Joana Mallwitz

Der Musik nahe kommen

von Ruth Renée Reif

2. Februar 2024

Joana Mallwitz ist durchdrungen vom Glauben an die Musik. Das verleiht ihr eine charismatische Ausstrahlung. Umjubelt begann sie ihre erste Saison als Chefdirigentin und Künstlerische Leiterin des Konzerthausorchesters Berlin.

Maestra Mall­witz, nach nahezu zehn Jahren an Opern­häu­sern haben Sie sich erst­mals an ein Sinfo­nie­or­chester gebunden. Was bewog Sie zu dieser Entschei­dung?

Als ich das Konzert­haus­or­chester in Berlin kennen­lernte, wusste ich sofort, dass das jetzt mein künst­le­ri­sches Zuhause ist. Ich werde auch in Zukunft viele Opern diri­gieren. Aber jetzt empfinde ich es als richtig, mich an dieses Orchester zu binden und auf eine gemein­same Zeit einzu­lassen.

Kurt Sander­ling über­nahm 1960 das Orchester, das damals noch Berliner Sinfonie-Orchester hieß, und wollte es als Pendant zu den Berliner Phil­har­mo­ni­kern im Westen aufbauen. Wie verorten Sie das Konzert­haus­or­chester in der Berliner Orches­ter­land­schaft?

Das Konzert­haus­or­chester ist das Orchester der Stadt Berlin – mitten im Zentrum am wunder­schönen Gendar­men­markt – und in dieser Rolle einzig­artig. Es besitzt eine feste Veran­ke­rung vor Ort und durch unter­schied­liche Konzert­for­mate ein starkes, ausdrucks­rei­ches Profil. Beson­ders in den letzten Jahren zeigte es sich sehr expe­ri­men­tier­freudig ­und risi­ko­be­reit. Dadurch besitzt das Konzert­haus­or­chester eine große Iden­ti­fi­ka­ti­ons­kraft und Nähe zu unserem Publikum in Berlin.

»Ein Meis­ter­werk ist wie eine ganze Welt, die ihre eigenen Regeln hat«

Worauf kommt es Ihnen bei der Gestal­tung eines Programms für das Konzert­haus­or­chester an?

Ich versuche, eine breite Auswahl zu treffen, was Stile und Epochen angeht, und die großen Meis­ter­werke der Vergan­gen­heit mit unbe­kann­teren Werken und Entde­ckungen zu verbinden. Vor allem aber ist mir wichtig, dass die Werke, die wir spielen, die Hörer berühren und auf eine Reise mitnehmen.

Sie traten 2018 in Nürn­berg mit an, jetzt in Berlin eben­falls. Ist das Zufall, oder eignet sich Prokofjew beson­ders für einen Beginn?

Für mein Eröff­nungs­kon­zert in Berlin war mir vor allem eine Frage wichtig: Welcher Klang sollte als Aller­erstes erklingen, wenn das Konzerthaus­orchester und ich zum ersten Mal auf die Bühne gehen, um in unsere Zeit zu starten? Das musste die Symphonie clas­sique sein, denn sie vereint so vieles, wonach wir Musiker immer auf der Suche sind. Sie zeigt diesen großen Respekt vor der Vergan­gen­heit, die Kenntnis der klas­si­schen Regeln – aber sie traut sich auch, diese Regeln auf humor­volle Weise zu brechen und damit in die Moder­nität zu weisen.

Kurt Sander­ling stellte Prokofjew mit an die erste Stelle der Kompo­nisten des 20. Jahr­hun­derts. Schost­a­ko­witsch selbst aber hielt nicht viel von Prokofjew. Er nannte ihn einen Spieler. Wie bewerten Sie solche Äuße­rungen von Kompo­nisten über Kompo­nisten?

Diese Äuße­rung zeigt, dass beide Kompo­nisten starke Persön­lich­keiten waren und diese auch in ihre Werke legten – und dadurch sicher­lich pola­ri­sierten. Kleine Reibe­reien können auch immer Zeichen von versteckter Wert­schät­zung sein.

»So geht es am Ende immer darum, der Musik selbst nahe­zu­kommen«

Kommt der Biografie eines Kompo­nisten für Ihre Inter­pre­ta­tion eine Bedeu­tung zu, oder gilt für Sie allein die Partitur?

Wenn ich ein Werk studiere, versuche ich, alles, was man irgendwie wissen kann, zu wissen. Ich möchte alles über das Leben und das Denken eines Kompo­nisten zu dem Zeit­punkt, an dem er das Stück schrieb, heraus­finden, um seiner Person näher­zu­kommen. Auch über andere Werke, die in seinem Umfeld entstanden und ihn mögli­cher­weise beein­flussten, suche ich etwas zu erfor­schen. Aber letzten Endes findet man alle Antworten, alle Entschei­dungen einzig und allein in den Noten. Ein Meis­ter­werk ist wie eine ganze Welt, die ihre eigenen Regeln hat, und nur durch das Studieren und Befragen der Noten muss man versu­chen, diese Regeln verstehen zu lernen und sich diese Welt zu erschließen.

Wie hand­haben Sie das in Ihren so erfolg­rei­chen Expe­di­ti­ons­kon­zerten, die Sie in Berlin fort­setzen?

Ich mode­riere die Expeditions­konzerte, spreche über die Musik, analy­siere einzelne Takte am Klavier und erzähle die eine oder andere Anek­dote oder biogra­fi­sche Bege­ben­heit. Das bedeutet aber nicht, dass ich der Meinung bin, man müsse Musik erklären. Viel­mehr wünsche ich mir, dass das Publikum durch diese Entde­ckungs­reise merkt, dass man gar nichts wissen muss, sondern dass die Musik selbst einem alles gibt. Ein solches Werk ist eine Welt, die es zu entde­cken gibt, wenn man nur die Ohren und das Herz öffnet und das zulässt. So geht es am Ende immer darum, der Musik selbst nahe­zu­kommen.

»Es ist ein Wert an sich, in einem Konzert­haus zu sitzen, ohne dass Bomben fallen oder man bestimmte Stücke nicht spielen darf«

Heut­zu­tage scheint man von Künst­lern auch eine mora­li­sche Haltung zu verlangen. Halten Sie das für legitim? Muss ein Künstler auch ein guter Mensch sein?

Wir sollten alle versu­chen, gute Menschen zu sein! Speziell als Künstler ist es wichtig, sich bewusst zu machen, dass wir Künstler eine Bühne haben bezie­hungs­weise Menschen eine Bühne geben. Wir können nicht so tun, als wären klas­si­sche Konzerte getrennt vom Rest der Welt. Politik passiert die ganze Zeit, Mensch­lich­keit, Gesell­schaft passiert die ganze Zeit. Das ist alles verwoben mit der Kunst und Kultur, die jetzt gerade entsteht, und mit den Menschen, die auf der Bühne stehen.

Hat das, was auf den Konzert­bühnen geschieht, mit dem wirk­li­chen Leben zu tun, mit
den ertrun­kenen Geflüch­teten im Mittel­meer, mit dem Wüten der Taliban in Afgha­ni­stan, mit den Kriegen in Europa und im Nahen Osten?


Wir müssen uns immer wieder bewusst werden, dass in dem Moment, da wir ein Konzert­haus besu­chen, diese Art von Hoch­kultur erleben und sicher in diesem Konzert­haus sitzen, ohne dass Bomben fallen oder man bestimmte Stücke nicht spielen darf, dass dies einen Wert an sich darstellt. Und für diesen Wert, der gerade überall auf der Welt zerstört wird, müssen wir eintreten. Wir dürfen uns nicht zurück­lehnen und ihn für selbst­ver­ständ­lich halten.

Für Ihr Debüt bei der Deut­schen Gram­mo­phon spielen Sie die beiden Sinfo­nien von ein. Was bewog Sie zu dieser Wahl?

Vor einigen Jahren habe ich diese beiden Sinfo­nien entdeckt. Zuvor wusste ich gar nicht, dass es sie gibt, und ich war sofort faszi­niert. Die Erste schrieb Weill ja bereits während seiner Studi­en­zeit in Berlin, und sie ist noch unbe­kannter als die Zweite.
Weill war ein Welt­bürger. Er ging ins Exil nach Frank­reich und zwei Jahre später ins Exil in die USA. Da ver­brachte er den Groß­teil seines Lebens. Seine Wurzeln aber waren in Dessau und in Berlin, wo er studiert hatte und die Erste Sinfonie schrieb und die Zweite begann. Er verbindet Welten und bewahrt trotzdem etwas Eigenes, an dem man ihn wieder­erkennt. Diese eigene, unver­wech­sel­bare Klang­sprache ist für mich ein Zeichen großer Meis­ter­schaft.

Fotos: Sima Dehgani