Nachruf

Ein Mensch, der die Musik liebte

von Axel Brüggemann

18. Dezember 2018

Hans-Klaus Jungheinrich ist tot. Für viele war er der Musikkritiker, der Mann, der Ende der 60er, Anfang der 70er, ein neues, politisches, kritisches Feuilleton erfand.

Hans-Klaus Jung­hein­rich ist tot. Für viele war er der Musik­kri­tiker der „Frank­furter Rund­schau“, der Mann, der mit Peter Iden Ende der 60er, Anfang der 70er, ein neues, poli­ti­sches, kriti­sches Feuil­leton erfand. Ein großer, wenn nicht einer der größten Musik­kri­tiker. Ein einzig­ar­tiger Buch­autor. Ein Mann, für den die Musik, die Neue Musik allemal, ein Lebens­eli­xier war, ein Kritiker, dem es nie um das Kriti­sieren an sich ging, sondern darum, den Aggre­gat­zu­stand eines Abends, das Ich (nein, das „Wir alle“) im Großen und Ganzen aufzustö und gleich­zeitig das eigene Ego im Spiegel der Musik zur Dispo­si­tion zu stellen. Für mich persön­lich ist das anders: Es gibt es keinen anderen Menschen, dem ich beruf­lich so viel verdanke wie Hans-Klaus Jung­hein­rich. Er war, viel­leicht ahnte er das nie, so etwas wie der Anlass und die Ursache, dass ich ange­fangen habe und noch heute über Musik schreibe.

Ein Mensch, der die Musik liebte

„Es war ein grauer Tag, ich kam mit dem IC aus in an – endlose Straßen, eine neue Stadt, ich war nervös … “ Viel­leicht hätte so der Text ange­fangen, den Hans-Klaus Jung­hein­rich geschrieben hätte, wenn er als Ich von unserer ersten Begeg­nung geschrieben hätte. Er war ein Meister darin, das Äußere zum Bild des Inneren zu erheben. Und wenn er ich gewesen wäre, würde er ahnen, wie unend­lich groß und wichtig und vorbild­lich er, dieser weise, ältere Mann, auf mich, den jungen Studenten, gewirkt hat: Ein Meister, ein Lieb­haber der Musik – und, wie ich lernen sollte: ein einzig­ar­tiger Mensch.

Zum ersten Mal habe ich Herrn Jung­hein­rich – ich habe ihn nie geduzt, zu viel Ehrfurcht, immer! – am Telefon gehört, nachdem er einen meiner Texte, ohne dass ich es ahnte, veröf­fent­licht hatte. Ich war damals Student. Er längst eine der wich­tigsten Stimmen des deut­schen Musik­jour­na­lismus. Ich saß als Student in Frei­burg, er auf dem Thron der aufmüpfig-ehrwür­digen „Frank­furter Rund­schau“, „meiner“ Zeitung! 

Die Anschaf­fung eines Fax-Gerätes war damals eine der größten Inves­ti­tionen für mich. Eines Nachts schrieb ich einen Kommentar, es ging um ziem­lich absurde Speku­la­tionen, um die Nach­folge der . Ich schickte sie – zuge­geben etwas rotwein­selig – an alle Zeitungs-Faxnum­mern, derer ich habhaft wurde. Aber nix passierte. Zwei Tage später hörte ich eher zufällig ein Gespräch mit Wolf­gang Wagner im Deutsch­land­funk. Das Thema: Eine „Speku­la­tion“ in der „Frank­furter Rund­schau“ über Nach­fol­ge­ge­rüchte. „Die haben meinen Text geklaut“, dachte ich, war wütend, kaufte ein Exem­plar der Zeitung und sah, dass sie meinen Text tatsäch­lich gedruckt hatte, mit meinem Namen, eine Spalte lang – einfach so, ohne Rück­frage.

Ich rief in der Redak­tion an. Irgend­wann nahm tatsäch­lich Hans-Klaus Jung­hein­rich ab. „Ja, haben wir gedruckt, war gut.“ – PUNKT. „Wollen Sie auch Mal was anderes schreiben?“ – „Ja klar!“ – „Und, ach so, schi­cken Sie uns doch Ihre Konto­nummer.“

Äh? Was? Die Zeitung, die ich verehrte, der Kritiker, den ich vergöt­terte, hatte einfach so einen Text gedruckt? Von mir? Ohne mich zu kennen? Nein: Hans-Klaus Jung­hein­rich hatte ihn gedruckt. Einfach so. Weil er es wollte. Ohne Aufsehen. „Ja, äh …“, stot­terte ich am Telefon, „viel­leicht sollten wir uns erst einmal kennen­lernen?“. „Kommen Sie einfach vorbei“, hörte ich ihn sagen. Dann legte er auf. Heute weiß ich, dass er dabei geschmun­zelt haben muss.

Seine Stimme war wie seine Texte

Wenige Tage später saß ich im Zug. Die „Frank­furter Rund­schau“ hatte ihr Büro damals noch mitten in der Stadt. Vorbei am Empfang, hinauf mit dem Fahr­stuhl, durch lange Gänge in ein Zimmer, das über­zu­quellen schien: Mit Büchern in jeder Ecke, bis unter die Decke, auf dem Fußboden, irgendwo ein Schreib­tisch, eine Schreib­ma­schine, dahinter diese Mann mit dem grauen Bart und den grauen Haaren und dieser unglaub­lich leisen Stimme, diesem Sing­sang, bei dem man nicht wusste, ob er mit sich selber oder mit seinem Gegen­über sprach, mit dieser Stimme, die ihm seine Bücher und seine Artikel diktierte, dieser Stimme, die selber Musik war, kein großes Orchester, sondern eher eine einsame Flöte, ein Echo seiner selbst, eine Stimme, die alles was sie sang, längst hinter­fragt hatte und dennoch skep­tisch gegen­über ihren eigenen Töne blieb und dabei genüss­lich an einer Zigarre qualmte und mir erklärte, wie blöde es doch sei, dass in der Druckerei gerade diese groß­ar­tigen Setzer ersetzt würden, weil bald ja alles digital laufen würde, mir aber versi­cherte, dass die Gewerk­schaften das schon irgendwie regeln würden. Hans-Klaus Jung­hein­rich, einer, der die Moderne liebte, aber am Alten fest­halten wollte, wenn jemand unter dem Neuen litt. Hans-Klaus Jung­hein­rich, der mir irgend­wann über seine 68er, über das Linke an sich, über Ränke­spiele im Jour­na­lismus und das Vertrauen in die eigne Meinung so unend­lich viel erzählte. 

Hans-Klaus Jung­hein­rich hat stets geschrieben, wie er gespro­chen hat: leise. In seinem Pianis­simo war er beson­ders Auto­ritär – auto­ritär, weil er eine Auto­rität war, eine Auto­rität aus Wissen. In Wahr­heit war er der sanf­teste Mensch, den man sich denken kann. Auto­ritär, weil er jedes seiner Worte gewendet und gedreht hat, weil er bei jeder Wertung nach Bildern suchte, nach Vergan­genem und Gegen­wär­tigem, nach Neutra­lität und Meinung, nach Sinn und Sinn­lich­keit. Hans-Klaus Jung­hein­rich war kein Kritiker, der seinen Daumen hob oder senkte. Er selber war es, der die Scha­blone seiner Ästhetik immer wieder in alle Rich­tungen ausdehnte, weil er so unend­lich neugierig war.

Nicht selten begannen seine Rezen­sionen mit einer epischen Beschrei­bung seiner Anreise nach oder einer Zugfahrt in eines der vielen, vielen deut­schen Stadt­theater, die er leiden­schaft­lich besucht hat. Grund­lage all seiner Texte war eine Stim­mung, die zu einem Gemälde wuchs, zu einer Grun­die­rung seiner musi­ka­li­schen Einschät­zung. Mit Verlaub: So sehr große, alte Kritiker-Kollegen Genies darin waren, zu werten, so sehr war Hans-Klaus Jung­hein­rich der Meister darin, das Werten im Rahmen der Mensch­lich­keit, der Liebe, der Hingabe zur Kunst zu halten. Jeder Künstler war für ihn ein Gegen­über, und keinen strafte er mit Vernich­tung sondern ordnete ihn ein, erhob ihn zu einem heldi­schen oder tragi­schen Charakter seiner roman­haften Beob­ach­tungen. Hans-Klaus Jung­hein­rich war der Roman­cier der Kritiker. Empa­thisch. Mit klarem Kompass. Und dennoch offen.

Er stand über allem

Nach unserer ersten Begeg­nung in Frank­furt begann ich zu lesen, all seine Bücher: Über Diri­genten, über Neue Musik, später seinen Roman über die Symphonie. Und ich bekam nie zu viel von seinen Worten, von seinen Ausschwei­fungen, die nie ausschwei­fend waren, sondern poin­tierte Gemälde, Atmo­sphären, die mehr übe Musik erzählten als neutrale Kritiken im eigent­li­chen Sinne.

Und Hans-Klaus Jung­hein­rich war ein Förderer, der niemals um seinen eigenen Rang zitterte. Einer, der wusste, dass junge Menschen nicht genial sind, dass sie sich auspro­bieren müssen, dass nicht jeder ihrer Texte so 1A sein wird wie seine Kritiken, der damit lebte, dass die Imita­tion seines eigenen Stil in die Hose ging, der lobte, wenn man einen eigenen Weg bestritt, auch wenn der seinem eigenen entgegen stand. Einer, der kriti­sierte, der sich die Zeit nahm anzu­rufen, einzu­steigen in den fremden Text, der mich an die Hand nahm, ohne mich je verbiegen zu wollen, der akzep­tierte, dass ich in andere Rich­tungen galop­pierte als er, der mich beflü­gelte, befragte, moti­vierte, lobte und kriti­sierte, ohne, dass ich es ihm übel nahm.

Hans-Klaus Jung­hein­rich war viel mehr als ein Musik­kri­tiker. Er war ein Mensch, der sich nicht frater­ni­sierte sondern das Andere stehen­lassen konnte. Ein Jour­na­list mit großem Ego, dem es nie einfiel, das Ego des anderen zu beschneiden. Hans-Klaus Jung­hein­rich war ein Frei­denker, der das Frei­denken, egal in welche Rich­tung, span­nend fand. Hans-Klaus Jung­hein­rich stand einfach über allem!

Unsere gemein­same Geschichte ging übri­gens so weiter: Die BBC rief ihn an – wollte über die Bayreuth-Speku­la­tionen berichten, er gab dem Sender meine Nummer. Ich durfte später für die BBC über die Opern­land­schaft aus berichten, die WELT frage nach Texten – aber ich schrieb weiterhin für Hans-Klaus Jung­hein­rich und seine „Frank­furter Rund­schau“ – weil er mein Anfang war. Und weil er der Größte war!

Vor zwei Jahren habe ich ihn zum letzten Mal in Bayreuth getroffen. Er fragte mich über einen Elgar-Film, den ich gedreht hatte, wollte eine Kopie. Wenn wir uns trafen, habe ich immer wieder versucht, ihm zu erklären, wie wichtig er für mich und mein Leben gewesen ist. Er hat das stets über­hört und mich gefragt, was ich gerade treibe. Wir haben über seine Zeitung gespro­chen, über den Wandel des Print-Jour­na­lismus. Und ich glaube, er ahnte, dass er einer der Letzten seiner Art war. Aber er beklagte das nie. Er machte einfach weiter. Weiter. Und weiter. Und lächelte. Und sprach Leise über die Musik. Ach ja, und er trug immer unglaub­lich dicke Bücher – beson­ders gern Irving – in seinen Jackett-Tschen. Und er rauchte weiter seine Zigarren. Und schrieb – Wörter und Bilder wie sie keiner von uns schreiben kann.

„Im nebligen November sieht nicht viel anders aus als .“ Ein typi­scher Jung­hein­rich-Einstieg. Sein letzter Text in der „Frank­furter Rund­schau“ über György Kurtágs Beckett-Oper „Fin de partie“ an der Mailänder Scala vom 19. November. Nun ist Hans-Klaus Jung­hein­rich gestorben. Wie gern hätte ich ihn irgend­wann einmal in den Arm genommen und gesagt: „Wissen Sie eigent­lich, dass ich so vieles von dem, was ich bin, Ihnen zu verdanken habe, und Ihrer Art, und Ihren Texten?“ 

So habe ich es ihm nie gesagt. Es hätte ihn viel­leicht auch nicht inter­es­siert. Denn Hans-Klaus Jung­hein­rich hielt nicht viel von Pathos. Aber, lieber, verehrter Herr Jung­hein­rich, jetzt, da ich weiß, dass ich Sie auf dieser Erde, an unseren Opern­häu­sern niemals wieder­sehen werde, wird mir ganz anders. Ihre Zeitung, die „Frank­furter Rund­schau“ war schon lange nicht mehr, was sie einst war – aber Sie waren noch da. Was soll denn nun werden? Ich werde still. Und denke. Und danke. Danke, lieber Herr Jung­hein­rich, für all Ihre Texte und dafür, dass Sie mir ein so unend­lich wich­tiger, mensch­li­cher Mensch waren.