Avi Avital, Hille Perl u.a.

Zurück in die Zukunft

von Stefan Sell

4. Juni 2015

Ausgerechnet der Neuen Musik ist es zu verdanken, dass alte und teils vergessene Instrumente plötzlich wieder in den Fokus der Aufmerksamkeit rücken.

Mit ihrem Gamben­spiel zählt neben zu den führenden Vertre­tern der Renais­sance Alter Musik. Unter dem Titel „Born To Be Mild“ führt sie ihr Instru­ment behutsam auf neue, elek­trisch verstärkte Wege. Nach wie vor erwei­tert auch die Neue Musik die Spiel­mög­lich­keiten alter Instru­mente. Sie begann schon früh, die schein­baren Grenzen mehr und mehr auszu­dehnen. Dem Spiel auf John Cages präpa­riertem Klavier gehen zwei, drei Stunden Vorbe­rei­tung voraus, in denen Fremd­körper aller Art auf, unter, zwischen und neben die Saiten drapiert werden. Trotz aller Verän­de­rungen: Das Klavier bleibt Klavier. Skor­da­turen, also von der Norm abwei­chende Stim­mungen, unge­wöhn­liche Anschlags­tech­niken, Bogen­füh­rungen und Streich­va­ri­anten fördern neue Klänge zutage. Alther­ge­brachte Nota­tionen wachsen, ange­rei­chert um viele Angaben und Symbole, zu kunst­vollen Zeich­nungen.

Neue Instru­mente wie Synthe­sizer, Drum­com­puter, MIDI-Gitarre, Theremin und Tenori-on betei­ligen sich am Spiel. In den 1940er-Jahren machte sich in Paris unter Pierre Schaeffer die Musique concrète daran, Alte Musik und vertraute Geräu­sche elektro-mecha­nisch zu zerlegen und verfremdet wieder zusam­men­zu­fügen. 1959 verjazzte Bach in der Reihe „Play Bach“, und kommen­tierte: „Play Bach is a good way to play Bach“. Mit Beginn der sieb­ziger Jahre setzte ein Trend ein, Alte Musik auf neuen Instru­menten zu spielen: Wendy Carlos präsen­tierte „Swit­ched-On Bach“ auf dem Synthe­sizer. Die hollän­di­sche Band Eksep­tion verwan­delte Klassik in chart­taug­li­chem Pop-Jazz, und Emerson, Lake and Palmer präsen­tierten Mussorgskys Pictures At An Exhi­bi­tion auf den Instru­menten einer Rock­band.

Daniel Hope spielt Antonio Vivaldis Vier Jahres­zeiten, „recom­posed“ von

1984 gelei­tete der eins­tige Karajan Assis­tent Thomas Wilbrandt mit seinem Orchester Vivaldis Vier Jahres­zeiten durch elek­tro­ni­sche Effekt­bahnen („The Elec­tric V.“), mit demselben Werk Vivaldis befassten sich 2012 Max Richter und der Ausnah­me­geiger Daniel Hope. Für die Reihe „recom­posed“ schrieb Richter eine Art Cover­ver­sion, nahm weg, fügte hinzu und vermischte die Vorlage mit eigenen Tönen. Sein Remix fand in der Partitur statt, und wie bei jedem guten Cover haben hier beide Platz: Vivaldi und Richter.

Und doch, den Ton geben in der Neuen Musik weiterhin die alten Instru­mente an, trotz Stock­hausen, Cage und Boulez. Entde­cker­freude und Forschungs­trieb voll suchender Neugierde beleben die Alte Musik. So gedeiht das Neue im Alten, ebenso wie das Alte im Neuen, beides befindet sich in stetiger Gleich­zei­tig­keit. Die Laute zum Beispiel: Sie hat sich auch in der Neuen Musik Gehör verschafft, etwa bei Vanished Days (2002) für Renais­sance-Laute, ein Werk des Münchner Kompo­nisten und Tonmeis­ters Robert Fabian Schneider. Den Entschwun­denen Tagen (op. 57,1) Edvard Griegs folgend, setzt er die Musik in einen para­doxen Kontext: Grieg wird in die Gegen­wart tran­skri­biert, durch die Wahl des Instru­mentes aber, das zudem mit Feder­kiel zu spielen ist, in eine Zeit vor den norwe­gi­schen Kompo­nisten gebracht. Die Musik reist „zurück in die Zukunft“.

Avi Avital spielt Avner Dormans Mando­li­nen­kon­zert.

Aus der Laute ging im 17. Jahr­hun­dert die Mando­line hervor. Vivaldi, Scar­latti und Beet­hoven beflü­gelte sie, Konzerte und Sonaten zu schreiben. Mozart ließ sie im Don Giovanni auftreten. Und in den letzten Jahren hat sie wieder ihr Podium. So ist im Kino­film Grand Buda­pest Hotel eine Vivaldi-Bear­bei­tung für Mando­linen (Trio Sonata in C Major, RV82) von Sieg­fried Behrend zu hören. Behrend war ein hervor­ra­gender Gitar­rist, der in neuerer Zeit dem Zupf­or­chester wich­tige Impulse gab. Der derzeit promi­nen­teste Vertreter für Mando­line kommt aus Israel und hat sich welt­weit zum Publi­kums­lieb­ling entwi­ckelt: Avi Avital. Er zeigt, wie virtuos das Instru­ment in der klas­si­schen Musik sein kann. Als erster Mando­li­nen­spieler wurde Avital für den Grammy nomi­niert. In dem Mando­li­nen­kon­zert (2006) seines Lands­manns offen­bart sich, wie leicht man die Band­breite dieses mandel­för­migen Instru­ments unter­schätzt. Der kali­for­ni­sche Gitar­rist und Mando­li­nen­spieler Buzz Gravelle eröffnet in seinem fünf­sät­zigen As It Rains (2011) für Solo-Mando­line stil­über­grei­fenden Expe­ri­menten den Raum. Ernst Krenek, Kompo­nist der Jazz­oper Jonny spielt auf, schrieb1989 gegen Ende seines Lebens noch eine ganze Suite für Mando­line und Gitarre (Op. 242).

Beim Cembalo sorgten anfangs Kiele aus Raben­fe­dern für gezupfte Töne wie bei einer Laute. Das Cembalo führte nach zwei­hun­dert glanz­vollen Jahren bis zum Ende des 19. Jahr­hun­dert ein Schat­ten­da­sein, die Renais­sance der Alten Musik und unzäh­lige Neukom­po­si­tionen bescherten ihm neuen Glanz. In den sech­ziger Jahren des letzten Jahr­hun­derts, als das Fern­sehen noch schwarz-weiß und die Programm­aus­wahl der Prämisse „aller guten Dinge sind drei“ folgte, da erwärmte die Titel­me­lodie von „Miss Marple“ die arbeits­müden Herzen mit Cemba­lo­tönen. Sogar verbeugt sich heute vor dessen Klang­bild. Viele neuen Kompo­si­tionen wie das Konzert für Cembalo (2002) von Philip Glass, Hunga­rian Rock (1978) oder Continuüm für Cembalo solo (1968) von oder Naama (1984) von enthalten Remi­nis­zenzen an ihre Vorläufer oder betonen das perkus­sive Spiel wieder­keh­render Schleifen.

Madri­gali für Cembalo von Klaus Treu­heit

„Ein Cembalo hat natur­gemäß keine Pedale, soll der Klang weiter­ebben, müssen die Finger die Tasten unten halten“, sagt der Kompo­nist Klaus Treu­heit, der mit den madri­gali 2 & 3 libro (2005) eine äußert moderne Einspie­lung schuf, in der er „die Reibung zwischen Inter­vall und Tonhöhe“ nutzt und durch „ein leichtes Präpa­rieren des Instru­ments mit Papier oder Zellu­loid sagen­hafte Ober­töne hervor­bringt.“ In ihrer Kürze und fehlenden Tempe­riert­heit erin­nern Treu­heits Stücke an Fres­co­baldi und Froberger, was aber Rhythmik, Harmonie und Into­na­tion angeht, fördern sie völlig neue Klänge zu Tage.

Aber auch die Block­flöte hat man gehörig entstaubt – immerhin gilt als das popu­lärste Block­flö­ten­stück Led Zeppe­lins Stairway To Heaven. Nachdem die Block­flöte ab der Mitte des 18. bis zum Beginn des 20. Jahr­hun­derts in einen Dorn­rös­chen­schlaf gefallen war, kam der im letzten Jahr verstor­bene Virtuose Frans Brüggen und küsste sie wach. Er wandelte leicht­füßig zwischen Alter und Neuer Musik. Barock­musik müsse „alle Höhen, Tiefen, Rauheiten und Profi­liert­heit“ haben. Für ihn schrieb der aus Ligu­rien stam­mende das Stück Gesti (1966) und forderte damit fast Unmög­li­ches, ein Stück voll perkus­siver Anblas­tech­niken, Stimm- und Gurr­lauten und Ampli­tu­den­spitzen, wie man sie nur aus der elek­tro­ni­schen Musik kennt, in der Beri übri­gens eben­falls zu Hause war. Louis Andriessen schrieb Brüggen mit Ende (1981) ein Zuga­ben­stück für zwei gleich­zeitig zu spie­lende Block­flöten.

Inzwi­schen ist ein Star dieser Szene. Sie selbst bezeich­nete sich einmal als „Enkel­kind“ Brüg­gens. Mehr­fach preis­ge­krönt hat sie, obwohl sie sich der histo­ri­schen Auffüh­rungs­praxis widmet, keine Berüh­rungs­ängste gegen­über Genre­grenzen und begeis­tert sich ebenso für zeit­ge­nös­si­sche Musik. 2009 spielte sie für das Schweizer Pop-Duo „Yello“ das Stück Takla Makan (2009) ein, viele verschie­dene Flöten, die mit Hilfe der Tontechnik später elek­tro­nisch bear­bei­tetet „wie zu einem kleinen Orchester wieder zusam­men­ge­führt“ wurden. Was also ist neu, was alt? In der Musik zumin­dest lässt sich diese Frage nur schwer, womög­lich gar nicht beant­worten.

Fotos: Harald Hoffmann