Jörg Widmann

Ein Märchen für unsere Zeit

von Anna Mareis

10. Oktober 2018

Preisträger in der Kategorie Kammermusikeinspielung | Musik 19. Jahrhundert / gemischtes Ensemble: Jörg Widmanns Komposition »Es war einmal…« spielt mit alten Ritualen und öffnet dennoch neue Welten.

„Es war einmal …“ – so beginnen Märchen, so beginnen Reisen in voll­kommen neue Welten, so beginnen Geschichten zum Träumen. Und so beginnt für viele die Kind­heit. Auch für den Klari­net­tisten und Kompo­nisten : „Märchen mit ihren arche­ty­pi­schen Figuren und ihren Märchen­for­meln wie ‚Und wenn sie nicht gestorben sind …‘ haben mich, seit ich denken kann, faszi­niert und in Unruhe versetzt“, sagt er. „Weil sie immer auch Seis­mo­graf unter­schwel­liger mensch­li­cher Ur-Ängste und ‑Wünsche sind.“ Das „Es war einmal …“-Phänomen hat Widmann bis heute nicht losge­lassen. Ihm geht er in seiner wunderbar-wunder­samen Kompo­si­tion nun auf den Grund. Natür­lich mit einem Vorbild im Kopf: Robert Schu­manns Märchen­er­zäh­lungen.

Das Label myrios clas­sics hat Es war einmal … mit Widmann selbst, der wunder­baren Brat­schistin und dem Pianisten Dénes Várjon aufge­nommen. Widmanns Idee ist, das Märchen aus unserer Zeit heraus neu zu beleben: Die „Es war einmal …“-Welt ist für ihn auch ein Gegen­ent­wurf zu unserer Wirk­­­lichkeit, zu dem, was wir Realität nennen, zu Zwängen und Erwar­tungen und gleichsam ein Kosmos dunkler Ab­­gründe, unserer Ängste und Sorgen.

„Als Inter­pret und als Kompo­nist habe ich Robert Schu­manns Märchen­er­zäh­lungen immer als ein zerris­senes, modernes, komplexes Stück empfunden“, sagt Widmann. „Inso­fern möchte ich mein eigenes ‚Es war einmal …‘ auch nicht als senti­mental-nost­al­gi­sche Flucht in lang zurück­lie­gende Zeiten verstanden wissen, sondern als naiv-fantas­ti­schen Gegen­ent­wurf zu unserer realen Welt mit all ihren Verwer­fungen.“

Genau das macht den Charme dieser Aufnahme aus. Tabea Zimmer­mann ist mit ihrem dunkel-leuch­tenden Brat­schenton keine Märchenoma, eben­so­wenig erzählen Jörg Widmann mit seinem samt-seidigen Klari­net­ten­klang und Dénes Várjon mit seinem singenden Klavier alte Geschichten wie alte Männer. Im Gegen­teil: Es war einmal … ist eine Kompo­si­tion, die den Geist unserer Gegen­wart trägt und gleichsam abtaucht in Welten des ritu­ellen Erzäh­lens und auch Visionen für ein neues, gegen­wär­tiges Märchen entwirft. Der Kontrast zwischen neuen und alten Märchen, zwischen Ober­fläche und Tief­gang tut sich beson­ders dann auf, wenn am Ende der Aufnahme die alten Märchen­bilder von Schu­mann in ihrer modernen Zerris­sen­heit zu hören sind.

Fotos: Marco Borggreve