie mehr über historische Aufführungspraxis erfahren wollen. Das Interesse daran ist gewachsen, nicht nur in Berlin: „Ich kenne Orchester in Stuttgart und Wiesbaden, die sich für ihre Streicher Barockbögen angeschafft haben und sich dem alten Repertoire zunächst über Quellenarbeit nähern“, sagt Forck.
Conny Restle ist als Leiterin des Staatlichen Musikinstrumenten-Museums in Berlin Hüterin von 3200 Musikinstrumenten, einige von ihnen ein halbes Jahrtausend alt, viele von unschätzbarem musikgeschichtlichem Wert. Auch Restle spürt das wachsende Interesse vor allem junger Musiker an historischen Instrumenten, aus den Händen geben darf sie ihre Schätze allerdings nur ganz selten. Als Restle Studentin war, konnte sie sich in Kursen Gustav Leonhardts noch an originalen alten Musikinstrumenten ausprobieren, gleich drei dieser Instrumente musste sie für das Abschlusskonzert beherrschen.
»Musiker merken, dass moderne Instrumente Grenzen haben, wenn man historische Literatur spielt.«
Hinter der Bezeichnung „alte Instrumente“ stehen aber nicht nur die Exponate in Restles Museum. Gemeint sind damit auch detail- und klanggetreue Nachbildungen historischer Originalinstrumente, mit denen man dem Klang der Vergangenheit wirklich nahe kommen kann. Denn das Material der Originale altert und verändert ihren Klang, sie werden sich selbst mit der Zeit immer fremder. Neben Nach- gehören aber auch Rückbauten zu alten Instrumenten: Bernhard Forck etwa hat seine mehrfach modernisierte Barockgeige von 1740 wieder in einen Zustand versetzen lassen, der dem ursprünglichen so nah wie nur möglich kommt. Seine „moderne“ Geige ist sogar von 1702, wurde aber in den vergangenen drei Jahrhunderten mehrfach umgebaut, weil es veränderte Aufführungsbedingungen erforderten – größere Säle, größere Orchester.
Ob Nachbau oder Originalzustand – was macht den Reiz aus, das Rad der Musikgeschichte quasi zurückzudrehen? Ist es nur die Verlockung des Authentischen, das Sehnen nach dem vermeintlichen Originalklang? „Niemand weiß, wie alte Musik wirklich gespielt wurde, es gibt keine Aufnahmen, wenig schriftliche Ausführungen und viele regionale Unterschiede“, sagt Forck. Für Conny Restle hat es deshalb vor allem praktische Gründe, Musik mit den Instrumenten zu spielen, für die sie geschrieben wurde: „Viele Musiker merken, dass moderne Instrumente gewisse Grenzen haben, die hinderlich sind, wenn man historische Literatur spielt.“ Zwar seien alte Instrumente häufig sperrig und schwieriger zu beherrschen. Wer sich dem aber stelle, werde reich belohnt, sagt Restle und schwärmt von einem Kosmos vieler Farben und einer riesigen Bandbreite an klanglichen und dynamischen Möglichkeiten.
»Ich mag barocke Musik, weil sie geschrieben wurde um zu unterhalten.«
Von dem Cembalo, an dem er als 13-Jähriger zum ersten Mal saß, war Tilmann Albrecht zunächst wenig begeistert. „Das Cembalo ist ein bisschen verschrien, im Klang recht langweilig zu sein. Ich selber habe auch erst mit der Zeit festgestellt, wie viel man damit machen kann“, sagt er. Inzwischen ist Albrecht 23 Jahre alt und studiert Cembalo an der Universität der Künste Berlin. In seiner Jugend hat er sich selten auf seine Musikstunden vorbereitet und stattdessen Popsongs einstudiert. Vielleicht rührt daher auch sein Interesse am Cembalo und am Barock: „Ich mag die Musik, weil sie geschrieben wurde, um Leute zu unterhalten, und weil sie nicht den Anspruch hat, hohe Kunst zu sein, bei der Zuhörer stillsitzen müssen.“ Sie lasse sich zudem viel freier improvisieren, weshalb sie dem Wesen von Pop und Jazz ähnlich sei.
Auch Bernhard Forck spricht von der Notwendigkeit, zu improvisieren und eine persönliche Herangehensweise an alte Musik zu finden, der es an den peniblen Anweisungen und Randnotizen späterer Kompositionen oft fehle. „Die Musik gibt mir Freiheit. Ich habe viele Möglichkeiten zu gestalten und kann aus einer einzelnen Note eine Kette von vielen machen.“ So entstehe Musik, deren rhythmische Kraft geradezu körperlich spürbar sei und die viel Energie ausstrahle.
Das Publikum ist offenbar empfänglich für diese Energie. Zum 25. Mal werden im Oktober die Berliner Tage für Alte Musik stattfinden. Arnold Riesthuis half in den letzten Tagen der DDR zum ersten Mal, das Festival in der Französischen Friedrichstadtkirche am Gendarmenmarkt zu organisieren. Das Interesse, sagt Riesthuis, sei von Anfang an so groß gewesen, dass sich die Kirche schnell als zu klein erwies und man ins Konzerthaus nebenan ausweichen musste. Riesthuis kommt aus dem niederländischen Utrecht, das zu den europäischen Zentren Alter Musik gehört. Berlin hat in dieser Hinsicht noch Nachholbedarf, lacht er: „Vom Land Berlin sind wir bislang noch nie gefördert worden, die Kulturpolitik legt auf Alte Musik keinen besonders großen Wert“. Tatsächlich lebt das Festival von kleinen Ensembles statt bekannter Sinfonieorchester, und statt Weltstars treten vor allem junge Musiker aus ganz Europa auf. „Der älteste Künstler in diesem Jahr ist erst um die vierzig“, sagt Riesthuis. Auch das Publikum sei erkennbar jünger als das anderer Konzerte.
Was macht den Erfolg Alter Musik und ihrer möglichst authentischen Interpretation aus? Die Menschen, die sich ihr verschrieben haben, geben darauf unterschiedliche Antworten. Conny Restle vom Musikinstrumenten-Museum glaubt, dass es beim Publikum einen Abnutzungseffekt jener Musik gegeben hat, die seit hundert Jahren allenfalls mit interpretatorischen Nuancen gespielt wird. Es lechze geradezu nach Neuem, wie alt es auch sei. Die Lust auf neue Töne wird von alter Musik durchaus befriedigt, wie ein Blick in das Festivalprogramm zeigt: Es gibt kein eisernes Repertoire; Platzhirsche wie Bach und Telemann sind zwar vertreten, doch es überwiegen Komponisten, von denen in Deutschland nur selten zu hören ist – Mateo Flecha, Pietro Nardini, Louis Couperin, Giulio Caccini, Gaspar Sanz, Hermann Robert Frenzel.
Der Student Tilmann Albrecht spricht hingegen von den Off-Beats, die die Alte Musik auszeichneten. „Ich habe schon oft Konzerte mit begeistertem Publikum erlebt, weil wir die Energie der Musik übertragen konnten“, sagt er. Groove, Energie, Lebendigkeit – all das findet Albrecht im Barock genauso wie im Pop. „Vielleicht passt die Mentalität alter Musik besser in die Gegenwart“, sagt er.
Bernhard Forck schließlich, der einst mit Don Quixote zur Barockgeige fand, schätzt an Alter Musik, dass in ihr die Trennung von U- und E‑Musik aufgehoben sei und die Hemmschwelle zwischen dem Publikum und den unberührbaren Musikern im Frack beseitige. Neue Töne, improvisierende Musiker, entspannte Zuhörer: Die Zukunft scheint tatsächlich in der Vergangenheit zu liegen. Ein später Erfolg des Don Quixote.