L'Africaine am Opernhaus Halle
Aus Eins mach Vier
von Roland H. Dippel
19. Oktober 2018
Giacomo Meyerbeers von ihm selbst für Paris 1865 nicht mehr finalisierter Schwanengesang L'Africaine ist eine ganz große Oper mit satten Aufgaben für Chor und Ballett.
Giacomo Meyerbeers von ihm selbst für Paris 1865 nicht mehr finalisierter Schwanengesang L’Africaine ist eine ganz große Oper mit satten Aufgaben für Chor und Ballett. Seit der Chemnitzer Produktion unter Frank Beermann, die alle Lücken musikwissenschaftlich fundiert schloss, würdigt man diese vierstündige Partitur wieder als glamouröses Gesamtkunstwerk, das den Visionen Wagners keineswegs nachsteht.
Auf Sebastian Hannaks zweiter Raumbühne Babylon im Opernhaus Halle reiht sich dieses Wunder verblüffend anders in dieses phänomenale Mehrsparten-Happening. Man erlebt die europäische Repräsentationsgattung Oper aus der Perspektive westafrikanischer Künstler von heute. An der Oper Halle dreht man den Blick auf die in der Grand opéra zelebrierten exotischen Paradiese also einfach um. Das Bildungspaket steckt schon in der Inszenierung, nicht nur in den umfangreichen Begleitprogrammen. Die Spielleitung Thomas Goerges in Daniel Angermayrs Bühne und Kostümen realisiert etwas, was man früher „Konzert im Kostüm“ nannte. Unter der Dramaturgie Michael von Zur Mühlens, die sich durch für Subventionstheater bemerkenswerte Offenheit und Spontaneität auszeichnet, wird es insgesamt vier immer weiter von der Originalpartitur abrückende „Überschreibungen“ mit neukomponierten Teilen geben. Aber es geht nicht um die Visualisierung mit heutigen Inszenierungsmethoden, sondern darum, wie das „System Oper“ von Menschen erlebt wird, denen das europäische Ritual des Kunsterlebnisses durch ihre Prägungen fremd ist.
„Man erlebt die europäische Repräsentationsgattung Oper aus der Perspektive westafrikanischer Künstler von heute“
Alles steuert zu auf ein Finale, an dem das „Anarchistische Komitee zur Entkolonialisierung des Geistes“ tagt, bevor Romelia Lichtenstein in der Titelrolle Sélica durch den tödlichen Duft der Manzanillo-Blüten eigentlich ins Jenseits dämmern sollte. L’Africaine ereignet sich zwischen Interventionen von Lionel Poutiaire Somé (Textbuch, Video) und Abdoul Kader Traoré (Sound Design). In den Zuspielungen tragen auch Rosina Kaleab und Karmela Shako ganze Müllberge mitteleuropäischer Afrika-Klischees ab. Schamanische Zeichen verschmelzen mit Meyerbeers Oper. Der Perspektivenwandel hat System, die Enttarnung der rauschhaften Theatralik auch.
Im Rahmen des Kooperationsprojektes „I like Africa and Africa likes me – I like Europe an Europe likes me“ mit dem Fonds Doppelpass der Kulturstiftung des Bundes wird nach dem vierten Teil an der Oper Lübeck weitermodelliert, dort entsteht dann unter Mitarbeit von Akteuren aus Christoph Schlingensiefs Operndorf die Grundlage zu der ganz neuen Oper L»Europienne (Arbeitstitel).
„Die meisten Solisten glänzen mehr durch generösen Krafteinsatz als stilistische Kompetenz“
Ein gewaltiges Projekt also, mit dem das mittelgroße Opernhaus Halle Möglichkeiten der Interaktion bis an die Grenzen seiner Kapazitäten ausschöpft und damit den Anspruch auf die Rolle eines Kommunikationsmotors ernstzunehmend legitimiert. Vor allem Romelia Lichtenstein und die neue Sopranistin Liudmila Lokaichuk als ihre Liebesrivalin Inès zeigen sich den anspruchsvollen sängerischen Aufgaben gewachsen. Das Schimmern der Partitur mit ihren Bombast- und Smaragdklängen hört man allerdings nicht aus dem Graben der Staatskapelle Halle. Die meisten Solisten glänzen mehr durch generösen Krafteinsatz als stilistische Kompetenz. Und die sonst spannungsintensiven a‑cappella-Stellen im Wechsel mit Meyerbeers raffinierten Harmoniesätzen klaffen unter Michael Wendebergs Dirigat wie Kompositionslücken. Den gedanklichen Herausforderungen dieser „Auseinandersetzung mit den Ahnen“ ist es zu verdanken, dass man dieser Kulthandlung die Ansätze zur wohl kaum geplanten Opernparodie nicht verübelt. Im Panorama der Raumbühne Babylon geht unter, dass Meyerbeer sicher keine legitimierende Feier der Kolonialideologie beabsichtigte, der „stupid white man“ in der Gefühlskälte dieser Paraderolle für Startenor nur allzu genau erkennbar ist und in der bürgerlichen Oper immer genau das verherrlicht wird, was der herrschenden Konvention zuwider lief. Einem Teil dieser Fragen und Lücken stellen sich die nächsten Überschreibungen von L’Africaine. Das wird spannend.
In Halle folgen L’Africaine – Teil II: Boo a San Pkaminé (Versöhnung) am 16. und 25. Januar 2019, L’Africaine – Teil III: Piir a Sièn (Reinigung) am 24. und 29. März 2019, L’Africaine – Teil IV: Nisalb Lièfo (Verwandlung) am 21. und 29. Juni.