Konstantin Wecker
München – Isar – Sommer – Praterinsel
von Barbara Schulz
14. September 2021
Konstantin Wecker zählt zu den erfolgreichsten Liedermachern. „Nein, ich hör nicht auf zu träumen von der herrschaftsfreien Welt“, lautet sein Credo.
Konstantin Wecker zählt zu den erfolgreichsten Liedermachern. „Nein, ich hör nicht auf zu träumen von der herrschaftsfreien Welt“, lautet sein Credo. Am 4. Juni 2021 beginnt er im Circus Krone seine Tournee mit dem neuen Programm „Utopia. Eine Konzertreise“. Zu hören gibt es neue Lieder, Wecker-Klassiker sowie Texte und Gedanken von Dichtern der Räterepublik wie den Anarchisten und Antimilitaristen Erich Mühsam und Gustav Landauer. Geboren und aufgewachsen ist Wecker in München. Und hier wohnt er auch heute noch.
Sie gilt als Stadt der Schönen und Reichen, der Bussi-Bussi-Gesellschaft, der unanständig hohen Mieten. Und doch liebt man sie: für ihre entspannte Eleganz, für ihren lässigen Hedonismus, und dafür, dass sie sich immer noch ein bisschen schwer tut, den Weg aus der gemütlichen Tradition in die Moderne zu finden.
München – ein großartiges Lebensgefühl
Isar, Sommer, Praterinsel – in diesen drei Worten und Orten steckt die ganze Liebe, die der Münchner Liedermacher Konstantin Wecker (Titelfoto des Beitrags: © Thomas Karsten) für seine Stadt empfindet. Weil sie Sinnbild sind für die Seele dieser Stadt – und für ein großartiges Lebensgefühl.
Wo, wenn nicht nahe der Isar, sollte ein Spaziergang mit Konstantin Wecker in München beginnen? Tatsächlich treffen wir uns am Mariannenplatz, wo er aufgewachsen ist, mitten im Lehel – der „echte“ Münchner, also auch Wecker, sagt „Lechel“, was richtig ist, darum streitet man sich bis heute –, einem inzwischen recht gediegenen Stadtviertel. Einst eher ein Ort für Handwerker und Geringverdiener, wurde das Lehel zwar bereits 1724 eingemeindet, behielt seinen ursprünglichen Charakter aber lange bei. „Wir haben wie auf einem Dorf gelebt – völlig autark. Es gab ja alles. Heute ist es ein Zweitwohnsitzviertel reicher Anwälte. Nicht mehr lebendig wie damals“, beklagt Konstantin Wecker.
Und ja, die prächtigen Stuckfassaden der Gründerzeit, die Jugendstilbauten, die schicken, aber nicht hippen Restaurants und Cafés lassen keinen Zweifel zu: Hier, zwischen Isar, Altstadt und Englischem Garten stehen wir in einer der vornehmsten und teuersten Wohngegenden Münchens. Die Nähe zur Innenstadt, zur glamourösen Maximilian- und zur noblen Prinzregentenstraße, die beide abschnittweise zum Lehel gehören, hat eben seinen Preis.
Selbst die Lukaskirche, erbaut 1893 bis 1896 nach Plänen von Albert Schmidt, die den Mariannenplatz dominiert, ist von einer so auslandenden Opulenz und Größe, wie man sie von evangelischen Gotteshäusern eigentlich nicht kennt. Kein Wunder, dass sie – als einzige, fast vollständig erhaltene evangelische Pfarrkirche des Historismus in München – als „Münchner Dom der Protestanten“ gilt.
„Isar, Sommer, Praterinsel – das ist meine Kindheitserinnerung“, fasst Wecker zusammen. Neben der anderen Kindheitserinnerung, die er fast ein bisschen stolz nachschiebt: „Vater, Singen, Traviata sein“ – lange Zeit habe er mit seinem Vater die großen Liebesduette der italienischen Oper gesungen. „Zwar hatte mein Vater beruflich nie was mit dem Singen im Sinn, aber er hatte eine wunderschöne Stimme. Hört man sich jedoch die Aufnahmen an, die meine Mutter immer machte, ist interessant, dass ich meinen Vater schon als 11‑, 12-Jähriger musikalisch mitgezogen hab«. Was ihm fehlte, war die überragende Musikalität, die musikalische Emotionalität. Er war kein Pavarotti. Aber er hat jeden Tag solfeggiert und geübt und gesungen. Berühmt zu werden, war ihm gar nicht so wichtig, und seine Angst vor der Bühne war auch keine Voraussetzung für eine Karriere. Aber er war ja ein sehr begabter Maler und hatte da seine schönen Erfolge.“
Mit einem Bakunin-Buch in die Schule
„Aber ja, für mich bestand meine ganze Kindheit aus Sommer!“, erzählt Wecker. Und alles sei fußläufig gewesen: die Volksschule in der Herrnstraße, das Wilhelmsgymnasium in der Thierschstraße, Münchens ältestes und wohl schönstes Gymnasium, das bis heute als Élite-Schule bekannt ist. Wecker besuchte es nicht bis zum Ende: „Ich wurde gegangen. Ich hatte einen antiautoritären Vater, der 1914, also zur Zeit der schwarzen Pädagogik, geboren war. Meine Mutter war ein wenig strenger. Vor allem aber waren beide bekennende Antifaschisten – es war so ein Segen, in dieses Elternhaus geboren zu werden. Von daher habe ich die autoritäre Struktur des Gymnasiums und die vielen Nazis, die zu der Zeit noch unterrichteten, nicht ausgehalten. Ich bin damals mit einem Bakunin-Buch in die Schule gegangen – gelesen hatte ich noch nicht viel darin, aber ich wusste, Anarchie würde sie schocken. Und so war es ja auch.“
Dass er dennoch des Öfteren von zu Hause abgehauen ist, hatte demnach auch nichts mit seinen Eltern zu tun, sondern mit eben jenem autoritären System der Schule. „Ich wollte als freier Dichter leben, schon mit 14. Mit 12 hatte ich ja bereits angefangen zu schreiben – was ich im Übrigen meiner Mama zu verdanken habe. Die hat Gedichte geliebt und sie auch immer vorgetragen; nicht um mich zu belehren, sondern weil sie es so schön fand. Bei der Hausarbeit hat sie einfach Gedichte zitiert. Und so habe ich in der Bibliothek meiner Eltern gestöbert, die ganzen Romantiker gelesen und schließlich selbst angefangen zu schreiben wie sie. In der Pubertät kamen dann Trakl und die Expressionisten in mein Leben, Georg Heym und der Dadaismus. Literatur und Musik war also das, was mich bis zu meinem 18. Lebensjahr getragen hat.“
Doch noch ein Blick zurück auf die frühe Kindheit: „Sommer, das war der Blick auf die Lukaskirche, die immer mit ihrem herben Glockenschlag dräute – dank ihr brauchten wir zu Hause nie eine Uhr. Dann in der Badehose aus dem vierten Stock runter und über die damals quasi unbefahrene Steinsdorfstraße, rüber zur Praterinsel und in die Isar, in der mich meine Mama das Schwimmen gelehrt hat.“
Offiziell, wie unser Treffen nun mal ist, sind zum Glück weder Badehose noch ‑anzug als Dresscode gefordert, aber ansonsten hat der heiße Sommertag durchaus das Zeug, ausgesprochen „weckeresk“ zu werden, sprich: München so zu erleben, wie Wecker es als Kind erlebt bzw. gefühlt hat. Denn schon liegt sie vor uns, die Praterinsel, einst von Franziskanermönchen als Garten und zur Erholung angelegt und neben der Museumsinsel eine von zwei befestigten und bebauten Flussinseln in der Isar. Eine bewegte Geschichte hat sie hinter sich. Vergnügungspark, Sitz der Essig- und Schnapsfabrik Riemerschmid und diverser Kultur-Institutionen, Kneipen und Gaststätten ist es bis heute der Standort des Alpinen Museums und des Deutschen Alpenvereins sowie des Ministeriums für Unterricht und Kultus des Freistaats Bayern. Wer viel Geld für ein großes Event locker machen will, kann eine der großartigen Locations in der ehemaligen Schnapsfabrik anmieten und sich von Feinkost Käfer verwöhnen lassen.
Panta rhei – alles im Fluss
Weil aber München einfach München ist, schlendern wir vorbei an jungen und alten Lebenskünstlern, die sich in Liegestühlen der Sonne entgegenräkeln. „Ja, die Isar war schon prägend für mein Leben“, sagt Wecker, und dass er das nicht nur physisch, sondern auch in übertragendem Sinn des Panta rhei meine: Alles ist im Fluss.
Und so bleiben wir am Wasser, gehen die Isar entlang, lassen den Gasteig, das Kulturzentrum, hinter uns und das nur einen Katzensprung entfernte Müllersche Volksbad – auch dort war Wecker regelmäßig –, eines der schönsten Badehäuser Europas, erbaut in reinstem Jugendstil, in Richtung Englischer Garten. Heißt: Eisbach, (eine Ableitung der Isar). Und Chinesischer Turm. Er sei immer gern am „Turm“, „aber im Moment hat das ein wenig an Leichtigkeit verloren“, meint Wecker mit Blick auf die Einschränkungen durch Covid-19.
Aber der Eisbach … Da ist es halt wieder, das Wasser. „Von der Hirschau in Richtung Isar, da kommt eine Schleuse an der Isar. In die fließt der Eisbach. Und genau da waren früher die „Nackerten“. Ich war auch dabei. Das war „mein Isar-Erleben“. Und ist es irgendwie immer noch: „Nicht nur im Sommer. Schon im März oder auch im Winter – kaltes Wasser ist eine Grundessenz des Lebens. Also am besten sein Zeug an der Schleuse liegen lassen und zum Hilton hoch. Dann die große Runde bis zur Schleuse schwimmen. Heute muss man dafür nicht mehr nackt sein.“
Wir verlassen den Englischen Garten und machen uns schließlich dorthin auf den Weg, wo alles seinen Anfang nahm. Natürlich gab es da vorher Gisela, jene legendäre Chansonsängerin mit der gleichnamigen Kneipe in der Occamstraße 8, in der heute das Vereinsheim ansässig ist, eines der bekanntesten Münchner Kleinkunstlokale. Sie war später auch Geschäftsführerin im „Kaffee Giesing“, das Wecker 1984 eröffnete – damals „schrill, schick und szenig“, wie der Münchner Merkur schrieb. „So schließen sich Kreise“, lächelt Wecker. Dann die Kultkneipen „Chez Margot“ in der Nordendstraße, das „Fendstüberl“ in der Fendstraße, der „Marienkäfer“ in der Georgenstraße, die alte „Schwabinger 7“, liebevoll Schwasi genannt, das alte „Domicile“ in der Siegesstraße und viele andere Kneipen mehr.
Aber das erste „reine“ Wecker-Konzert fand in der Münchner „Lach- und Schießgesellschaft“ statt. Sammy Drechsel und Dieter Hildebrandt hatten die kurz „Lach und Schieß“ genannte Bühne in der Schwabinger Ursulastraße 1956 als politisches Kabarett gegründet. Sie bzw. seine Begegnung mit Dieter Hildebrandt und Sammy Drechsel war es auch, die Weckers Karriere geprägt hat. Dass er erzählt, sein späterer Freund Sammy hätte ihn u.U. mehr wegen seiner knackigen Figur als geeignet für den „FC Schmiere“ (Fußballclub der L&S, bei dem die Belegschaft prominente Gäste einlud) eingeschätzt und ihn deshalb singen lassen, ist die eine Geschichte. Die andere: „Hildebrandt war nicht nur ein Freund, er war auch mein Gönner und nahm mich immer zum ‚Scheibenwischer« mit. Überhaupt war ich am Anfang meiner Karriere mehr mit Kabarettisten zusammen, obwohl ich ja gar keiner bin. Es war die politische Haltung, die mir wichtig war.“ Ob das erste Konzert ausverkauft war? Wecker lächelt: „Als ich damals in dem Saal stand, dachte ich: Wenn du hier mal vor verkauftem Haus spielst, dann hast du’s geschafft.“ Das hat er, denn heute füllt er den Gasteig und den Circus Krone, vermutlich gut und gern auch zwei Mal.
Jedes Wort muss verstanden werden.
„Dabei war ich musikalisch gar nicht kompatibel mit der Musik von damals. Ich hatte ein Cello dabei, dafür aber kein Schlagzeug – das Publikum hätte meinen Text nicht mehr verstanden.“ Und dann sagt er diesen klassischen Wecker-Satz, den er vor allem jungen Liedermachern mit auf den Weg gibt: „Wenn ihr an das glaubt, was ihr singt, müsst ihr deutlich singen. Das ist wichtiger, als schön zu singen.“ Er wollte und will, dass jedes Wort verstanden wird: „Ich singe vertonte Gedichte – jedes noch so kleine nicht verstandene Wort wäre vergeudet.“ Aber natürlich habe damals jeder gemerkt, dass er aus der klassischen Ecke kommt. Die Polit-Szene, vor allem natürlich die marxistischen Gruppen, warfen ihm vor, Cello sei ein bourgeoises Instrument. „,Und die Gitarre nicht?«, habe ich gefragt. ‚Wo man den König angeschleimt hat mit Gitarren- und Lautenliedern.«“ Er hat sich durchgesetzt. Und mehr als das. Schmunzelnd sagt er aber auch: „Ich glaube, viele sind damals nicht wegen, sondern trotz meiner Musik gekommen.“
Auf alle Fälle kamen genug, um Hallen zu füllen. Und als die Rede auf den Circus Krone kommt, gerät Wecker geradezu ins Schwärmen: „Es war atemberaubend, das erste Konzert im Krone. Volles Haus! Ich bin ihm mein Leben lang schon als Künstler verbunden und werde dort auch mit „Utopia – Eine Konzertreise“ starten. Der Circus Krone ist immer mein Auftrittsort gewesen und irgendwie schon Teil meines Lebens. Immerhin habe ich dort zu meinem 50., zum 60. und zum 70. Geburtstag konzertiert.“ Leider lassen Zeit und Hitze einen Spaziergang in die Marsstraße im Stadtteil Neuhausen nicht zu.
Auch ist Schwabing hinsichtlich seiner Sozialisation als Künstler und Mensch natürlich viel wichtiger, und so bleiben wir erst mal: „Die Oma war in Schwabing – fast schon ein Tagesausflug vom Lehel aus, wenn wir mit der Tram in die Paradiesstraße gefahren sind. Wirklich kennengelernt hab ich es jedoch erst als junger Mann – bei den Schwabinger Krawallen. Da wurde es zu dem Viertel, das ich gern gehabt habt.“ Dass er hier seine ersten Versuche mit der Gitarre gemacht habe, erzählt er, mit 18 seine ersten Gedichte für Gitarre vertont habe, weil mit Klavier in all den Kneipen gar keine Chance für einen Auftritt bestanden hätte. Dass er dabei aber auch nur ein leidlich guter Gitarrist gewesen sei. „Das war die Zeit von Franz Josef Degenhardt und seinen Schmuddelkindern und von Georg Kreisler, dessen Musik ich damals kennengelernt habe. Da wurde mir bewusst, dass man auf dem Klavier alles viel besser machen kann – und Klavierspielen kann ich ja im Gegensatz zur Gitarre. Und so hab ich eine andere Chansonsängerin in der Nähe der Herrnstraße in einer wunderbaren Schwulenbar – damals natürlich noch verboten, aber das war ja das Reizvolle daran – auf dem Flügel zu den alten Friedrich-Hollaender- und Bert-Brecht-Liedern begleitet.“ Und: Da hat er auch seine ersten eigenen Lieder gesungen. Oder im kultigen „Song Parnasse“ in der Nähe vom Max-Weber-Platz. Dort allerdings noch mit Gitarre. Die Gage waren zwei, drei Bier – und das war schon gut bezahlt. Viel gelernt habe er in dieser Zeit, sagt Wecker, vor allem über die Lieder der 20er-Jahre. „Die lassen mich bis heute nicht los – Friedrich Hollaender und die Dichter der Räterepublik wie Erich Mühsam und Gustav Landauer sind jetzt auch Thema in meiner Utopia-Tour neben einigen von Mascha Kaléko.“
Inzwischen sind wir im Hofgarten angekommen. Angelegt 1615 trennt er mit der riesigen Anlage der Residenz die Münchner Altstadt zur Maxvorstadt ab. Zwischen den Arkaden, mit denen Maximilian I. seinen neuen Garten zur Ludwigstraße einhegen ließ, der Allerheiligen-Hofkirche und der Bayerischen Staatskanzlei an der Ostseite, liegt nicht nur einer der schönsten Renaissance-Gärten, dort hat sich auch einer der schönsten Rückzugsorte Münchens entwickelt. Im Sommer wie im Winter wird hier Boule gespielt, Touristen wie Einheimische sitzen auf den Bänken, die vor allem rund um den mittigen Pavillon im Sommer Schatten oder ganzjährig einfach nur Ruhe suchen. Wer im Tambosi vor dem Lokal auf der Odeonsplatzseite keinen Platz mehr bekommt, weil der Blick auf die Feldherrnhalle und die mächtige Theatinerkirche Sankt Kajetan einfach zu schön ist – ja, mehr München geht nicht –, sitzt beschaulicher auf der Rückseite an den Arkaden. Oder, wenn man zwischen der echten und der selbst ernannten Prominenz einen Tisch ergattern kann, in der wohl bekanntesten Bar, im Schumann’s an der Nordseite des Gartens. The one and only Barkeeper Deutschlands ist tatsächlich oft selbst anwesend.
Franz Schubert – der Ziehvater des Liedermachertums
„Auch hier habe ich schon gespielt“, sagt Konstantin Wecker und zeigt in Richtung Süden, hin zum Herkulessaal, im nördlichen Gebäude der Residenz. Hier finden vorwiegend klassische Konzerte statt, insofern sieht sich Wecker hier gar nicht so falsch aufgehoben: „Literatur und Musik war das, was mich bis zu meinem 18. Lebensjahr getragen hat. Mich hat nichts anderes interessiert.“ Letztlich sei auch Franz Schubert mit seinen sogenannten Kunstliedern der Ziehvater seines Liedermachertums. Hier sei die größte Lyrik der deutschen Literatur von einem genialen Musiker vertont worden. „Als die Beatles herauskamen, hab ich ziemlich arrogant gesagt, hört euch lieber das Beethoven-Violinkonzert an. Ich fand die zunächst langweilig.“ Und nicht zuletzt hatte Wecker ja auch ein paar Semester Gesang an der „Hochschule für Musik und Theater“ an der Arcisstraße studiert. „Klassischer Sänger aber wollte ich nicht werden. Ich hatte ja damals schon meine ersten Lieder und wollte mich eigentlich fürs Dirigentenstudium vorbereiten.“
Zudem habe er „schon vor dem Stimmbruch unglaublich viel Musik inhaliert“. Zunächst natürlich mit seinem Vater. Mit seinem Musiklehrer, der viele Aufnahmen von ihm mit der Knabenstimme gemacht habe – Schubert, Mozart und auch Haydn. Schließlich in der Sankt-Anna-Kirche – „ich war ja katholisch“ –, wo er viel an der Orgel aufgenommen habe. „Und auch zu Hause gab es nur Schellack-Platten mit der Callas und der Tebaldi – die haben mich damals interessiert, ich war ja Sopran. Später dann die Tenöre: Caruso, Beniamino Gigli, vor allem aber Jussi Björling. Er ist derjenige, der bis heute in meiner Seele alles anrührt, was man anrühren kann.“ Ja, so einer ist schon gut aufgehoben im Herkulessaal. Auch wenn die Moderne in der Musik nie das Seine war: „Ich habe ja auch angefangen, Komposition zu studieren. Und sofort wieder aufgehört, als ich gemerkt habe, dass jeder Ansatz einer Melodie verboten war. Ich bin aber Melodiker. Und so beschloss ich also: Wenn die große Kunst so auszusehen hat, dann werde ich halt Kleinmusiker.“ Ein paar Mal sei er auch zu den Donaueschinger Musiktagen (Festival für zeitgenössische Musik), um sich das anzuhören. Wahnsinnig rational sei das gewesen. „Auch Adorno, den ich eigentlich unglaublich schätze als Denker und aufrechten Mann, hat ja gefordert, Musik müsse rational sein. Verständlich aus dem irrationalen Erlebnis der Nazi-Zeit. Aber ich konnte damit nicht viel anfangen.“
Das größte Kompliment
Umso mehr bewunderte Wecker Carl Orff, auch, weil der den Mut hatte, melodiös zu komponieren. Entsprechend hat er bereits Anfang der 80er-Jahre von Orff inspirierte Kammermusik gemacht. „Ich wollte in meinem Leben drei Meister kennenlernen, die mich beeinflusst haben“, erzählt er. Henry Miller und Erich Fromm habe er nicht geschafft, weil sie zu früh gestorben seien. Carl Orff aber durfte er am nahegelegenen Ammersee besuchen. Er selbst hätte sich nie getraut, ihm zu schreiben. Das übernahm ein Freund von ihm. Und er wurde eingeladen. „Orff hatte sich richtig beschäftigt mit mir, bevor ich ihn besucht habe, hatte Lieder und Gedichte von mir gehört und gelesen. Er bat mich in den Arbeitsraum, in dem der Flügel stand, und dort kam es zu einem unglaublich schönen Erlebnis: Er war ja unglaublich bescheiden und wollte nicht hören, dass man ihn bewundert – was ich natürlich getan habe. Er unterbrach mich und sagte nur: ‚Jetzt spui, Bua.« Und ich spielte ‚Wenn der Sommer nicht mehr weit ist«. Da ging er um mich herum – er war schon sehr alt – und meinte: ‚Komisch Klavier spielst du, das hab ich noch gar nicht gehört so.« Aber es war nicht abwertend, eher so ‚Donnerwetter, so was gibt’s auch.« Und dann kam es: ‚Du bist koa Mozart, du bist koa Schubert – du bist der Wecker.« Das war das größte Kompliment, das ich je in meinem Leben bekommen hab.
Wir laufen weiter durch die Residenzstraße in Richtung Marienplatz, also dem Zentrum Münchens, vorbei am Nationaltheater am Max-Joseph-Platz, während Wecker erzählt. Schließlich schlägt er noch einen kleinen Abstecher vor: zur Michaelskirche, der Jesuitenkirche in der Fußgängerzone. Überhaupt gehe er gern in Kirchen, auch während der Tourneen seien sie ein wunderbarer Rückzugsort für ihn. „Aber hier in der Michaelskirche ist auch mein erster musikalischer Ort. Mein Klavierlehrer war hier Kirchenmusiker. Er war wirklich gut, weil er mich so frei unterrichtet hat, was besonders wichtig war für mich, weil ich ja schon sehr früh angefangen habe zu improvisieren.“
Und während wir den Rückweg antreten in Richtung Schwabing, um im Osterwaldgarten, eine der gemütlichsten Wirtschaften der Stadt direkt am Englischen Garten, noch ein Bier zu trinken, erinnert er sich und lacht: „Der Klavierlehrer sagte einmal: ‚Ach, der Mendelssohn, typischer Jude halt, klaut alles, was er kann.« Als Kind hab ich das so hingenommen. Erst viel später ist mir aufgefallen, dass er halt auch ein Nazi war. Aber das war einfach die Zeit …“
Weitere Informationen und Konzerttermine: www.wecker.de
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