Moritz Eggert über James Levine

Das Schwä­cheln der Mäch­tigen

von Moritz Eggert

7. Dezember 2017

Was ist mit der klassischen Musik nur im Moment los? Die große Welle der Sexskandale hat nun mit James Levine einen neuen traurigen Höhepunkt und den bisher prominentesten Klassikstar erreicht.

Als ich ein Teen­ager war, stellte ich mir das Studium an einer Musik­hoch­schule so vor wie in dem Film „Fame“ : umgeben zu sein von inspi­rierten Menschen, die von Morgens bis Abends Musik machen und leiden­schaft­lich und liebe­voll ihrem Traum nach­gehen. Natür­lich musste ich meine Fantasie entspre­chend revi­dieren, als ich tatsäch­lich studierte, dennoch würde ich mein Studium als eine sehr posi­tive Erfah­rung bezeichnen, die mich persön­lich nicht enttäuscht hat. Ich musste nicht unter Über­griffen leiden, und wurde als Minder­jäh­riger wie auch als Erwach­sener nicht sexuell beläs­tigt. Das geht aber nicht jeder/​m so, leider.

Was ist mit der klas­si­schen Musik nur im Moment los? Die große Welle der Sexskan­dale, die spätes­tens seit Wein­stein in aller Munde ist, hat nun mit einen neuen trau­rigen Höhe­punkt und den bisher promi­nen­testen Klas­sik­star erreicht. Und es ist zu befürchten, dass es nicht der letzte Fall sein wird. Der gute Ruf der klas­si­schen Musik als Vorzei­ge­ak­ti­vität beson­ders für junge Menschen hat schon jetzt gelitten und wird mit jedem weiteren Skandal noch weiter leiden. Das wird sich irgend­wann auch auf die öffent­liche Förde­rung klas­si­scher wie auch zeit­ge­nös­si­scher Musik auswirken.

Seine Vorlieben für Minder­jäh­rige sind der „Trep­pen­witz“ der Klas­sik­szene

Im Grunde ist es ein Skandal, dass Levine erst jetzt öffent­lich thema­ti­siert wird. Seine Vorlieben für Minder­jäh­rige sind so etwas wie ein „Trep­pen­witz“ der Klas­sik­szene – absolut jeder wusste davon, es war trotz wohl gezahlter Schwei­ge­gelder kein großes Geheimnis. Immer wieder wurden dieje­nigen, die das öffent­lich kritisch anmerkten oder Fragen stellten, als „Schmier­finke“ und „Neider“ verhöhnt, da Levine auf dem Höhe­punkt seiner Macht war. Es blieb also gar nichts anderes übrig, als hinter vorge­hal­tener Hand darüber zu reden, und das geschah jahr­zehn­te­lang. Und Levine wurde hofiert, wie man nur hofiert werden kann. Dieser selt­same Umgang mit einem Problem wird uns klas­si­schen Musi­kern zu Recht vorge­worfen werden, und Levine ist kein Einzel­fall.

Es wäre bei Levine auch nicht darum gegangen, ihm das Talent als Diri­gent abzu­spre­chen (viele meiner Lieb­lings­auf­nahmen sind mit ihm als Diri­genten), sondern man hätte ihn schon viel früher vor sich selbst schützen müssen. Dann hätte es auch Heilung und Aussöh­nung geben können, so aber ist es ein Affront für die Opfer, dass man erst jetzt einen an den Roll­stuhl gefes­selten Kranken damit konfron­tiert, anstatt es schon viel früher zu tun.

Nicht nur die klas­si­sche Musik, sondern die gesamte Kultur des gemein­samen Umgangs und des Respektes vor der Sexua­lität anderer Menschen steht in gewisser Weise an einem Schei­deweg. Im Moment fliegt uns die Thematik sexu­elle Beläs­ti­gung so um die Ohren, dass man schon befürchtet, dass die Stim­mung wieder umkippt in eine Art Hexen­jagd, was für die wich­tige Sache – nämlich diese Themen endlich einmal anzu­gehen und auch Konse­quenzen für den Umgang mitein­ander daraus zu ziehen – fatal wäre. Ande­rer­seits wundert man sich auch, wie selten die promi­nenten Täter bisher tatsäch­liche Konse­quenzen zu befürchten hatten. Man kann die jetzige Welle von Anzeigen auch als eine Art Aufschrei der bisher aus vielerlei Gründen zum Schweigen Verdammten verstehen, der sich jetzt erst mani­fes­tieren kann, da nun immer mehr Menschen den Schritt einer Anzeige wagen. Und man wundert sich über die Fälle, bei denen man das Gefühl hat, es könnten noch 400 weitere Frauen kommen um Anzeige zu erstatten, und immer noch würde argu­men­tiert werden, es handele sich hier um ganz normale zwischen­mensch­liche Vorgänge, das Ganze sei nur ein „Miss­ver­ständnis“ und eine (Welt?)Verschwörung von „Tritt­brett­fah­re­rinnen“ . Es gibt aber immer irgendwo eine Beset­zungs­couch, die anschei­nend einge­weiht werden muss.

Niemand tut sich frei­willig an, über solche Vorfälle vor Gericht auszu­sagen

Oft höre ich von Männern wie auch Frauen das Argu­ment „ist es nicht verdächtig, dass die Kläger/​innen sich erst jetzt melden?“ und schnell wird von irgend­wel­chen angeb­li­chen Komplotten gespro­chen. Zuerst einmal miss­achtet das die Tatsache, dass sich niemand es frei­willig antut, über solche Gescheh­nisse vor Gericht aussagen zu müssen und sich damit an den Pranger zu stellen. Die Fälle in denen Opfer zum Beispiel Über­griffe erfunden haben sind äußerst selten, dennoch gehen viele auto­ma­tisch unre­flek­tiert davon aus, dass vor allem jede Klägerin auto­ma­tisch eine „rach­süch­tige“ Gesellin ist, „die sich das ja alles ja nur ausge­dacht hat“ . Das zeigt die Kluft, die uns noch von einem normalen Umgang mit dem Thema trennt: Viel eher wird den Klägerinnen/​Klägern ein niederes Motiv unter­stellt als dass man sich einge­steht, dass ein bewun­derter Mensch viel­leicht tatsäch­lich falsch oder über­griffig gehan­delt haben könne. Das wird auch bei Levine nicht anders sein, bald werden sich die ersten melden, die den „großen Künstler“ vertei­digen werden, die sein bedeu­tendes Lebens­werk in den Vorder­grund stellen, etc. Das hat man so oder ähnlich schon unzäh­lige Male so erlebt. Selbst ein inzwi­schen bei erdrü­ckender Beweis­last verur­teilter Sexu­al­straf­täter wie Philip Pickettt bat noch darum, man möge doch bei ihm eine Ausnahme machen und ihn ein wenig länger frei herum­laufen lassen, da er ja ein bedeu­tender Künstler sei, der noch wich­tige Konzerte vor sich habe. So geht es natür­lich nicht.

Bei einem Deib­stahl würde niemand von einer Lüge des Opfers ausgehen

Bei einem ange­zeigten Dieb­stahl würde niemand auto­ma­tisch von einer Lüge des Opfers ausgehen, obwohl es wesent­lich mehr vorge­täuschte Dieb­stähle aus Versi­che­rungs­be­trugs­gründen gibt als vorge­täuschte sexu­elle Beläs­ti­gungen oder Verge­wal­ti­gungen. Rein statis­tisch sollte man den Opfern also erst einmal glauben, und dennoch die Fälle sorg­fältig über­prüfen, sicher­lich mit gebüh­rendem Respekt vor dem noch vermeint­li­chen Täter, aber eben auch mit mehr Respekt vor denje­nigen, die es sich antun, ihn anzu­zeigen.

Nur wenige scheinen zu begreifen, wie schwer es ist, sich mit einer öffent­li­chen Anzeige erst einmal allein (von den anderen Fällen weiß man meis­tens nicht, was in der Natur der Sache liegt) gegen eine Über­macht zu stellen, die den“Star” wegen seiner Macht schützen will, um eigene Nutz­nie­ßer­po­si­tionen zu vertei­digen. Das war bei Levine sicher­lich so – ein welt­be­rühmter Diri­gent agiert nie alleine – da gibt es Insti­tu­tionen, Agenten, Opern­häuser, weitere Künstler, die alle von ihm abhängig sind oder von ihm profi­tieren. Da hat man erst einmal alleine keine Chance, deswegen trauen sich die meisten auch nicht.

Es ist sehr bezeich­nend, dass sowohl die Affäre Wein­stein als auch die Affäre Levine erst dann ins Rollen kamen, als diese Macht­fi­guren zu „schwä­cheln“ begannen, Wein­stein im Film­ge­schäft und Levine aus gesund­heit­li­chen Gründen. Da bröckeln dann die bisher stand­festen Seil­schaften. Es ist uner­träg­lich, wenn dann von einem „Komplott der angeb­li­chen Opfer“ gespro­chen wird (wobei man anmerken muss, dass dies im Fall Weinstein/​Levine noch nicht geschah – Wein­stein versuchte eine Art von Reue zu zeigen und Levine hat sich bisher nicht geäu­ßert), wenn das eigent­liche Komplott in der jahre­langen Deckung und Unter­stüt­zung der Täter besteht. Ich finde es auch von einer unglaub­li­chen Schein­hei­lig­keit, dass z.B. die Met jetzt so tut, als hätten sie „von nichts“ gewusst, denn das war ganz sicher­lich nicht der Fall. Nein, sie wollten lange nichts wissen, und das ist ein Riesen­un­ter­schied.

Unser gemein­sames Schweigen macht sexu­elle Gewalt zur Gefahr!

Die klas­si­sche Musik an sich ist daran unschuldig. Gerne wird vergessen, wie viel Posi­tives es darüber zu sagen gäbe, und eigent­lich würden wir am liebsten über dieses Posi­tive spre­chen, über die Kunst, über die Offen­heit, über Leiden­schaft, höhere LGBT-Tole­ranz als im „normalen“ Leben und span­nende künst­le­ri­sche Leis­tungen. Die klas­si­sche Musik soll auch keine verkrampfte puri­ta­ni­sche Betä­ti­gung werden, wir dürfen nicht para­noid werden und jedem Kinder­chor­leiter gleich das Schlimmste unter­stellen. Ein Groß­teil der klas­si­schen Musiker pflegt einen respekt­vollen Umgang mitein­ander, davon sollte man auf jeden Fall ausgehen. Wir müssen aber lernen, die momen­tanen Warn­si­gnale (es ist nicht 5 vor 12, sondern 5 NACH 12) nicht weiter noncha­lant zu igno­rieren, sondern eine neue Offen­heit und Vertrau­ens­wür­dig­keit zu etablieren, die Opfer früher schützt und vor allem die Täter nicht wider jede Vernunft über lange Zeit­räume unter­stützt. Die klas­si­sche Musik HAT ein Problem, und wie es scheint auch Frei­be­rufler im Allge­meinen. Die Macht­ge­füge und Abhän­gig­keiten sind anders als bei zum Beispiel Ange­stellten. Und erst unser gemein­sames Schweigen macht sexu­elle Gewalt und Verfüh­rung Minder­jäh­riger oder auch Abhän­giger zu einer echten Gefahr. Manch ein Täter hätte viel­leicht früher lernen können, sich anstän­diger zu verhalten, hätte er schon früher ein „so bitte nicht!“ gehört. Man hätte verzeihen und zukünf­tige Opfer hätten geschützt werden können, und man könnte endlich wieder über das reden, über das man am Liebsten reden würde…nämlich über die Musik.