Detlev Glanert

Eine ganze Welt in Trüm­mern

von Claudia Irle-Utsch

21. Februar 2024

Der deutsche Komponist Detlev Glanert hat eine neue Oper geschrieben: »Die Jüdin von Toledo«. Unter der Regie des Kanadiers Robert Carsen wurde der historische und doch so zeitgemäße Stoff an der Semperoper Dresden uraufgeführt. Ein Interview über Verfallszeiten, Funktionalisierung, hörende Augen und sehende Ohren.

„Redet darüber, so viel es geht“, sagt Detlev Glanert. Gerade hat der Kompo­nist im Inter­view darge­legt, warum ihn die alte Geschichte über die Liaison des spani­schen Königs Alfonso VIII. mit der jungen Jüdin Rahel derart elek­tri­siert hat, dass er auf der Basis des histo­risch verbürgten und lite­ra­risch mehr­fach bear­bei­teten Stoffs eine neue Oper geschrieben hat: Die Jüdin von Toledo, am 10. Februar 2024 urauf­ge­führt an der Semper­oper Dresden und dort bedacht mit breitem Inter­esse und großem Applaus. Das Werk stellt – noch einmal zuge­spitzt in der Insze­nie­rung von – die Frage nach Krieg und Frieden, nach dem Einenden und dem Tren­nenden, nach Macht und Ohnmacht.

Detlev Glanert siedelt die Geschichte im Toledo des späten 12. Jahr­hun­derts an. Die Stadt sieht er als Meta­pher für einen Ort, von Kriegen gezeichnet und zu glei­chen Teilen bewohnt von Juden, Christen und Muslimen. Dem König, des Regie­rens und seiner Ehe mit Eleo­nore über­drüssig, kommt die Begeg­nung mit der uner­schro­cken-neugie­rigen Rahel gerade recht. Er nimmt sie, und sie nimmt ihn. Alfonso entflieht dem Korsett seines Alltags, Rahel erobert den ersten Mann im Staat. So weit, so gut, so schlecht. Denn die Liebenden unter­schätzen das System. Die nach Macht gierende Königin proji­ziert auf die junge Jüdin, was die Menschen im Land ängs­tigt: alles, was fremd und anders ist. Und Alfonso? Schlägt sich schließ­lich auch auf die Seite der Macht. Er opfert Rahel dem für ihn über­ge­ord­neten Sinn – und die Welt wird zur Hölle.

Die Jüdin von Toledo mutet dem Publikum etwas zu. Denn was sich auf der Bühne spie­gelt, ist eine Realität, die exem­pla­risch zeigt, was Menschen einander antun können – Geschichte wieder­holt sich nicht nur im Guten. Das „Spiel“ der Mäch­tigen, die ihre Potenz für die eigenen Zwecke miss­brau­chen, funk­tio­niert immer noch. Koste es, was es wolle …

Über die perfiden Mecha­nismen des Stre­bens nach Macht, über sein Inter­esse für histo­ri­sche Stoffe und deren Trans­for­ma­tion in Klang: der Kompo­nist Detlev Glanert im Inter­view.

Ihre Oper Die Jüdin von Toledo erzählen Sie gemeinsam mit Libret­tist Hans-Ulrich Trei­chel frei nach dem gleich­na­migen Drama von Franz Grill­parzer. Wo hat der histo­ri­sche Text bei Ihnen etwas ange­stoßen?

Es gibt bestimmt Texte, die beim Lesen sofort einen Klang entwi­ckeln. Bei Grill­parzer war sofort eine Farbe da: von einem mittel­al­ter­li­chen Spanien, was es so vermut­lich gar nicht gibt, sondern nur in meiner Vorstel­lung. Ich sehe darin eine sehr harte, rußge­schwärzte Situa­tion. Wir befinden uns mitten in einem wahn­sinnig kompli­zierten Krieg. Denn nicht nur die Mauren haben damals gegen die Christen gekämpft, sondern auch die Christen unter­ein­ander. Es gab teil­weise einen Sieben­fron­ten­krieg, und das zog sich jahr­hun­der­te­lang hin. Wenn ich mir das in meiner Fantasie vorstelle, entwi­ckeln sich in mir bestimmte Klänge. Ähnlich ist es mit bestimmten Perso­nen­kon­stel­la­tionen, zum Beispiel hier die Königin, dort die Rahel – dieses Macht­ge­fälle verbinde ich sofort mit Klang.

»Alle Stoffe, die ich behandle, inter­es­sieren mich nur deshalb, weil sie mich heute angehen.«

Sie sagen, Sie stellten sich das Setting vor. Heißt das, dass Sie histo­ri­sche Gege­ben­heiten außer Acht lassen?

Ich bin kein Histo­riker, ich bin Opern­kom­po­nist. Ich erfinde mir mein Toledo. Das histo­ri­sche Toledo hat mich nur marginal inter­es­siert. Ich will ja etwas erzählen, was auf heute reflek­tiert. Deshalb habe ich mir einen erfun­denen Ort erbaut – mit Glocken­klängen, die das christ­liche Toledo symbo­li­sieren, und mit dem Klang der Oud, dieser Kurz­hals­laute, die bei mir für die Mauren steht. Die Inter­vallik von Rahel und ihrer so vernünf­tigen Schwester Esther habe ich auf Groß- und Kleinterz geschrieben. Dieses Konstrukt steht mit seinen Anleihen aus der mauri­schen und der christ­li­chen Welt im Dazwi­schen. Es gibt sozu­sagen drei zusam­men­hän­gende, aber doch geschie­dene Klang­er­eig­nisse. Mir war wichtig, die Mauren, über die bei Grill­parzer zwar gespro­chen wird, die aber de facto nicht vorkommen, akus­tisch zu reprä­sen­tieren. Sie sind ja immer da. Wohnen in den Ruinen, in unmit­tel­barer Nach­bar­schaft zur jüdi­schen Bevöl­ke­rung. Christen, Juden, Mauren – jeweils zu einem Drittel – lebten zusam­men­ge­pfercht in diesem mittel­al­ter­li­chen Toledo. Diese Stadt muss man sich in Trüm­mern vorstellen, zerstört durch diese grau­en­haften, ewigen Kriege.

Wo wird im Rück­blick die Rele­vanz für die Gegen­wart sichtbar?

Alle Stoffe, die ich behandle, inter­es­sieren mich nur deshalb, weil sie mich heute angehen. Sei es gesell­schaft­lich oder poli­tisch oder emotional. Histo­ri­sche Stoffe sind dechif­frier­barer. Stoffe von heute haben noch keine Verfalls­zeit, sie sind noch zu beweg­lich und nicht einordbar. Während Stoffe aus der Vergan­gen­heit para­dig­ma­tisch, also beispiel­haft funk­tio­nieren. Diese Zusam­men­ge­pfercht­heit der Menschen aus drei Reli­gionen bildet nur die Basis für einen anderen Konflikt, den ich aber für sehr aktuell erachte: Es geht um die Funk­tio­na­li­sie­rung von Vorur­teilen aus poli­ti­schem Inter­esse. Das kann man auf der Folie des gerade nach den Ereig­nissen des Hamas-Über­falls auf Israel so heftig aufge­flammten Anti­se­mi­tismus lesen, aber auch auf der Folie des Ukrai­ne­kriegs. Beides hatte, als ich die Arbeit an meiner Oper been­dete, noch gar nicht statt­ge­funden.

»Die Partitur ist wie ein Orga­nismus. Den muss man behan­deln wie einen schönen Rosen­busch.«

Inwie­fern sehen Sie Paral­lelen zu einer anderen Ihrer Opern, Joseph Süß, die in den späten 1990er-Jahren entstanden ist?

Diese Oper ist inhalt­lich ähnlich, aber nicht gleich. Sie ist anders, denn sie zeichnet den Unter­gang einer bestimmten Person nach. Bei Joseph Süß Oppen­heimer sind wir konfron­tiert mit dem unmit­tel­baren Anti­se­mi­tismus, der sich von Anfang an gezielt auf eine Person richtet. Während die Oper Die Jüdin von Toledo eher beschreibt, wie Anti­se­mi­tismus funk­tio­na­li­siert wird, also benutzt für bestimmte poli­ti­sche Ziele und auch das eigene Inter­esse.

An der Semper­oper Dresden hat der kana­di­sche Regis­seur Robert Carsen Ihre Oper Die Jüdin von Toledo insze­niert. Wie sehr hat sich das Stück auch für Sie noch einmal verän­dert?

Der Contrat social in der Oper ist immer der, dass der Regis­seur machen kann, was er will, solange er respekt­voll mit der Partitur umgeht. Das ist die grund­sätz­liche Verein­ba­rung. Es ist ganz klar, dass jeder Regis­seur diesen Stoff anders betrachtet als Hans-Ulrich Trei­chel oder ich es tun. Aber das akzep­tieren wir von Vorn­herein. Das ist Teil des Ganzen und immer über­ra­schend. So hat Robert Carsen wegen des Schlusses, der mit filmi­schen Kriegs­szenen auf heute repli­ziert, auch ein Zwischen­spiel im ersten Teil verän­dert. Da sehen wir zwar nicht das, was eigent­lich gedacht ist, aber es ist tatsäch­lich ein funk­tio­nie­render Blick­winkel. Das ist das Über­ra­schende an Oper – immer: Es kommt nicht das heraus, was ich mir vorge­stellt habe, aber es kommt etwas raus, was ich mir hätte vorstellen können.

Ein gewisses Vertrauen zur Regie­füh­rung sollte aber vorhanden sein …

Es braucht Vertrauen und auch bestimmte Persön­lich­keiten. Robert Carsen habe ich im Zuge der ersten Insze­nie­rung meiner Oper Oceane kennen­ge­lernt und dabei schnell gemerkt, wie er tickt, wie er Dinge angeht. Das Schöne ist: Robert hatte mich vor vielen Jahren schon von sich aus ange­rufen, weil er meine Musik inter­es­sant fand. Eine gute Basis für eine Zusam­men­ar­beit. Das Vertrauen war damals gleich da. Oper kann ich mir gar nicht anders vorstellen als Team­work. Die Partitur, die ich schreibe, ist wie ein Orga­nismus. Den muss man gut behan­deln, wie einen schönen Rosen­busch. Hier muss man gießen, dort etwas abschneiden …

»Kunst kann immer Fragen stellen. Die Lösung muss in den Köpfen der Menschen gefunden werden.«

Verbinden Sie Ihre Werke eigent­lich mit einer konkreten Botschaft?

Kunst kann immer Fragen stellen, aber sehr selten Lösungen aufzeigen. Wir erfahren etwas. Wir erfahren eine Geschichte, sehen ein Schicksal. Es wird uns etwas vorge­führt in Masken, in Kostümen, in Kulissen. Und das meint uns. Viel­leicht ist es das, was Schiller als „gött­li­ches Spiel“ bezeichnet hat. Das ist für mich an der Oper mit das Schönste. Quasi spie­lend verhan­deln wir uns selbst, als hoch­in­tel­lek­tu­elle Erwach­sene. Oper kann Appell sein, eine Evoka­tion. Und sie kann Fragen stellen. Aber die Lösung, die muss in den Köpfen der Menschen gefunden werden.

Im Januar 2024 wurde Ihr erstes Cello­kon­zert urauf­ge­führt. Erzählen Sie auch in Ihren sinfo­ni­schen Werken Geschichten?

Ja, unbe­dingt und immer. Aber natür­lich auf eine andere Weise, denn es fehlen der Aspekt der Bühne und der des Textes. Aber ich sehe Vorgänge in der Musik immer optisch – in Konzert­werken wie in Opern­werken. Bei mir können die Augen hören und die Ohren sehen.

Fotos: Ludwig Olah, Bettina Stöß