Xavier de Maistre
Donnernde Bässe, filigrane Linien und satte Akkorde
5. Juni 2015
Für Xavier de Maistre ist die Harfe eines der spannendsten Instrumente, und er fördert ihre Beliebtheit auch unter Komponisten, indem er Kompositionsaufträge für sie vergibt.
Wenn Xavier de Maistre etwas wirklich hasst – was an sich schwer vorstellbar ist angesichts seiner Höflichkeit und Kultiviertheit – wenn er also etwas nicht leiden kann, dann sind das Klischees. Verblüffenderweise hat es der elegante Franzose ausgerechnet auf einem Instrument zu Weltruhm gebracht, das vor Klischees nur so strotzt: der Harfe.
Ein blonder Harfen-Engel mit glitzernden Arpeggio-Flügeln aber wollte de Maistre nie sein, auch wenn er auf Plattencovern gelegentlich so inszeniert wird. Stattdessen gibt er beim persönlichen Treffen am Rande eines Konzerts in Hannover sehr deutlich zu verstehen, wie er sich selbst sieht: als engagierten Botschafter seines Instruments. „Viele Menschen wissen ja gar nicht, was in der Harfe für Klänge stecken“, stellt er in fließendem, charmant französisch gefärbtem Deutsch fest. „Sie kennen sie höchstens als Special-Effects-Instrument aus dem Orchester.“ Dabei kann die Harfe viel mehr: den Hörer in donnernde Bässe einhüllen oder mit einem leichten Windhauch umschmeicheln, filigrane polyphone Linien gestalten oder satte Akkorde platzieren.
Xavier de Maistres Kampf gegen Vorurteile begann schon in der Kindheit. Mit neun Jahren verguckte er sich bei der musikalischen Früherziehung in seine Solfège-Lehrerin, die Harfe spielte und sein Talent erkannte. Während andere Jungs Fußball kickten, übte er – ohne über das Image des vermeintlichen Fraueninstruments nachzudenken. „Heute wundere ich mich, dass ich mir diese Frage damals gar nicht gestellt habe. Manchmal denke ich, ich war ein bisschen wie Billy Elliot, der Junge in dem Film, der unbedingt Ballett tanzen will. Ich war halt schon immer ein Individualist. Ich wollte spielen, was niemand spielt.“ Belohnt wurde de Maistre nicht nur mit einer überragenden Karriere, sondern auch mit einem Umfeld, das, wie er lächelnd feststellt, zu neunzig Prozent weiblich ist.
Seine Eltern im heimischen Toulon (auf halber Strecke zwischen Marseille und Saint Tropez) standen der Musik allerdings zunächst skeptisch gegenüber und nötigten ihn, parallel Politische Wissenschaften in Paris und London zu studieren. Was Anständiges. Doch ihr Widerstand schwand im gleichen Maße, wie der Filius Auszeichnungen und Anstellungen einheimste: Mit nur 22 Jahren wurde er Soloharfenist beim Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, mit 24 Jahren bei den Wiener Philharmonikern. Dazwischen gewann er noch rasch den weltweit wichtigsten Harfenwettbewerb in der US-amerikanischen Universitätsstadt Bloomington, ins Leben gerufen von der legendär gestrengen Harfen-Päpstin Susann McDonald.
»Die Moldau ist mein Paradestück. Für das Rieseln und Rauschen des Wassers ist die Harfe ideal.«
Nach zehn Jahren bei den Wienern („das Mittelmeer habe ich schrecklich vermisst“) wagte Xavier de Maistre den Schritt in die Selbstständigkeit – entgegen der Ratschläge erfahrener Agenten, die meinten, als Solist ließe sich mit der Harfe kein Staat machen. Falsch gedacht. Heute lebt er mit seiner Frau, einer deutschen Musikerin, und der gemeinsamen Tochter wieder an der Côte d’Azur und spielt 80 bis 90 Konzerte im Jahr, fast alle mit renommierten Orchestern.
Auf dem Programm stehen dabei meist die großen Harfenkonzerte von Alberto Ginastera oder Reinhold Glière, aber auch Bearbeitungen von Klavierkonzerten – wobei sich nicht jedes Stück gleich gut eignet. Die Notation ist zwar dieselbe, aber wo der Pianist nur eine Bewegung machen muss, nämlich die Taste zu drücken, sind es für den Harfenisten drei: die Finger zwischen die Saiten setzen, die Töne spielen und mit dem Handballen abdämpfen, um diffuse Klangwolken zu vermeiden. Dazu kommt noch die flinke Fußarbeit für Vorzeichenwechsel (siehe Infokasten). Doch der spieltechnische Aufwand hält Xavier de Maistre nicht davon ab, auf seinem neuesten Album selbst Orchesterwerke wie Smetanas Moldau, Tschaikowskys Nussknacker oder Prokofjews Romeo & Julia überzeugend umzusetzen. „Nach fünf Aufnahmen mit Orchesterbegleitung meine erste Solo-CD“, freut sich de Maistre. „Die Moldau ist sicher mein Paradestück. Für das Rieseln und Rauschen des Wassers ist die Harfe einfach ideal.“
»Leider haben viele Komponisten Angst vor der Harfe, weil sie nicht wissen, was spielbar ist.«
Nur um ein Stück versucht Xavier de Maistre stets einen Bogen zu machen, obwohl er es sogar auf CD aufgenommen hat: das Doppelkonzert von Mozart, „in Wahrheit ein Flötenkonzert mit Harfenbegleitung“. Selbst als Riccardo Muti ihn dafür nach Paris einlud, lehnte er ab: „Ich habe gesagt: ‚Maestro, wenn wir ein Konzert zusammen spielen, dann sicher nicht Mozart.‘ Er hat natürlich die Augenbraue hochgezogen – er hatte wohl ein untertäniges Dankeschön erwartet. Aber wir haben dann Ginastera gemacht, und er war ganz begeistert.“
Inzwischen ist de Maistres Name prominent genug, um auch einmal Unbekanntes aufs Programm zu setzen oder sogar Kompositionsaufträge zu vergeben. Kommenden Herbst wird er ein neues Konzert von Krzysztof Penderecki uraufführen, im Folgejahr von Kaija Saariaho. Und er liebäugelt schon mit den nächsten Aufträgen: Thomas Adès und Magnus Lindberg stehen ganz oben auf der Wunschliste. „Leider haben viele Komponisten Angst vor dem Instrument, weil sie nicht wissen, was spielbar ist. Ich berate sie da aber gerne.“
»Ein Geiger hat seine Violine immer dabei. Ich kann die Harfe nicht so einfach mit aufs Hotelzimmer nehmen.«
Ein weiterer Vorteil seiner herausgehobenen Stellung in der Harfenwelt ist die Erleichterung der Logistik. Obwohl eine Harfe im Prinzip ein hochkant stehender Flügel ohne Holzverkleidung ist, müssen Harfenisten ihr vierzig Kilogramm schweres und 180 Zentimeter hohes Instrument immer selbst mitschleppen – im Gegensatz zu Pianisten, für die überall ein Klavier bereitsteht. In dieser Hinsicht besteht eine gewisse Wesensverwandtschaft mit den Kontrabassisten, für die die Anschaffung eines Kombis ebenfalls zwingende Voraussetzung für die Berufsausübung ist. De Maistre greift darum auf mehrere Instrumente zurück. Bei Konzerten in Frankreich und Spanien reist er mit seiner eigenen Harfe an; für den deutschen Raum hat er ein Zweitinstrument in der europäischen Filiale des führenden Herstellers Lyon & Healy in Remagen deponiert. In Übersee oder der Schweiz mit ihren strengen Zollbestimmungen spielt er meist auf den Harfen der lokalen Orchester. Das einzige Problem ist die Abstimmung: „Ein Geiger hat seine Violine immer dabei und kann jederzeit üben. Ich weiß nie, wann genau meine Harfe ankommt. Und ich kann sie auch nicht so einfach mit aufs Hotelzimmer nehmen.“
Immerhin hat er keine Probleme mit den Fingerkuppen, einer weiteren klassischen Harfen-Problemzone. Zu wenig Hornhaut verursacht beim Spielen schmerzhafte Blasen, zu viel Hornhaut und zu wenig Fleisch verhärten den Klang. „Da habe ich einfach Glück gehabt“, lacht Xavier de Maistre und hebt entschuldigend die Schultern. „Fühlen Sie mal. Ganz weich, kaum Hornhaut. Und ich benutze kaum Crème. Selbst nach zwei Wochen Surfen im Sommer kann ich direkt wieder einsteigen. Recht groß sind meine Hände auch, praktisch für große Intervalle. Womöglich wäre ich auch ein guter Pianist geworden.“ Allerdings wäre sein Leben als Solist dann vermutlich deutlich weniger aufregend verlaufen – und die Harfenszene wäre um einen zentralen Protagonisten ärmer.
Auftrittstermine und weitere Informationen zu dem Harfenisten Xavier de Maistre auf: www.xavierdemaistre.com