Moritz Eggert über Klassik-Stereotypen

Die 10 größten Klischees der klas­si­schen Musik

von Moritz Eggert

28. März 2018

Von "Klatsch-Nazis", Bayreuther Stehtheater und moderner Katzenmusik. CRESCENDO-Kolumnist Moritz Eggert über die beliebtesten Vorurteile in der klassischen Musik.

„Man darf nicht zwischen den Sätzen klat­schen“

Sicher­lich sind Sie auch schon Mal darauf rein­ge­fallen: Da kommt ein lauter Schluss­ak­kord eines Satzes, der gera­dezu zum Klat­schen animiert, Sie klat­schen begeis­tert, und… werden finster von Ihren Sitz­nach­barn ange­schaut, als hätten Sie gerade deren Lieb­lings­hamster erwürgt. Und Sie schämen sich, mal wieder keine Ahnung gehabt zu haben. Aber keine Angst: Wer nämlich wirk­lich Ahnung hat weiß, dass bei der Urauf­füh­rung viel­leicht gerade dieses klas­si­schen Stückes entweder gar keiner klatschte – weil es zur Krönung eines fetten Kaisers oder als Tafel­musik gespielt wurde – oder die Musiker wie auch der Kompo­nist mit Tomaten beworfen wurden. Auch war es noch im 19. Jahr­hun­dert durchaus üblich, nur einzelne Sätze einer Sinfonie oder einer Klavier­so­nate aufzu­führen, und da wurde natür­lich auch nach jedem Satz geklatscht. Und zuletzt seien Sie versi­chert: Die Musiker freuen sich eigent­lich immer, wenn jemand klatscht – solange es nicht mitten im Stück ist – weil das auf jeden Fall eine freund­liche und ermu­ti­gende Geste ist. Die eigent­lich Dummen sind also die Klatsch-Nazis!

Die eigent­lich Dummen sind also die Klatsch-Nazis!

„Das Publikum wird immer älter“

Auch wenn man sich durchaus berech­tigt Sorgen um das nach wie vor sehr ältliche Image der klas­si­schen Musik machen muss, so sollte man nicht den Gedan­ken­fehler machen, ständig einen demo­gra­phi­schen Einbruch des Inter­esses an klas­si­scher Musik herauf­zu­be­schwören. Denken Sie doch einmal selber darüber nach: Wie viel Zeit haben heut­zu­tage Menschen zwischen 25 und 60 für ihre Hobbies und privaten Vergnü­gungen, während sie von unserer zuneh­mend schnellen und extrem fordernden Arbeits­welt durch die Mangel genommen werden? Um dann – wenn sie pensio­niert sind – endlich Mal Zeit für die schönen Dinge des Lebens zu haben, zum Beispiel den Besuch von klas­si­schen Konzerten? Das seltenste Alter unter Konzert­be­su­chern ist 40, dagegen sieht man sowohl junge Menschen wie auch ältere Menschen, und das wird auch immer so bleiben, solange noch nicht Roboter all unsere Arbeit über­nehmen. Und noch etwas: Schon Anfang des letzten Jahr­hun­derts – als die moderne Arbeits­welt wie wir sie kennen entstand – konsta­tierte ein , das Publikum werde „immer grauer und werde bald aussterben“. Nein, taten sie nicht, sonst hätten wir keine .

„Orches­ter­mu­siker müssen Fräcke tragen“

Nein, müssen Sie nicht. Das ist eine der sinn­lo­sesten Tradi­tionen der klas­si­schen Musik: Dass Musiker des 21. Jahr­hun­derts nach wie vor in der Arbeits­klei­dung von Musi­kern aus dem 18. und 19. Jahr­hun­dert spielen müssen. Es zeigt, wie weit die klas­si­sche Musik heute von der realen Welt entfernt ist, denn natür­lich wird nach wie vor ja tatsäch­lich weit­ge­hend Musik aus dem 18. und 19. Jahr­hun­dert – weder früher noch später – in unseren Konzert­sälen gespielt. Keine andere Kunst­form kann sich das leisten – kein Buch­laden kann allein alte Schinken in altdeut­scher Druck­schrift anbieten, kein Kino kann alleine Stumm­filme zeigen, kein Theater allein Shake­speare und Goethe spielen… aber in der klas­si­schen Musik ist das genau so. Viel­leicht wäre es ein guter Anfang, zuerst einmal diese dämli­chen, häss­li­chen und vor allem unprak­ti­schen Fräcke auf den Müll zu schmeißen. Die Orches­ter­mu­siker sollen sich durchaus schick anziehen… man will ja auch nicht, dass einen der Zahn­arzt im Hawaii­hemd behan­delt, oder der Barkeeper einen im fleckigen T‑Shirt bedient. Rituale und Berufs­klei­dungen haben ihren Sinn, aber alle anderen Berufs­klei­dungen ändern sich mit dem Zeit­ge­schmack, nur selt­sa­mer­weise nicht die der Orches­ter­mu­siker. Schluss damit!

Alle anderen Berufs­klei­dungen ändern sich mit dem Zeit­ge­schmack, nur selt­sa­mer­weise nicht die der Orches­ter­mu­siker!

„Man muss einmal in seinem Leben in Bayreuth gewesen sein, um die Wagner-Opern richtig zu hören“

Nein, muss man nicht. Vermut­lich hören Sie die Wagner-Oper sogar wesent­lich besser im Stadt­theater ihres Vertrauens, denn dort wird man wesent­lich mehr Liebe und Sorg­falt sowohl in die Insze­nie­rung als auch die tatsäch­liche Umset­zung dieser Werke inves­tieren. Und dafür gibt es einen Grund: in treten die Gesangs­stars für einen Bruch­teil ihrer normalen Hono­rare auf, weil auch diese das Gefühl haben, einmal in Bayreuth gewesen sein zu müssen. Aber natür­lich reisen dann diese Stars auch erst wenige Tage vor der Première an und haben kaum Zeit zu proben, was die dortigen Regis­seure immer wieder aufs Neue frus­triert. In einem normalen Opern­haus dagegen wird eine Insze­nie­rung durchaus mona­te­lang einstu­diert, bis man sich damit auf die Bühne traut. Viel­leicht gibt es dort auch sogar etwas wie Perso­nen­regie. Klar, auch in Bayreuth mag mal eine gute Insze­nie­rung gelingen, aber meis­tens stehen die Sänger da an der Rampe, treten von links auf und treten rechts ab, denn darüber kann man sich meis­tens recht schnell verstän­digen.

Und noch ein wich­tiger Grund spricht gegen Bayreuth – mit einem Ticket­kauf unter­stützen Sie die Familie Lannister, äh Wagner, die mit ihren bizarren Fami­li­en­in­trigen inzwi­schen jede Game of Thrones-Episode wie eine Linden­straßen-Folge erscheinen lässt.

„Man muss sich für die Oper fein anziehen“

Nein, müssen Sie nicht. Außer Sie wollen einfach grund­sätz­lich schick sein, was natür­lich immer empfeh­lens­wert ist. Gene­rell sollten Sie sich aber so anziehen, wie Sie es für normal halten. Was bei Ameri­ka­nern eben Bermuda-Shorts und bunte Hemden sind, aber diese ziehen die auch sonst den ganzen Tag an. Gerne lacht man über diese „Igno­ranten“, aber wäre es nicht besser, wenn viel mehr ganz normale Leute in die Opern­häuser kämen, anstatt immer nur diese aufge­don­nerten Möch­te­gern-Tussis und ‑Typen? Seien Sie expe­ri­men­tier­freudig – kommen Sie, wie SIE es schick finden und nicht wie es Ihnen irgend­welche gesell­schaft­li­chen Konven­tionen vorschreiben. Ein buntes, leben­diges Opern­haus in dem alle gesell­schaft­li­chen Schichten verkehrten, vom Antifa-Punk bis zum Univer­si­täts­pro­fessor, wäre meine persön­liche Utopie eines neuen und leben­digen Opern­be­triebes.

Fordern Sie den Opern­in­ten­danten Ihres Vertrauens auf, endlich mehr Neues zu spielen!

„Es gibt keine guten neuen Opern“

Doch, gibt es. Sie kennen sie nur noch nicht. Denn diese tollen neuen Opern werden leider nicht gespielt in einem feigen und erzkon­ser­va­tiven Opern­be­trieb in dem übli­cher­weise 99% des Spiel­plans dem 19. und maximal dem 18. Jahr­hun­dert vorbe­halten sind. Solange das so ist, entgehen Ihnen, liebes Publikum, die Ihrer Zeit, die Ihnen viel­leicht wesent­lich mehr zu bieten hätten als die 5000ste Insze­nie­rung von Turandot oder Carmen, bei der die Prot­ago­nisten ohne beson­deren Grund KZ-Insassen oder Börsen­makler sein müssen, weil die Regis­seure sich sonst zu Tode lang­weilen. Fordern Sie den Opern­in­ten­danten Ihres Vertrauens auf, endlich mehr Neues zu spielen, damit man sich auch den alten Stücken wieder mit mehr Lust, Freude und Respekt nähern kann!

„Moderne Musik = 12-Ton-Musik“

Moderne Musik heute ist alles Mögliche – es gibt tausende von Genres, manche wohl­klin­gend, manche weniger, manche eher tradi­tio­nell, manche eher expe­ri­men­tell. Aber ganz ehrlich: Keine alte Sau schreibt heute mehr strenge 12-Ton-Musik. 12-Ton-Musik ist ein HISTO­RI­SCHER akade­mi­scher Substil, inzwi­schen schon 100 Jahre alt. Genau­so­wenig wie heute noch barocke Tanz­su­iten geschrieben werden, verschreibt sich heute ein Kompo­nist allein der 12-Ton-Technik. Wenn man es genau nimmt, haben dies noch nicht einmal Schön­berg und seine Schüler getan, gott­sei­dank übri­gens.

„Disso­nanzen sind schlecht und Konso­nanzen sind gut“

Soll ich Ihnen etwas sagen? Bei klas­si­scher Musik, so wie wir Sie heute kennen, handelt es sich streng genommen um grau­en­hafte schrille und häss­liche Katzen­musik. Warum? Weil wir mit der tempe­rierten Stim­mung – alle zwölf Töne im mathe­ma­tisch glei­chen Stim­mungs­ab­stand –, die seit Bachs Zeiten weithin gebräuch­lich ist, die funda­men­talen Gesetze der natür­li­chen Ober­ton­reihe igno­rieren, die nach völlig anderen aber natür­li­chen Regeln funk­tio­niert (siehe zum Beispiel die soge­nannte „pytha­go­räi­sche“ oder „reine“ Stim­mung). Diese Perver­sion führt sogar so weit, dass Menschen inzwi­schen die echten Ober­töne, die tatsäch­lich auf den physi­ka­li­schen Gesetzen und Propor­tionen der Töne an sich basieren, als „schief“ oder „falsch klin­gend“ empfinden. Erzählen Sie mir also nichts über „Schön­heit“ im „natür­li­chen Wohl­klang“ – das sind alles Bull­shit­be­griffe. Schön­heit liegt im Auge des Betrach­ters. Bilden Sie sich nicht wegen Ihrer Sozia­li­sie­rung oder Ihrer Gewohn­heit ein, Sie wüssten genau wie Musik „zu klingen hat“.

Genau­so­wenig wie Sie Bäcker werden müssen, bevor Sie eine Semmel , müssen sie erst ein Exper­ten­wissen haben, um ein klas­si­sches Musik­stück zu würdigen.

„Es gibt keine gute klas­si­sche Musik mehr seit den drei großen B – Bach, Beet­hoven, Brahms“

Doch, gibt es. Vergessen Sie nicht, dass das, was Sie als klas­si­sche Musik kennen, einen gnaden­losen Auswahl­pro­zess über Jahr­hun­derte hinweg erlebt hat. Was heute in den Konzert­sälen gespielt wird, ist das Aller­beste des Besten des Besten aus dieser Zeit, denn nur deswegen kennen wir es noch. Vieles Große und Inter­es­sante blieb auch auf der Strecke, denn oft war es nur König Zufall, der dem einen oder anderen Kompo­nisten eine post­hume Karriere ermög­lichte. Seien Sie versi­chert: Auch heute gibt es groß­ar­tige Kompo­nis­tinnen und Kompo­nisten, die auf demselben Level kompo­nieren wie die „drei großen B“. Seien Sie nicht so igno­rant wie die Wiener, die den armen Schu­bert sein Leben lang miss­ach­teten, oder Hummel für einem wesent­lich größeren Kompo­nisten als Beet­hoven hielten. Über die Irrtümer und Versäum­nisse unserer Gene­ra­tion werden zukünf­tige Gene­ra­tionen lachen. Und vor allem wird man sich fragen, warum die vielen tollen Stücke des 21. Jahr­hun­derts zum Zeit­punkt ihrer Entste­hung kaum in den Konzert­sälen gespielt wurden. Es ist ja auch gar nicht so wichtig, dass jedes Stück ein Meis­ter­werk ist oder jeder Kompo­nist ein Genie. Auch die früheren Kompo­nisten brauchten ein gutes Mittelmaß, um darüber heraus­zu­wachsen, deswegen sollte man auch das Mittelmaß nicht miss­achten.

„Ich weiß zu wenig über klas­si­sche Musik, um sie beur­teilen zu können“

Nein, Sie müssen eigent­lich gar nichts wissen. Müssen Sie Archi­tekt sein, um ein schönes Gebäude würdigen zu können? Müssen Sie Bäcker werden, bevor Sie eine Semmel essen? Nein. Und genau­so­wenig müssen Sie erst ein Exper­ten­wissen haben, um ein klas­si­sches Musik­stück würdigen zu können. Vertrauen Sie Ihrer Intui­tion – seien Sie emotional, unge­recht, unwis­send, spontan – was auch immer Sie wollen. Aber seien Sie vor allem eines: leiden­schaft­lich. Denn diese Leiden­schaft wird uns Musiker beflü­geln, die Musik zu schreiben und zu spielen, die auch zukünf­tige Gene­ra­tionen beflü­geln wird. Und hoffent­lich auch Sie. Und das ganz ohne Red Bull.