Konzert «La voix humaine» mit den Künstler am 16 .August 2022 im Hotel Schatzalp am DAVOS FESTIVAL 2022, vom 6. - 20. August 2022, Thema «Flunkern»

Davos Festival 2022

Musik zwischen Bergen

von Klaus Kalchschmid

22. August 2022

Das Davos Festival 2022 widmet sich dem Flunkern. »Märchen, Lügen, Traumwelten – das ganze Geflunker« lautet das Motto, unter dem Musiker sich aus verschiedenen Perspektiven mit dem Phänomen Lüge auseinandersetzen.

Der Sonnen­un­ter­gang zwischen Wolken hoch oben auf der Schatzalp in taucht das gleich­na­mige ehema­lige Lungen­sa­na­to­rium von 1900, das in seinem Zauber­berg mehr­fach erwähnt, und die weit entfernten hohen Berg­gipfel in ein rot schim­mernd seltsam irreales Licht. Betritt man das origi­nal­ge­treu restau­rierte Jugend­stil-Kamin­zimmer, zeugt nur das alte Telefon neben Stuhl und schwarzer Leder­couch davon, dass hier gleich eine Frau verzwei­felt eine letzte Drei­vier­tel­stunde mit dem Mann tele­fo­niert, der sich gerade von ihr getrennt hat.

La voix humaine heißt das Mono­dram von nach dem gleich­na­migen Stück von Jean Cocteau, der es zur Pariser Urauf­füh­rung 1959 auch selbst insze­nierte. Obwohl der Kompo­nist eine Auffüh­rung nur mit Klavier statt Orchester angeb­lich zu Lebzeiten nicht gestat­tete (dabei saß er selbst auf einer Amerika-Tournee am Flügel!), hat sich diese kleine Form heute durch­ge­setzt. In Davos ließ die intime Situa­tion etwas anderes gar nicht zu. So sitzt man mit direktem Blick­kon­takt keine zwei Meter von Hélène Walter entfernt. In den viel­fäl­tigsten Farben und Tonfällen auf Fran­zö­sisch spre­chend, singend und wie eine Welt­klasse-Schau­spie­lerin mimend, entwirft sie das Psycho­gramm einer Frau, die – mehr­fach gestört von Unter­bre­chungen der Telefon-Verbin­dung – mit allen Mitteln versucht, ein letztes Mal Nähe zu dem Mann herzu­stellen und zu halten, der sich längst von ihr entfernt hat.
Nur ihre Perspek­tive kennen wir, nicht die des Ex-Geliebten.

La voix humaine beim Davos Festival 2022
Widmen sich Francis Poulenc« Mono­dram La voix humaine: die Sopra­nistin Hélène Schweitzer und der Pianist Dominic Chamot

So manche Wendung im Fran­zö­si­schen versteht man nicht wört­lich, aber was das Gesicht, die Hände, der Körper, die Stimme von Hélène Walter ausdrü­cken, spricht für sich – Bände! Wie sie an ihrem Kleid zupft, ins Leere spricht, den Worten des Geliebten nach­horcht, plötz­lich ausbricht, sich dann wieder entschul­digt und schließ­lich wie unab­sicht­lich die Tele­fon­schnur um den Hals wickelt und bevor sie bewe­gungslos verstummt und die Augen schließt auf der Couch ein aller­letztes „Je t’aime“ flüs­tert: Das alles macht die junge Sopra­nistin Hélène Walter stimm­lich und darstel­le­risch so virtuos, dass man glaubt, sie selbst zu sein. Immer röter werden die Wangen, und sogar das Make-up verläuft in ihren feucht werdenden Augen!

Keinen geringen Anteil an dieser faszi­nie­renden Verein­nah­mung des Zuschauers und ‑hörers hat Hélène Schweitzer, die das Ganze minu­tiös und enorm packend insze­niert hat, sowie Dominic Chamot am Flügel, der selbst das Klin­geln des Tele­fons täuschend echt nach­ahmen konnte. Unver­gess­lich aber auch, wie unmit­telbar vorher Andrzej Ciepli­ński und Alice Burla am Flügel mit der Klari­netten-Sonate Poulencs ein berü­ckendes Entrée musi­zierten. Wie der junge Pole zarteste Töne, aber auch große Leiden­schaft seinem Instru­ment entlockte und mit jeder Phrase zu verführen mochte, war schlicht bezau­bernd.
Drei Tage beim unter dem Motto „Young Artists in Concert“ bedeuten ein Füll­horn an unter­schied­lichster (Kammer-)Musik, manchmal auch versetzt mit Lesungen und Tanz: Im Kongress­haus etwa gibt es einen wunderbar gemischten Nach­mittag, der beginnt mit Nathan Stor­nettas Légendes für Perkus­sion (Mari­anna Bednarska) und den Strei­chern der Davos Festival Came­rata.

Solistkoret Ung
Zauber­sprüche und andere Weis­heiten im Konzert „Abra­ca­dabra“: der Chor Solist­koret Ung unter der Leitung von Grete Pedersen

Fünf Geschichten erzählen von einer verzau­berten Geige, einem Kind, das in einer magi­schen Höhle vergessen wird, einem verliebten Paar und einem bösen Pferd. Doch allzu gefällig illus­trativ und dabei austauschbar klingt die Musik des jungen Schwei­zers, der als Kompo­nist für den Film erfolg­reich ist.
Etwas Beson­deres sind dann Olivier Messiaens Cinq rechants für 12 gemischte Stimmen, auswendig darge­boten vom Solist­koret Ung aus Norwegen in einer faszi­nie­renden choreo­gra­fi­schen Version. Dass die Männer und Frauen sich barfuß bewegen, war wohl erst einmal eine prak­ti­sche, weil lärm­dämp­fende Entschei­dung, doch trotz Abend­klei­dung werden sie so zu einem Bewe­gungs­chor, aus dem heraus Einzelne für die Liebes­er­klä­rungen im Fantasie-Fran­zö­sisch des Kompo­nisten immer wieder neue Adres­saten finden. Was für eine zärt­liche, humor­voll sinn­liche Medi­ta­tion über die Liebe! Und wann immer kurz solo gesungen wird, versteht man, warum dieses kleine Kollektiv sich „Solisten-Chor“ nennt.

Wieder eine ganz andere Welt in all ihrer Dispa­rat­heit eröffnet das Klavier­quin­tett op. 18 von aus dem Jahr 1944. In fünf auch in den Tempo­be­zeich­nungen sehr kontrast­rei­chen Sätzen wird eine emotio­nale Zerris­sen­heit mitten im Zweiten Welt­krieg hörbar, die verzwei­felt sich an Schön­heit erin­nern will, hier ein fast bizarrer Volks­musik-Ton verschie­denster Kulturen bis nach Irland. Das 2015 in Basel gegrün­dete Opalio Piano Quintet spielt das gewich­tige, komplexe Stück zum ersten Mal und verblüfft mit großer, tiefer Emotion, aber auch enormer Präzi­sion und einer groß­räu­migen Vision des Stücks.

Das Quartetto Eos
Aufstieg zum Konzert in der Kirche Davos Mons­tein: die Geiger Elia Chiesa und Giacomo Del Papa, die Cellistin Silvia Anca­rani und der Brat­schist Ales­sandro Acqui vom

Tags darauf bleibt Zeit zum Wandern und für einen wunder­baren Spät­nach­mittag mit der fulmi­nanten Jazz-Sängerin Maxine Vuil­liet und exqui­siter Wein-Degus­ta­tion im Wald­hotel, einst das Sana­to­rium, in dem Katia Mann immer wieder weilte, bis hin zu einem nach­mit­täg­li­chen Konzert am darauf­fol­genden Tag in der Kirche von Mons­tein! Noch mal ein paar hundert Meter höher als Davos, erreicht man die kleine Kirche in einer schönen, zwei­stün­digen Wande­rung. Zunächst gibt es das feine Bier aus Europas höchst gele­gener Brauerei, danach verzau­bert – hat man sich an die sehr direkte Akustik gewöhnt – das Quar­tetto Eos mit Haydn (op. 202) und dem die Trauer und Wut ange­sichts des Todes seiner Schwester gera­dezu heraus­schrei­enden Quar­tett op. 80 von Felix Mendels­sohn aus dem Jahr 1847.

Im Corona-Jahr 2020 verant­wor­tete Marco Amherd das Davos Festival zum ersten Mal und musste auf all die rigiden Regeln hinweisen, die Veran­stal­tungen über­haupt ermög­lichten. Damals sagte er immer bereits ein paar Worte zum Programm, und dabei ist es geblieben. Eloquent und char­mant gibt er auch jetzt eine knappe Einfüh­rung, hilft ganz selbst­ver­ständ­lich mit seiner Geschäfts­füh­rerin Anne-Kathrin Topp beim Umbau in der Pause und steht auch sonst Rede und Antwort für alle. Jedes Programm unter dem dies­jäh­rigen Motto „Märchen, Lügen, Traum­welten – das ganze Geflunker“ ist hand­ver­lesen, und der Orga­nist und Chor­leiter scheint für jeden Programm­punkt persön­lich verant­wort­lich.

Fixpunkt ist seit Jahren das tägliche „Offene Singen“ in einer der schönen kleinen Kirchen von Davos. Manchmal sind es 30 bis 40 Frauen und Männer, die da – nach Locke­rungs-Übungen – in einer halben Stunde für den ganzen Körper ein Lied einstu­dieren: Schweiz­erreise von Fredi Fluri etwa. Da absol­viert man, rhyth­misch durchaus vertrackt, alle 26 Kantone der Schweiz singend – zuletzt auch noch im Kanon, was dann aber doch die Grenzen spon­tanen Laien-Gesangs aufweist! Gleich danach gibt’s am anderen Ende des Dorfes, wieder in einer schönen kleinen Kirche, barocke Orgel­musik und ein zeit­ge­nös­si­sches Werk für Cello solo!

Fotos: Yannick Andrea / DAVOS FESTIVAL