Davos Festival 2022
Musik zwischen Bergen
22. August 2022
Das Davos Festival 2022 widmet sich dem Flunkern. »Märchen, Lügen, Traumwelten – das ganze Geflunker« lautet das Motto, unter dem Musiker sich aus verschiedenen Perspektiven mit dem Phänomen Lüge auseinandersetzen.
Der Sonnenuntergang zwischen Wolken hoch oben auf der Schatzalp in Davos taucht das gleichnamige ehemalige Lungensanatorium von 1900, das Thomas Mann in seinem Zauberberg mehrfach erwähnt, und die weit entfernten hohen Berggipfel in ein rot schimmernd seltsam irreales Licht. Betritt man das originalgetreu restaurierte Jugendstil-Kaminzimmer, zeugt nur das alte Telefon neben Stuhl und schwarzer Ledercouch davon, dass hier gleich eine Frau verzweifelt eine letzte Dreiviertelstunde mit dem Mann telefoniert, der sich gerade von ihr getrennt hat.
La voix humaine heißt das Monodram von Francis Poulenc nach dem gleichnamigen Stück von Jean Cocteau, der es zur Pariser Uraufführung 1959 auch selbst inszenierte. Obwohl der Komponist eine Aufführung nur mit Klavier statt Orchester angeblich zu Lebzeiten nicht gestattete (dabei saß er selbst auf einer Amerika-Tournee am Flügel!), hat sich diese kleine Form heute durchgesetzt. In Davos ließ die intime Situation etwas anderes gar nicht zu. So sitzt man mit direktem Blickkontakt keine zwei Meter von Hélène Walter entfernt. In den vielfältigsten Farben und Tonfällen auf Französisch sprechend, singend und wie eine Weltklasse-Schauspielerin mimend, entwirft sie das Psychogramm einer Frau, die – mehrfach gestört von Unterbrechungen der Telefon-Verbindung – mit allen Mitteln versucht, ein letztes Mal Nähe zu dem Mann herzustellen und zu halten, der sich längst von ihr entfernt hat.
Nur ihre Perspektive kennen wir, nicht die des Ex-Geliebten.
So manche Wendung im Französischen versteht man nicht wörtlich, aber was das Gesicht, die Hände, der Körper, die Stimme von Hélène Walter ausdrücken, spricht für sich – Bände! Wie sie an ihrem Kleid zupft, ins Leere spricht, den Worten des Geliebten nachhorcht, plötzlich ausbricht, sich dann wieder entschuldigt und schließlich wie unabsichtlich die Telefonschnur um den Hals wickelt und bevor sie bewegungslos verstummt und die Augen schließt auf der Couch ein allerletztes „Je t’aime“ flüstert: Das alles macht die junge Sopranistin Hélène Walter stimmlich und darstellerisch so virtuos, dass man glaubt, sie selbst zu sein. Immer röter werden die Wangen, und sogar das Make-up verläuft in ihren feucht werdenden Augen!
Keinen geringen Anteil an dieser faszinierenden Vereinnahmung des Zuschauers und ‑hörers hat Hélène Schweitzer, die das Ganze minutiös und enorm packend inszeniert hat, sowie Dominic Chamot am Flügel, der selbst das Klingeln des Telefons täuschend echt nachahmen konnte. Unvergesslich aber auch, wie unmittelbar vorher Andrzej Ciepliński und Alice Burla am Flügel mit der Klarinetten-Sonate Poulencs ein berückendes Entrée musizierten. Wie der junge Pole zarteste Töne, aber auch große Leidenschaft seinem Instrument entlockte und mit jeder Phrase zu verführen mochte, war schlicht bezaubernd.
Drei Tage beim Davos Festival unter dem Motto „Young Artists in Concert“ bedeuten ein Füllhorn an unterschiedlichster (Kammer-)Musik, manchmal auch versetzt mit Lesungen und Tanz: Im Kongresshaus etwa gibt es einen wunderbar gemischten Nachmittag, der beginnt mit Nathan Stornettas Légendes für Perkussion (Marianna Bednarska) und den Streichern der Davos Festival Camerata.
Fünf Geschichten erzählen von einer verzauberten Geige, einem Kind, das in einer magischen Höhle vergessen wird, einem verliebten Paar und einem bösen Pferd. Doch allzu gefällig illustrativ und dabei austauschbar klingt die Musik des jungen Schweizers, der als Komponist für den Film erfolgreich ist.
Etwas Besonderes sind dann Olivier Messiaens Cinq rechants für 12 gemischte Stimmen, auswendig dargeboten vom Solistkoret Ung aus Norwegen in einer faszinierenden choreografischen Version. Dass die Männer und Frauen sich barfuß bewegen, war wohl erst einmal eine praktische, weil lärmdämpfende Entscheidung, doch trotz Abendkleidung werden sie so zu einem Bewegungschor, aus dem heraus Einzelne für die Liebeserklärungen im Fantasie-Französisch des Komponisten immer wieder neue Adressaten finden. Was für eine zärtliche, humorvoll sinnliche Meditation über die Liebe! Und wann immer kurz solo gesungen wird, versteht man, warum dieses kleine Kollektiv sich „Solisten-Chor“ nennt.
Wieder eine ganz andere Welt in all ihrer Disparatheit eröffnet das Klavierquintett op. 18 von Mieczysław Weinberg aus dem Jahr 1944. In fünf auch in den Tempobezeichnungen sehr kontrastreichen Sätzen wird eine emotionale Zerrissenheit mitten im Zweiten Weltkrieg hörbar, die verzweifelt sich an Schönheit erinnern will, hier ein fast bizarrer Volksmusik-Ton verschiedenster Kulturen bis nach Irland. Das 2015 in Basel gegründete Opalio Piano Quintet spielt das gewichtige, komplexe Stück zum ersten Mal und verblüfft mit großer, tiefer Emotion, aber auch enormer Präzision und einer großräumigen Vision des Stücks.
Tags darauf bleibt Zeit zum Wandern und für einen wunderbaren Spätnachmittag mit der fulminanten Jazz-Sängerin Maxine Vuilliet und exquisiter Wein-Degustation im Waldhotel, einst das Sanatorium, in dem Katia Mann immer wieder weilte, bis hin zu einem nachmittäglichen Konzert am darauffolgenden Tag in der Kirche von Monstein! Noch mal ein paar hundert Meter höher als Davos, erreicht man die kleine Kirche in einer schönen, zweistündigen Wanderung. Zunächst gibt es das feine Bier aus Europas höchst gelegener Brauerei, danach verzaubert – hat man sich an die sehr direkte Akustik gewöhnt – das Quartetto Eos mit Haydn (op. 20⁄2) und dem die Trauer und Wut angesichts des Todes seiner Schwester geradezu herausschreienden Quartett op. 80 von Felix Mendelssohn aus dem Jahr 1847.
Im Corona-Jahr 2020 verantwortete Marco Amherd das Davos Festival zum ersten Mal und musste auf all die rigiden Regeln hinweisen, die Veranstaltungen überhaupt ermöglichten. Damals sagte er immer bereits ein paar Worte zum Programm, und dabei ist es geblieben. Eloquent und charmant gibt er auch jetzt eine knappe Einführung, hilft ganz selbstverständlich mit seiner Geschäftsführerin Anne-Kathrin Topp beim Umbau in der Pause und steht auch sonst Rede und Antwort für alle. Jedes Programm unter dem diesjährigen Motto „Märchen, Lügen, Traumwelten – das ganze Geflunker“ ist handverlesen, und der Organist und Chorleiter scheint für jeden Programmpunkt persönlich verantwortlich.
Fixpunkt ist seit Jahren das tägliche „Offene Singen“ in einer der schönen kleinen Kirchen von Davos. Manchmal sind es 30 bis 40 Frauen und Männer, die da – nach Lockerungs-Übungen – in einer halben Stunde für den ganzen Körper ein Lied einstudieren: Schweizerreise von Fredi Fluri etwa. Da absolviert man, rhythmisch durchaus vertrackt, alle 26 Kantone der Schweiz singend – zuletzt auch noch im Kanon, was dann aber doch die Grenzen spontanen Laien-Gesangs aufweist! Gleich danach gibt’s am anderen Ende des Dorfes, wieder in einer schönen kleinen Kirche, barocke Orgelmusik und ein zeitgenössisches Werk für Cello solo!