Jonathan Tetelman

Voll auf Droge

von Dorothea Walchshäusl

1. Februar 2024

Senkrechtstarter und Meister der ­Verwandlung – der chilenisch-­amerikanische Tenor Jonathan Tetelman ist beides. Mit seinem neuen Puccini- Album verneigt er sich anlässlich des 100. Todestages im November 2024 vor seinem Lieblingskomponisten.

Keine Frage, Jona­than Tetelman ist längst ein Opern­star. ­
Auf der Bühne trifft man ihn persön­lich aller­dings selten an. Statt­dessen begegnen einem dort Rodolfo, Pinkerton oder Cava­ra­dossi, mal elegant, mal verspielt, mal voller Emotion. „Es ist, als würde ich für einen bestimmten Zeit­raum ein anderes Leben leben“, sagt Tetelman. „Ich bin sehr fokus­siert auf diese Person und die ganze Zeit über in meiner Rolle, selbst während der Pausen.“ Zu Jona­than Tetelman, 35 Jahre jung, wird er erst wieder, wenn er ganz am Ende von der Bühne geht. Eine Alter­na­tive zu dieser Persön­lich­keits­auf­lö­sung gibt es für ihn nicht. „Es ist der einzige Weg, wie ich stimm­lich bestehen kann. Als Sänger erzähle ich schließ­lich eine Geschichte, und da kann ich nicht während­dessen darüber nach­denken, was ich zu Mittag essen möchte.“

Es liegt nicht zuletzt an dieser Hingabe und seiner Präsenz im Moment, dass sich Tetelman mit seiner betö­rend warm schwin­genden Stimme in den vergan­genen Jahren einen Namen gemacht hat. Smart und gut ausse­hend hat er außerdem das zu bieten, was einen Senk­recht­starter wie ihn erst richtig inter­es­sant macht: eine echte Story und die Geschichte einer hart erkämpften Wand­lung – auf­regendes Nacht­leben und Erwe­ckungs­mo­ment inklu­sive.

Ein Blick zurück. Die Mutter sang ihn ­in den Schlaf, der Vater legte Vinyl­platten auf, und Tetelman liebte deren unkom­pri­mierten, dichten Sound. Seine eigene Leiden­schaft für den Gesang wurde im tourenden Jugend­chor der American Boy Choir School geweckt, später wech­selte er an die High­school und begann dann sein Studium als lyri­scher Bariton an der Manhattan School of Music, das er mit 24 Jahren abschloss. Doch trotz Zeugnis fehlte Tetelman der Plan. „Ich hatte zwar dieses Stück Papier in der Hand, aber keine weiteren Perspek­tiven.“ Er sang kaum noch und versuchte sein Glück als DJ und Promoter in einem New Yorker Nacht­club.

»Als Tenor zu singen, erfor­dert einen anderen Vorgang des Denkens«

Und da war er auf einmal, jener Moment, in dem ihm klar wurde, wie sehr er die Musik vermisste. „Ich fühlte mich völlig verloren – es war, als ob ein Stück von mir fehlen würde“, erzählt Tetelman. Damals erkannte er auch, dass seine Zukunft, wenn, dann als Tenor gelingen könnte. Was folgte, war eine aben­teu­er­liche Wand­lung. Tetelman kündigte seinen Job im Nacht­club, suchte sich einen Lehrer und arbei­tete an der musi­ka­li­schen Meta­mor­phose – mit Erfolg. Wiewohl der Weg zum Tenor nicht nur ein physi­scher Prozess war. „Als Tenor zu singen, erfor­dert einen anderen Vorgang des Denkens“, sagt Tetelman. „Es ist nicht nur körper­lich. Es ist ein mentaler Prozess, durch den man hindurch­gehen muss.“

Dass er heute die großen Partien ausfüllen kann, kommt für den akri­bi­schen Arbeiter nicht von unge­fähr. „Wo ich jetzt bin, das ist eine Bestä­ti­gung für die harte Arbeit, das sprich­wört­liche Blut, den Schweiß und die Tränen, die ich in meinen Gesang, meine Kunst und meine Stimme inves­tiert habe“, sagt Tetelman – nicht ohne Hang zum Pathos.

Auch wenn der Künstler damals sein Talent im Kurz­stre­cken­lauf bewiesen hat – was die weitere Karriere anbe­langt, hat er längst erkannt: „Eine Opern­kar­riere ist kein Sprint, sondern ein Mara­thon, und dafür braucht es enorm viel Diszi­plin und Gespür.“ Im Moment scheint er beides zu haben, und die aktu­ellen Termine mani­fes­tieren seine Entwick­lung. Im Sommer 2023 sang er bei den Salz­burger Fest­spielen, im Herbst in Berlin, im Früh­jahr 2024 wird er sein Debüt an der Met feiern.

Enger Wegbe­gleiter, Seelen­ver­wandter und Lieb­lings­kom­po­nist ist für ihn Giacomo Puccini, am liebsten live und mit Haut und Haaren. „Der Musik Puccinis gehört mein Herz. Sie ist aufre­gend, wunder­schön und emotional über­wäl­ti­gend“, schwärmt Tetelman. Die Charak­te­ri­sie­rung der Rollen, der Orches­ter­part und die Hand­lung würden eine nahezu realis­ti­sche Atmo­sphäre und drama­ti­sche Dichte entstehen lassen, die mit kaum etwas vergleichbar sei. Diese auszu­deuten, empfindet der Inter­pret als unge­heuer heraus­for­dernd: „Einer­seits muss man seine Gefühle kontrol­lieren, um über­haupt noch singen zu können. Ande­rer­seits lebt man sie gleich­zeitig intensiv aus und steht ein echtes Drama durch.“ Hier möglichst viel mit der Musik auszu­drü­cken, sich gleich­zeitig aber nicht voll­kommen zu veraus­gaben, das sei ein stän­diger Balan­ceakt auf der Bühne.

»Puccini begleitet mich schon so lange, er wird immer da sein«

Wie bril­lant er den meis­tert, spie­gelt auch sein Album The Great Puccini (Deut­sche Gram­mo­phon) wider, eine hinge­bungs­volle Hommage an den italie­ni­schen Meister der klin­genden Gefühle. Beson­ders faszi­niert Tetelman an Puccinis Opern die intuitiv erschei­nende Verbin­dung zwischen Text und Musik, Klang und Emotion. „Musik und Wort sind bei Puccini komplett verschränkt, jedes Wort hat einen musi­ka­li­schen Gegen­part, und es gibt für jedes musi­ka­li­sche Detail einen Grund“, stellt Tetelman fest. Selbst jemand, der die Sprache nicht beherr­sche, könne deut­lich fühlen, was die Prot­ago­nisten des Dramas gerade bewegt.
Mit der Aufnah­me­si­tua­tion hat der Künstler, der den Thrill des Live-Moments derart liebt, anfangs gefrem­delt. „Erst einmal hat die Studio­si­tua­tion nichts mit der Oper im echten Sinne zu tun“, sagt Tetelman, zu hoch sei der Perfek­ti­ons­an­spruch und zu sehr würden all die Dinge fehlen, die Oper zu dem machen, was sie ist – die Kostüme, die Bühne, das Publikum. Dennoch habe sich dann auch im Studio das ereignet, was Tetelman so sehr liebt an der Oper, ja sogar als „Droge“ bezeichnet: die Auflö­sung in der anderen Person. „Ich kann das kaum steuern. Wenn das Orchester einsetzt, werde ich zu dem Charakter, der in der Geschichte empfindet, liebt und leidet.“

Und so begenet man – wie auf der Bühne auch – auf dem Album Jona­than Tetelman selbst nur kaum. Viel­mehr leiht er seine lyrisch kraft­volle Stimme etwa seinem großen Vorbild, dem träu­me­risch innigen Cava­ra­dossi aus Tosca: „Ich bewun­dere diesen Charakter. Er ist so kunst­sinnig und will wirk­lich mit den Menschen verbunden sein, mit denen er lebt – er ist ein toller Mann, und ich versuche, ihm gerecht zu werden.“

»Eine Opern­kar­riere ist kein Sprint, sondern ein Mara­thon«

Dann taucht auf dem Album aber auch Rodolfo auf, ein roman­ti­scher Jung­spund und Sports­mann, in dem Tetelman viel von sich selbst, als er jung war, erkennt: „Er ist ein fein­füh­liger Typ, der so ein biss­chen durchs Leben groovt, mit seinen Jungs abhängt und süße Mädchen trifft. Was ich aber gar nicht an ihm mag, ist, dass er so feige ist und vor all seinen Problemen davon­läuft“, so der Sänger. Entspre­chend schwierig und ambi­va­lent sei die Rolle. „Rodolfo ist sehr schwer zu spielen. Alles in einem selbst will das Rich­tige tun, aber Rodolfo tut das Falsche. Da muss ich Jona­than wirk­lich komplett raus­lassen.“

Jona­than Tetelman wird die Bühnen wohl auch in Zukunft ganz seinen Rollen über­lassen. Wer bleiben wird, ist Puccini. Wofür der Sänger große Worte findet: „Puccini begleitet mich schon so lange, er wird immer da sein. Durch seine Musik und die Entwick­lung der verschie­denen musi­ka­li­schen Charak­tere habe ich unge­mein viel gelernt. Letzt­lich ist er für mich wie ein Stimm­coach, mit dem ich immer weiter­ar­beite.“

Fotos: Ben Wolf