Anne Teresa De Keersmaeker

Anne Teresa De Keersmaeker

Die Kompo­si­tion der Bewe­gung

von Rita Argauer

15. Februar 2024

Die belgische Choreografin Anne Teresa De Keersmaeker gilt als eine der wichtigsten Tanzschaffenden ihrer Generation – immer mit radikalem Willen zur Neuerung und untrüglichem Stilbewusstsein.

Stil­prä­gend ist bei Anne Teresa De Keers­maeker mehr als nur ein Wort, es ist buch­stäb­lich zu verstehen. Mit ihrer Kompanie Rosas schuf sie einen neuen Stil und prägte damit die Stel­lung des zeit­ge­nös­si­schen Tanzes von den 1980er-Jahren bis heute. Darüber hinaus grün­dete sie in Brüssel eine Schule für zeit­ge­nös­si­schen Tanz, um die Form ihrer Kunst über Gene­ra­tionen weiter­zu­geben.

Beim Festival ImPuls Tanz in Wien wurde im Sommer 2023 Ihre ikoni­sche Choreo­grafie Fase gezeigt – das Stück, mit dem Sie 1982 erst­mals inter­na­tio­nale Aufmerk­sam­keit erregten. Jetzt, 40 Jahre später, lief die Auffüh­rung von Fase in Wien unter dem Label ImPuls Tanz Classic. Wie fühlt es sich an, ein Klas­siker zu sein? Vor allem für jemanden, der immer mit all den klas­si­schen Bewe­gungen gebro­chen hat?

Viel­leicht hat man Fase als Klas­siker im Festi­val­pro­gramm bezeichnet, weil es dort nicht zum ersten Mal gezeigt wurde? Wie auch immer, es stimmt, das war meine erste öffent­liche choreo­gra­fi­sche Arbeit, und sie wurde mitt­ler­weile unzäh­lige Male von vielen verschie­denen Tanz­ge­ne­ra­tionen von Tänze­rinnen und Tänzern aufge­führt. Einige der choreo­gra­fi­schen Prin­zi­pien, die ich in den mehr als 60 Arbeiten mit Rosas entwi­ckelt habe, gehen auf Fase zurück. Aber es stört mich nicht, als Klas­siker oder als Teil einer Tradi­tion wahr­ge­nommen zu werden. Ich habe Tradi­tion niemals als Problem oder Wider­spruch wahr­ge­nommen. Viel­mehr habe ich immer Rück­be­züge gesucht, um daraus die Zukunft zu kreieren.

In den vergan­genen Jahren setzen Sie immer wieder die Musik von Johann Sebas­tian Bach ein – für klas­si­sche Musiker der Grad­messer für Musi­ka­lität. Warum tun Sie das, und wie gehen Sie mit Bach um?

Da stimme ich zu: Bach nimmt einen beson­deren Platz in der west­li­chen Musik­ge­schichte ein. Und zwar aus vielen verschie­denen Gründen. Für mich persön­lich ist Bachs Musik oft eine Einla­dung zur Bewe­gung. Sie ist sehr struk­tu­riert, ohne syste­ma­tisch zu sein. Da ist eine so unge­wöhn­liche Klar­heit in seinen Kompo­si­tionen – sowohl in den großen Bögen als auch in den Details. In Bachs Musik hallt eine Viel­zahl von mensch­li­chen Erfah­rungen und Emotionen wider, die man als Hörerin spürt, auch wenn man sich nicht zwangs­läufig damit iden­ti­fi­ziert. In seiner Musik ist etwas univer­sell Mensch­li­ches, etwas fast „Himm­li­sches“.

»Wir stehen vor den ökolo­gi­schen und poli­ti­schen Konse­quenzen des Kapi­ta­lismus«

Sie haben immer auch Sprache und „Spoken Word“ als „Musik“ für Ihre Arbeiten benutzt. Wie ist es, Tanz in Rela­tion zu etwas so Konkretem wie Sprache zu setzen?

Ich habe immer wieder mit Sprache gear­beitet. Zuletzt habe ich verschie­dene Stücke von Shake­speare als Ausgangs­punkt für neue choreo­gra­fi­sche Arbeiten genommen. Und bis zu einem gewissen Punkt funk­tio­nieren diese Texte formal tatsäch­lich wie eine Partitur. Ein Text kann, ähnlich einer Kompo­si­tion, eine Art Archi­tektur bieten. Jedoch muss man hier eben auch andere Infor­ma­ti­ons­ebenen beachten, die Semantik, die Bedeu­tung und Bezeich­nung von Worten. In einer Choreo­grafie können solche Texte dann wie ein geheimes Narrativ funk­tio­nieren, wie eine unaus­ge­spro­chene, darun­ter­lie­gende Ebene. Was für mich aber am wich­tigsten ist, wenn ich die Arbeit an einem Stück beginne, ist die Viel­fäl­tig­keit der Einflüsse: Musik, aber auch Text und Bilder.

Welche Arbeit ist für Sie einfa­cher: die mit Musik oder die mit Text?

Der Ansatz ist einfach ein völlig anderer.

Sie gehören zu den etablier­testen lebenden Choreo­grafen. Sie haben eine Schule gegründet. Ihre Werke sind Klas­siker. Was kommt noch?

Kreativ weiter­ma­chen. Dabei möchte ich verschie­dene Wege auspro­bieren, das Reper­toire der Rosas an neue Tanz­ge­ne­ra­tionen weiter­zu­geben. Ich habe den Wunsch und spüre auch eine mora­li­sche Pflicht, Möglich­keiten für junge Künstler zu schaffen. Ich habe Musik immer als meinen ersten Partner verstanden, wenn ich an einem neuen Stück arbeite. Aber in den letzten zehn Jahren hat zuneh­mend auch die bildende Kunst eine Rolle gespielt. Auch das würde ich künftig gerne fort­setzen. Die größte Heraus­for­de­rung aber ist: Wie verhalten wir uns als mensch­liche Wesen und Einwohner dieses Planeten zu der ökolo­gi­schen Kata­strophe, die vor uns liegt? Wie werden wir mit acht Millionen Menschen auf diesem Planeten über­leben? Wo ist die Grenze des Wachs­tums und wie können wir dahin kommen, wo es nicht mehr nur ums nackte Über­leben geht? Wir stehen vor den ökolo­gi­schen und poli­ti­schen Konse­quenzen des Kapi­ta­lismus, voller Konflikte und mit extremer Gewalt. Wie posi­tio­niert sich da die Kunst? Wo liegt die Rolle von Tanz, Theater, Musik oder bildender Kunst, wenn wir Künstler uns fühlen, als seien wir bereits auf einem sinkenden Schiff? Manchmal fühle ich mich, als sei ich Teil des Streich­quar­tetts, das auf der unter­ge­henden Titanic immer weiter­spielte. Das ist die größte Heraus­for­de­rung: Wir müssen heraus­finden, was es jetzt, in dieser Situa­tion, zu tun gilt.

Und welche Inno­va­tionen, welche künst­le­ri­schen und tech­ni­schen Neue­rungen inter­es­sieren Sie? Was wollen Sie und was erwarten Sie von Ihren zukünf­tigen Stücken?

Die größte Inspi­ra­ti­ons­quelle, die ich habe, ist die Beob­ach­tung der Natur. Und das in all ihren sehr unter­schied­li­chen Ausdrucks­formen.

Fotos: Johan Jacobs