Münchner Volkstheater
Ende ohne Happy
von Antoinette Schmelter-Kaiser
19. Dezember 2023
Am Münchner Volkstheater inszeniert Juli Mahid Carly „Hänsel & Gretel: A Sweet Escape“: eine schrille Uraufführung über dysfunktionale Familien und Essstörungen frei nach dem Märchen der Gebrüder Grimm.
„Wie im Märchen“ wird gerne als Umschreibung für besonders schöne oder romantische Situationen verwendet. Dabei können Märchen auch ganz anders sein. Ein gutes Beispiel ist das grausame Schicksal von „Hänsel und Gretel“: Das Geschwisterpaar wird nicht nur von seinen Eltern im Wald alleine zurück gelassen, sondern dort auch noch von einer Hexe mit Appetit auf Menschenfleisch gefangen gehalten. Dieses doppelte Drama durchzieht die Uraufführung am Münchner Volkstheater als roter Faden und wird abschnittsweise in der Grimmschen Originalfassung vorgelesen.
Gleichzeitig hebt Juli Mahid Carly sein Stück auf eine zweite Ebene, die im Hier und Heute spielt und um die Thema Essstörungen, Generationenkonflikte und Geschlechterrollen kreist: Während Hänsels Hunger nicht zu stillen ist, verweigert Gretel die Nahrungsaufnahme; von Vater und Stiefmutter fühlen sich beide vernachlässigt. In die Haut der Hexe schlüpft eine exaltierte Drag Queen, die zwischen Gut und Böse laviert und ihr Umfeld mal mit Familienaufstellungen oder Diabetes-Beratung coacht, mal knechtet und drangsaliert. Der ständige verbale Schlagabtausch aller Protagonisten greift Queerness-Diskussionen und Social Media-Routinen genauso auf wie Psychosprech-Plattitüden. Seinem Fluss zu folgen, verlangt den Zuschauern einiges ab, sorgt aber auch für viele Lacher. Bei Kostümen und Maske zündet das Stück ebenfalls ein Feuerwerk und überzeichnet jede Figur in ein schrilles Extrem ihrer selbst. Insbesondere Anne Stein, doppelbesetzt als Vater und Wolf, brilliert trotz kleiner Statur mit ausdrucksstarker Bühnenpräsenz.
Streckenweise schrammen Sprache und Spiel am Klamauk, wirken bisweilen chaotisch und überfrachtet. Letztendlich fügen sich die viele Handlungsfäden aber wieder: Beim Schlussbild steht die dysfunktionale Familie vereint vor dem Vorhang mit der verschnörkelten Aufschrift „Mahlzeit“ – ein Ende ohne Happy, aber mit viel Applaus.
Weitere Aufführungen am 22./28./29.12.23 und 20./21.1.24, www.muenchner-volkstheater.de