Alexandre Dratwicki
Venedig – Inspiration für Künstler jeglicher Genres
von Corina Kolbe
31. Mai 2022
Französische Klänge, Alma Mahlers kleines Paradies und ein idyllischer Aperitivo im Gewächshaus.
Den Palazzetto Bru Zane zu finden, erfordert einigen Spürsinn. Kaum hat man die Scalzi-Brücke nahe dem Bahnhof Santa Lucia überquert, verliert man sich schon im verwirrenden Labyrinth der malerischen Gässchen Venedigs. Geradeaus und zurück, noch mal über eine kleine Brücke und dann ein Kanalufer entlang, bevor man wieder irgendwo abbiegt. Hinter einer Tür in einer unauffälligen Steinmauer geht es durch einen bezaubernden Garten mit Steinputten zu einem kleinen Barockpalast. Seit 2009 wird hier das schier unerschöpfliche Œuvre vergessener Komponisten der französischen Romantik erforscht. Das Musikzentrum, das seine Schätze in Opern- und Konzerthäusern in Italien, Frankreich und anderen Ländern vorstellt, finanziert sich über eine Stiftung der französischen Mäzenin Nicole Bru.
Während der künstlerische Leiter Alexandre Dratwicki über all die fast vergessenen Fundstücke spricht, ist man zunächst einmal hingerissen von den prächtigen Wand- und Deckenfresken. Wie die musikalischen Wiederentdeckungen klingen, ist am Abend nur ein paar Schritte entfernt zu erleben. In einem reich geschmückten Saal der Scuola Grande San Giovanni Evangelisti singt die Sopranistin Judith van Wanroij Opernarien aus der Zeit von Napoléon Bonaparte, begleitet vom Quatuor Cambini-Paris. Neben Luigi Cherubini, Christoph Willibald Gluck oder Gaspare Spontini sorgen weniger bekannte Namen wie Jean-Baptiste Lemoyne oder Étienne-Nicolas Méhul für Überraschungen. Der Konzertort entbehrt nicht einer gewissen Ironie. Napoléon war zwar ein großer Förderer von Musik, insbesondere der italienischen Oper. Die Scuole, laizistische Bruderschaften, wurden jedoch unter seiner Herrschaft in Venedig aufgelöst und ihres Vermögens beraubt.
In der Nähe des Palazzetto, der auch Konzerte innerhalb der eigenen vier Wände veranstaltet, liegt die imposante Frari-Kirche. Dratwickis Kollegin Rosa Giglio begleitet mich zu einigen berühmten Kunstwerken wie Tizians leuchtend rot gekleideter Pesaro-Madonna oder der marmornen Grabpyramide des Bildhauers Antonio Canova. Ein kleiner Caffè in einer Bar auf dem Campo dei Frari, dann geht es schon weiter zum Museo Fortuny. „Ein magischer Ort“, schwärmt Rosa Giglio. In dem gotischen Palast lebte der spanische Künstler und Modedesigner Mariano Fortuny, dessen Familie 1889 von Paris nach Venedig zog. Von seiner Mutter erbte er die Leidenschaft für Samt, Brokat, Seide und Satin. Bühnenstars wie die Schauspielerinnen Sarah Bernhardt und Eleonore Duse oder die Tänzerin Isadora Duncan ließen sich von ihm einkleiden.
In einem Museum im ersten Stock, das nach langer Renovierung erst seit kurzem wieder geöffnet hat, sind Gemälde, Bühnenbauten, Gewänder und Stoffe ausgestellt. Fortuny, ein glühender Verehrer Richard Wagners, experimentierte auch mit einer neuen Lichtregie für das Bayreuther Festspielhaus. Giglio empfiehlt, bis ins oberste Stockwerk hinaufzusteigen. Von dort aus genießt man einen spektakulären Panoramablick über die Dächer der Lagunenstadt. Weiter den Canal Grande hinauf befindet sich der Palazzo Vendramin Calergi, wo Wagner 1883 starb. Heute kann man hier im Casinò di Venezia bei Roulette oder Poker sein Glück versuchen.
Auf der anderen Seite des Canal Grande, nicht weit vom Palazzetto Bru Zane, zeigt mir Rosa Giglio ein versteckt liegendes kleines Hotel mit einer faszinierenden Geschichte. Hier residierte einst die Witwe des Komponisten Gustav Mahler, eine Künstlermuse und skandalträchtige Femme Fatale. Als Alma Schindler kam sie 1897 zum ersten Mal nach Venedig, um mit ihren Eltern ein Konzert von Arturo Toscanini zu besuchen. Mit von der Partie war der Maler Gustav Klimt, der unsterblich in sie verliebt war. Anfang der Zwanzigerjahre – damals war sie verlobt mit ihrem späteren Ehemann Franz Werfel – kaufte sie ihr zweistöckiges Domizil nahe der Basilica dei Frari. „Ich träume davon, völlig abgeschieden vom Rest der Welt zu leben, in meinem kleinen Häuschen in Venedig“, schrieb sie. Den verwunschenen Garten mit Olivenbäumen und Magnolien nannte sie ihr „wahres Paradies“. Der Tod ihrer Tochter Manon, die 1934 in Venedig an Kinderlähmung erkrankte, vertrieb sie jedoch von diesem Ort. Die heutigen Besitzer des Hotels Oltre il Giardino wollen ihren Gästen eine Atmosphäre bieten, die an Alma Mahlers glückliche Tage in Venedig erinnert. Sechs individuell eingerichtete Zimmer mit Blick ins Grüne laden dazu ein, mitten im Trubel der Stadt eine Oase der Stille zu finden.
Wer beim Schlendern durch die Gassen Lust auf eine kleine Pause verspürt, sollte die traditionelle Pasticceria Tonolo in der Calle San Pantalon ansteuern. Kenner schwören auf Mürbeteigtörtchen mit Crème und Waldfrüchten, Windbeutel mit Vanille- oder Schokofüllung und Biskuitrouladen mit Zitronencreme. Nach der süßen Pause geht es im Zickzackkurs durch enge Sträßchen und über unzählige kleine Brücken und Plätze. Wer genug Zeit hat, darf sich die Gallerie dell‘Accademie mit ihren weltberühmten Gemälden und Skulpturen oder die modernen Kunstwerke in der Collezione Peggy Guggenheim nicht entgehen lassen. Ein paar Schritte weiter lockt hinter der Kirche Santa Maria della Salute die Punta della Dogana mit einem atemberaubenden Ausblick auf den Canal Grande, den Canale della Giudecca und das Becken von San Marco. Mit einer Gondel ist man schnell auf der anderen Seite am geschäftigen Markusplatz mit seiner Basilika und dem Dogenpalast. Um dem Trubel wieder zu entkommen, bietet sich die Riva degli Schiavoni am Wasser entlang in Richtung der Biennale-Gärten an und schon bald haben sich die Touristenmassen verflüchtigt. Zeit für einen Aperitivo in der Serra dei Giardini, einem alten Gewächshaus, gebaut 1894 für die Internationale Kunstausstellung, heute schönstes Ambiente für eine Bar und einen Blumenladen. Bei einem Aperol Spritz im Sonnenuntergang kann der Tag in einem Restaurant bei Spaghetti mit fangfrischen Muscheln und regionalem Weißwein ausklingen. Cin cin!