Ivor Bolton
Basel – kleine Stadt mit großer Kultur
von Christa Sigg
26. November 2021
Ivor Bolton ist seit der Saison 2016/17 Chefdirigent des Sinfonieorchesters Basel. Der Brite liebt die Stadt vor allem für ihr großstädtisches Flair und dafür, dass sie auf so wenig Platz so viel Kultur packt. Ein bisschen auch für ihre gemütliche Gastronomie. Und: für ihre sensationellen Läckerli natürlich.
Die Tür geht auf, und um die 50 Musiker des Sinfonieorchesters Basel verlassen zügig den Probensaal. Draußen, überm Picassoplatz, scheint die Herbstsonne. Jetzt noch ein bisschen Licht zu tanken, kann in diesem Job nicht schaden. Nur der Chef mag sich nicht so recht lösen – der Abstand auf dem Podium ist noch zu klären. Und am Ende soll es ja gut klingen. Was heißt gut? Perfekt natürlich.
Die Basler haben mit dem Stadtcasino einen frisch renovierten Konzertsaal, und dass die immer schon fabelhafte Akustik sogar noch einen Tick besser geworden ist, soll man auch hören. Die Lösung scheint gefunden, Ivor Bolton nickt staccatoartig, wie nur er es kann, ohne eine Gehirnerschütterung davonzutragen. Das Impulsive, die kurzen zackigen Gesten sind sein Markenzeichen – wenn er nicht gerade ein elegisches Adagio oder ein honigsüßes Amabile formt.
Mit einem „Sorry“ steht er plötzlich am Eingang: „Wir sollten gleich los, sonst fallen mir noch andere Details ein, und unser Mittagessen geht flöten“, sagt er. „Am besten zu Za Zaa runter an den Barfi“. So nennen die Einheimischen den Barfüßerplatz, das ist der zentrale Knotenpunkt der Stadt mit acht querenden Tramlinien. Die wichtigen Museen sind nur einen Katzensprung entfernt, in den umliegenden Cafés trifft man sich zum Apéro, und hier sollte die 2016 verstorbene Architektin Zaha Hadid den Stadtcasino-Komplex ins 21. Jahrhundert katapultieren.
Das Zusammenspiel von Alt und Neu
In Basel stößt man ständig auf das unangestrengte Zusammenspiel von Alt und Neu. Von Frank Gehry bis Tadao Ando haben hier zwölf Pritzker-Preisträger gebaut. Hadids provokative Beton-Glas-Stahl-Wucht im Herzen der Altstadt ging den Bürgern dann aber doch zu weit. Und nachdem das Projekt 2007 an den Wahlurnen gescheitert war, kamen die ausnahmsweise mal zweitplatzierten Jacques Herzog und Pierre de Meuron wieder ins Rennen. Zwei Ur-Baseler, die das historisch gewachsene Zentrum respektieren und nicht überall mit einem weithin sichtbaren Signalbau auftrumpfen müssen wie etwa mit der Elbphilharmonie in Hamburg. Zumal die Sanierung eines denkmalgeschützten Gebäudes Grenzen vorgibt. Aber das hat bei den beiden eine besonders originelle Form der Fantasie freigesetzt, die mit der duplizierten Fassade des neobarocken Altbaus beginnt und mit dem fulminanten neuen Foyer endet. Der Glanz der Belle Époque leuchtet wieder auf.
Im Za Zaa geht es dagegen gemütlich orientalisch zu. „Ich kann auf den Sofas sofort entspannen und dabei die Küche des Nahen Ostens genießen, für mich ist das eine Oase“, schwärmt Ivor Bolton und empfiehlt eine Auswahl Mezze und unbedingt das Tabulé mit Granatapfelkernen. Nach solchen Vorspeisen könne er immer noch dirigieren, vor Bruckner bräuchte es dann allerdings einen erfrischenden Spaziergang am Rhein entlang: „Man ist vom Probenraum aus schnell am Fluss, in Basel ist alles ganz nah und durch das Flair doch irgendwie großstädtisch“.
Neugier auf Kunst und Musik
Mit einiger Leidenschaft pflegen die Basler das Rheinschwimmen, und mittlerweile gehört diese alte Tradition auch zu den Touristenattraktionen. Beliebt ist die Zone zwischen der Dreirosenbrücke und dem Museum Tinguely, das wir nach einem abschließenden Mokka ansteuern. „Ein tolles Haus! Wenn ich Besuch habe, kommt der um Jean Tinguely nicht herum“, amüsiert sich Bolton. Die Reaktionen auf die kinetischen Skulpturen des Schweizer Künstlers seien jedes Mal begeistert: „Das Kind in uns wird angetippt. Wenn es rattert und die Maschinerie zum Laufen kommt, ist das wie vor einer Spielzeugeisenbahn“. Mit etwas mehr Zeit wäre Bolton an diesem Nachmittag auch gerne in Richtung Riehen, in den Vorort an der Grenze nach Baden hinausgefahren. Die Fondation Beyeler sei allein durch die Verschmelzung von Gebäude und weitläufigem Park die pure Poesie. Wer drinnen Claude Monets Seerosen betrachtet, muss den Blick nur ein wenig schweifen lassen und sieht draußen die echten Exemplare im Teich. Renzo Piano, der Architekt, hat sich auf die Kunst eingelassen, und nach seiner Eröffnung 1997 ist der Bau mit seinen exquisiten Ausstellungen bald zum meistbesuchten Museum der Schweiz avanciert.
„Ich bin jetzt fünf Jahre beim Sinfonieorchester und immer noch verblüfft, wieviel Kultur hier geboten ist“, sagt Bolton und blickt hinüber zum anderen Ufer auf die Altstadt, über der das Münster thront. Diese Neugier auf Kunst und Musik, das imponiere ihm sehr. „Unser Publikum kommt auch, wenn wir Zeitgenössisches im Programm haben“, erzählt er, „und während anderen Orchestern die Abonnenten davonlaufen, haben wir in der Krise sogar zugelegt“.
Grenzstadt am Rheinknie
In der Grenzstadt am Rheinknie ist auch das Mäzenatentum tief verankert. Von den 77,5 Millionen Franken, die die Sanierung des Stadtcasinos gekostet hat, kam gut die Hälfte von privaten Gönnern. Das Budget wurde übrigens eingehalten, für Schnickschnack ist man in der Schweiz nicht zu haben. Lieber wird gezielt investiert – etwa in scheinbar Simples wie Fenster. Jahrzehntelang musste man in Basel das Rumpeln der Trambahnen in Kauf nehmen, selbst das Zumauern der Fenster in den 1960er-Jahren konnte die Störung nicht verhindern. Wenn Bolton seine Musiker nun durch das Largo von Dvořáks Neunter, Aus der Neuen Welt lenkt, muss niemand mehr die Pianissimo-Stellen fürchten. Durch eigens für das Casino entwickelte Spezialfenster bleibt der Straßenlärm tatsächlich draußen.
„Dieser Saal gibt uns allen einen Kick“, versichert Bolton. Und das betrifft nicht nur die Sinfoniker. Basel ist mit Ensembles wie dem Kammerorchester und dem Barockensemble La Cetra bestens aufgestellt. Konkurrenz sei das nicht, schüttelt er den Kopf. Wie auch? Der 62-jährige Brite aus dem englischen Lancashire kommt schließlich aus der alten Abteilung. An der Bayerischen Staatsoper in München ist er als Spezialist für Cavalli, Händel und Mozart gefragt und dirigiert am liebsten vom Cembalo aus. Das liegt ihm seit Studententagen im Blut. Dann vergisst er alles um sich herum, lebt nur noch in der Musik – das hat ihm auch in Basel schnell die Sympathie des Orchesters eingebracht.
Afternoon Tea gegen Heimweh
Blitzartig ist Bolton dann auch wieder in der Realität: „Wir müssen noch Basler Leckerli besorgen, mein Sohn Samuel ist ganz scharf darauf“. In Basel heißen kleinen quadratischen Honigkuchen „Läckerli“ mit einem Ä, und die besten und selbstredend auch die teuersten gibt es im Läckerli Huus. An der Greifengasse, direkt an der Mittleren Brücke, im noblen Café Spitz, sitzt die schönste Filiale. Bolton kauft mehrere Packungen und lächelt leicht verlegen: „Ich mag die genauso, und sie halten lange… Nur nicht bei uns.“ Sofern er überhaupt zu seiner Familie fahren kann. Mit Sohn Samuel und Ehefrau Tess Knighton, einer Musikwissenschaftlerin, lebt Bolton vor allem in Spanien, in Madrid ist er außerdem Musikdirektor am Teatro Real. Doch jetzt sei das Reisen mühsam bis unmöglich geworden, und ja, er vermisse die beiden. Das sei der einzige Haken an seinem Traumjob.
Auf der anderen Seite der Brücke ist es nicht mehr weit bis zum Grand Hotel Les Trois Rois. „Wir haben uns eine Pause verdient“, findet Bolton. Die Ober kennen ihn, ein Chesterfieldsessel in der Bar ist ihm sicher. Basel sei nirgends so britisch wie hier beim Afternoon Tea, betont er. „Das hilft gegen jedes Heimweh.“
Weitere Informationen zu den Konzerten des Basler Sinfonieorchesters unter Ivor Bolton: www.sinfonieorchesterbasel.ch