Moritz Eggert über Spielpläne

Die Liste der ewig Gest­rigen II

von Moritz Eggert

12. April 2018

Wie sehen Spielpläne heute wirklich aus? Wie modern ist das Programm? Ein Einblick in das Durchschnittsalter der gespielten Opern von Frankfurt bis Leipzig.

Immer wieder kommen­tieren Leser meine Opern­ar­tikel, und ein häufig vorge­brachtes Argu­ment ist, dass die alten Opern ja alle so wahn­sinnig schön seien, und dass man es doch dem Publikum nicht übel­nehmen solle, dass es auch vor allem nur diese alten Opern gerne sehen möchte, und nicht irgend­einen modernen Scheiß, in dem immer alle krei­schen.

Mal abge­sehen davon, dass es zu den Zeiten absolut aller heute viel gespielten Opern­kom­po­nisten jeweils IMMER Menschen gab, die deren Werke als “irgend­einen modernen Scheiß, in dem immer alle krei­schen” empfanden, hinkt das Argu­ment auf gleich mehrere Weisen.

Aber leider verstehe ich auch, warum dieses Argu­ment immer wieder kommt, denn über einen relativ langen Zeit­raum gerierte sich “Neue Musik” als etwas, zu dem man erzogen werden müsse; das man keines­wegs genießen dürfe. Das ist natür­lich Blöd­sinn. Und ich verstehe, dass Menschen sich intuitiv gegen solche Erzie­hungs­maß­nahmen auflehnen.

Aber erstens ist das nicht mehr so, und zwei­tens geht es in keiner Weise darum, ob das Alte „besser“ und das Neue „schlechter“ ist, und auch nicht darum, ob es umge­kehrt ist.

„Über einen relativ langen Zeit­raum gerierte sich Neue Musik« als etwas, zu dem man erzogen werden müsse“

Hierzu ein kleines Beispiel: Nehmen wir an, wir leben in einer Stadt. Diese Stadt hat viel­leicht eine lange, wech­sel­volle Geschichte. Mal war sie größer, Mal war sie kleiner. Einmal war sie von den Türken erobert, einmal gab es darin eine Hungersnot. Es gab glanz­volle und weniger glanz­volle Zeiten. Nehmen wir an, dies ist die einzige Stadt auf der Welt, und es ist die Stadt in der wir leben. Jedes Mal wenn wir durch eine Straße in dieser Stadt gehen, kann auf ein belie­biges Haus darin jede der folgenden Möglich­keiten zutreffen:

Es kann sein, dass früher dort ein schö­neres Haus stand.

Es kann sein, dass das Haus das jetzt dort steht, das schönste Haus ist, das jemals dort stand.

Es kann sein, dass weder in der Vergan­gen­heit dort ein schönes Haus stand, noch dass heute dort ein schönes Haus steht, aber dass irgend­wann dort einmal ein sehr schönes Haus stehen wird.

Für unser Leben in dieser Stadt ist es aber voll­kommen uner­heb­lich, was zutrifft, denn wir laufen durch diese Straße, weil es eben eine Straße unserer Stadt ist. Viel­leicht gab es dort früher keine Straße, viel­leicht wird es dort einmal keine Straße mehr geben. Weder waren die Häuser früher grund­sätz­lich häss­li­cher, noch sind sie heute grund­sätz­lich schöner, noch werden sie in der Zukunft grund­sätz­lich schöner oder grund­sätz­lich häss­li­cher sein. Alles ist möglich. Manchmal stehen häss­liche und schöne Häuser direkt neben­ein­ander.

„Ich würde nie und nimmer erwarten, dass die Met die Gegen­wart abbildet“

Der Name dieser Stadt ist Gegen­wart. Vor einer Sekunde war der Name der Stadt Vergan­gen­heit, in einer Sekunde ist der Name der Stadt Zukunft. Aber dort wo wir uns aufhalten, ist auf immer und ewig „Gegen­wart“ der Name dieser Stadt. Da sich die Stadt ständig verän­dert, ist sie aber auch ständig lebendig, es ist ein Kommen und Gehen in dieser Stadt, und sie blüht auf, je bunter dieses Treiben ist.

In der sehr modernen chine­si­schen Groß­stadt Chengdu gibt es vor allem Hoch­häuser, da fast nichts von der alten Stadt übrig­ge­blieben ist. Mitten im Zentrum aber, hat man aus Nost­algie einen Distrikt gebaut, der genauso aussieht, wie es früher dort aussah. Das sieht sehr hübsch aus, und die Touristen oder Bewohner dieser Stadt besu­chen die kleinen male­ri­schen Fake-Gäss­chen, die voller Souve­nir­ge­schäfte sind. Wenn der letzte Besu­cher gegangen ist, schließt man dort die Pforten und macht das Licht aus, denn dieser Distrikt ist nichts weiter als ein Museum, niemand lebt dort. Es ist schön, dass es dieses Museum gibt, aber das Leben, die Stadt mit Namen Chengdu oder Gegen­wart, findet woan­ders statt.

Für mich ist zum Beispiel ein Unter­nehmen wie die Metro­po­litan Opera ein solcher Muse­ums­di­strikt. Es gibt viele Besu­cher, auch Touristen, die sehr viel Geld dafür zahlen, um zu sehen, wie Oper im vor allem 19. Jahr­hun­dert aussah. Das ist schön anzu­sehen, und da das als Busi­ness funk­tio­niert, ist dagegen auch grund­sätz­lich nichts einzu­wenden. Aber ich würde nie und nimmer erwarten, dass die Met die Gegen­wart abbildet, sie bildet allein die Vergan­gen­heit ab, mit kostü­mierten Stars die so tun, als stünden sie in der Scala im Jahre 1850.

„Ich erfahre darin aber nichts über das Flirt­ver­halten heutiger Menschen im Zeit­alter von Whatsapp“

Von einem öffent­lich-recht­li­chen Sender erwarte ich, dass ich etwas von der Gegen­wart mitbe­komme. Ich möchte nicht, dass der Nach­rich­ten­spre­cher mir alleine Nach­richten aus dem 19. Jahr­hun­dert vorliest, und ich möchte auch nicht, dass alle Tatorte im des 18. Jahr­hun­derts spielen. Ich möchte das aktu­elle Fußball­spiel aus der aktu­ellen Liga kommen­tiert bekommen, und nicht nur Cricket-Spiele aus dem Jahre 1880. Genauso erwarte ich von einem “Stadt­theater”, einem “Staats­theater” oder einem “Landes­theater” (die alle­samt genauso wie die öffent­lich-recht­li­chen Sender letzt­lich von meinem eigenen Geld mitfi­nan­ziert werden), dass sie – auch – Gegen­wart abbilden, und das bitte nicht zu wenig.

“Cosí fan tutte” ist eine wunder­schöne Oper, in der ich sehr viel über das komplexe Verhältnis verschie­dener Stände im 18. Jahr­hun­dert erfahre. Ich erfahre darin aber nichts über das Flirt­ver­halten heutiger Menschen im Zeit­alter von whatsapp, nichts über die Verein­sa­mung in den Groß­städten, nichts über die Verän­de­rung tradi­tio­neller Geschlech­ter­rollen oder über Fake News und Inter­net­ver­dum­mung. Um über diese Themen etwas heut­zu­tage in einer Insze­nie­rung von “Cosí fan tutte” zu erfahren, müsste ein enga­gierter Regis­seur diese Oper mühsam umdeuten, verfäl­schen, verän­dern, gegen­sätz­lich inter­pre­tieren, konter­ka­rieren. Das ist möglich, macht aber letzt­lich sehr viel Arbeit, so als ob man einen Schuh herstellt, den man über einen anderen Schuh über­stülpen muss. Warum dann nicht gleich einen davon unab­hän­gigen, neuen Schuh? Warum kann der alte Schuh nicht einfach so bleiben wie er ist? Das würde seiner Funk­tion keines­wegs irgend­einen Abbruch tun.

„Für beides – das Alte und das Neue – ist genug Platz“

Schließ­lich geht ja auch nicht jeden Tag jemand ins Museum, und malt das schöne Bild von Rembrandt nochmal neu um. Nein, es ist schön und wahr­haftig so wie es ist.

Das Alte erstrahlt in der Erin­ne­rung an das Vergan­gene. Das Neue erstrahlt in seiner Gegen­wär­tig­keit und in seinem Ausblick auf die Zukunft.

Beides brau­chen wir gleich­zeitig in den Opern­häu­sern dieser Welt, zumin­dest in denen, die keine kommer­zi­ellen Touris­ten­be­triebe sind. Für beides – das Alte und das Neue – ist genug Platz.

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Aber wie sieht es wirk­lich heute aus? Schauen wir uns das Durch­schnitts­alter der gespielten Opern in den folgenden Städten an…

FRANK­FURT bis LEIPZIG

OPER
113 Jahre (modernstes Stück: 2 Urauf­füh­rungen)

MITTEL­SÄCH­SI­SCHES THEATER -DÖBLIN
224 Jahre (modernstes Stück: Smetana/​Die verkaufte Braut, 151 Jahre alt)

THEATER
55 Jahre (modernstes Stück: 2 Urauf­füh­rungen)

STADT­THEATER FÜRTH
16 Jahre (modernstes und einziges Stück: Glanert/​Scherz, Satire…,16 Jahre alt, Wieder­auf­füh­rung)

MUSIK­THEATER i.R. GELSEN­KIR­CHEN
125 Jahre (modernstes Stück: Poulenc/Dialogues…60 Jahre alt)

STADT­THEATER GIESSEN
152 Jahre (modernstes Stück: Strauss/​Ariadne auf , 56 Jahre alt)

GERHART-HAUPT­MANN-TEATER GÖRLITZ‑Z.
158 Jahre (modernstes Stück: Menotti/​Konsul, 67 Jahre alt)

OPER GRAZ
138 Jahre (modernstes Stück: Piazzolla/​Maria d. Buenos Aires, 49 Jahre alt)

THEATER GREIFS­WALD-STRAL­SUND
121 Jahre (modernstes Stück: Previn/​A Streetcar…, 19 Jahre, Wieder­auf­füh­rung)

THEATER HAGEN
198 Jahre (modernstes Stück: Talbot/​Everest, 3 Jahre, Wieder­auf­füh­rung)

HALBERSTADT/QUEDLINBURG
182 Jahre (modernstes Stück: Smetana/​Die verkaufte Braut, 151 Jahre alt)

THEATER
111 Jahre (modernstes Stück: 2 Urauf­füh­rungen)

HAMBUR­GI­SCHE STAATS­OPER
114 Jahre (modernstes Stück: 4 Urauf­füh­rungen)

NIEDER­SÄCH­SI­SCHES STAATS­THEATER
99 Jahre (modernstes Stück: 1 Urauf­füh­rung)

THEATER
173 Jahre (modernstes Stück: Andriessen/​Writing to Vermeer, 18 Jahre alt)

THEATER HEIL­BRONN
207 Jahre (modernstes Stück: Weber/​Freischütz, 196 Jahre alt)

THEATER HILDES­HEIM
151 Jahre (modernstes Stück: Frid/​Das Tage­buch der Anne Frank, 48 Jahre alt)


170 Jahre (modernstes Stück: Reimann/​Traumspiel, 53 Jahre alt)


137 Jahre (modernstes Stück: Stravinsky/Rake’s Progress, 66 Jahre alt)

BADI­SCHES STAATS­THEATER
199 Jahre (modernstes Stück: Gounod/​Romeo und Julia, 150 Jahre alt)

STAATS­THEATER
171 Jahre (modernstes Stück: Stravinsky/Rake’s Progress, 66 Jahre alt)


178 Jahre (modernstes Stück: Strauss/​Arabella, 85 Jahre alt)

THEATER
102 Jahre (modernstes Stück: Eötvös/D.gold.Dr., 3 Jahre alt, Wieder­auf­füh­rung)

BÜHNEN KÖLN
143 Jahre (modernstes Stück: Oehring/Kunstmuss…UA)

THEATER KREF.-MÖNCHENGLADBACH
133 Jahre (modernstes Stück: Nyman/​Der Mann…24 Jahre alt, Wieder­auf­füh­rung)


173 Jahre (modernstes Stück: Strauss/​Rosenkavalier, 106 Jahre alt)


124 Jahre (modernstes Stück: Berg/​Lulu, 80 Jahre)

Fotos: Jörg Landsberg