Bernard Haitink
Jubel für Mahlers Neunte
von Corina Kolbe
5. Dezember 2017
Eine Sinfonie von Gustav Mahler unter Bernard Haitink zu spielen, ist selbst für ein Spitzenorchester wie die Berliner Philharmoniker eine Ausnahmeerfahrung. In die Hauptstadt ist er mit der Neunten Sinfonie zurückgekehrt, die er bei den Philharmonikern zuletzt im Februar 1997 dirigiert hatte.
Eine Sinfonie von Gustav Mahler unter Bernard Haitink zu spielen, ist selbst für ein Spitzenorchester wie die Berliner Philharmoniker eine Ausnahmeerfahrung. Der niederländische Dirigent, mittlerweile 88 Jahre alt, hatte als langjähriger Chef des Royal Concertgebouw Orchestra maßgeblichen Anteil an der Mahler-Renaissance nach dem Zweiten Weltkrieg. Auch am Pult anderer erstklassiger Klangkörper hat Haitink in den vergangenen Jahrzehnten Maßstäbe gesetzt. Nach Berlin ist er jetzt mit der Neunten Sinfonie zurückgekehrt, die er bei den Philharmonikern zuletzt im Februar 1997 dirigiert hatte.
Die erwartungsvolle Spannung im ausverkauften Saal der Philharmonie ist deutlich spürbar, als der erste Satz Andante Comodo mit dem Cello im pianissimo und dem „Leb wohl“-Motiv der Harfe beginnt. „Todes Glocken“ und „Leise Tränen“ steht an dieser Stelle in der Dirigierpartitur von Willem Mengelberg, einem Freund des Komponisten und Vorgänger Haitinks in Amsterdam. Sachte und verhalten nehmen die Streicher das melancholische Motiv auf, bevor das Horn und dann die anderen Bläser und die Pauken hinzukommen.
Mit zurückhaltenden, präzisen Gesten leitet Haitink das Orchester hochkonzentriert durch Mahlers letzte vollendete Sinfonie, in der die Abschiedsthematik, die sein gesamtes Werk durchzieht, besonders eindrücklich erscheint. Die Uraufführung durch die Wiener Philharmoniker unter Bruno Walter 1912 sollte der Komponist nicht mehr erleben. In dem Kopfsatz mit seinen Höhepunkten und Zusammenbrüchen ist an diesem Abend in Berlin wieder einmal zu erleben, wie unerhört kompakt und zugleich transparent die philharmonischen Streicher musizieren. Konzertmeister Noah Bendix-Balgley führt die ersten Violinen souverän und berührt die Zuhörer durch äußerst emotional vorgetragene Solopassagen.
Nach dem geheimnisvoll und träumerisch anmutenden Ende des Andante comodo schlägt die Stimmung in den beiden Mittelsätzen ins Groteske um. Im Scherzo parodiert Mahler traditionelle Tänze wie Ländler und Walzer, die durch Dissonanzen, Einschübe melodiöser Floskeln und rhythmische Verschiebungen bis zur Unkenntlichkeit entstellt werden. Holz-und Blechbläser treten in dem von Mahler inszenierten Chaos als brillante Solisten hervor. Selbst kleinste Details sind trennscharf zu hören. Wüst geht es auch im dritten Satz zu, der mit einem beabsichtigten schiefen Trompeteneinsatz beginnt. In der „Rondo-Burleske“ werden stellenweise die Grenzen der Tonalität gesprengt, weswegen diese Sinfonie bereits auf die musikalische Moderne vorausdeutet. Zusammenhanglose musikalische Einsprengsel kontrastieren mit meditativen Choralpassagen, die einen Ruhepol bilden und tröstlich wirken.
Die Sinfonie endet mit dem langen „Adagio“, einem der eindringlichsten Sinfoniesätze Mahlers. Der warme Tutti-Klang der Philharmoniker schwingt weit aus, Haitink lässt das Orchester atmen. Nach und nach sinkt die Musik in sich zusammen und bäumt sich wieder auf, bevor sie sich schließlich im Nichts auflöst. Als das „Adagissimo“ im pianissimo verebbt ist, hält Haitink inne, um dem Klang nachzulauschen. Viel zu rasch setzen Husten und Beifall ein und zerreißen die Stille. Dennoch ist die Ergriffenheit im Saal groß. Haitink und das Orchester werden mit nicht enden wollendem Applaus im Stehen verabschiedet.