Axelrods Weinlese
Château Moll
von John Axelrod
1. September 2011
Der Dirigent John Axelrod liebt klassische Musik und Wein – hier verrät er, welch intime Verbindung zwischen diesen beiden Welten besteht.
Eine schöne Sinfonie ist wie eine kostbare Flasche Wein, sagt man: Beide werden mit dem Alter besser. Die Symphonie, die Flasche Wein – beides sollte man daher ohne Unterbrechung bis zum Ende genießen. Klassische Musik und Weine werden schließlich mit den gleichen Worten beschrieben: ausgewogen, harmonisch, klangvoll, strukturiert, tiefgründig, strahlend, würzig, süß, trocken, exotisch, intensiv, traditionell und modern.
Die tiefgründigen Bordeaux-Weine passen hervorragend zur Intensität der Musik von Hector Berlioz.
Die Musik, wie der Wein, gründet auf einer anthropologischen Basis, die untrennbar mit ihrem Erleben verbunden ist. Wer in verschiedenen Ländern Musik machen will, muss die jeweilige Kultur des Landes verstehen. Und den Zugang zur Kultur eines Landes findet man auch über das Verkosten seiner Weine. Schauen wir deshalb einmal genauer hin. Die tiefgründigen Bordeaux-Weine passen hervorragend zur Intensität der intellektuellen, vielschichtigen und gleichermaßen exzessiven wie außerordentlich fantasievollen Musik von Hector Berlioz. Die fünf Rebsorten, aus denen der Bordeaux-Cuvée gekeltert wird, heißen Cabernet Sauvignon (mit edler Struktur), Merlot (elegant), Cabernet Franc (zurückhaltend, jedoch aromatisch), Malbec (fruchtig-würziger Körper) und Petit Verdot (dunkle Farbe).
In der Symphonie Fantastique von Berlioz bilden die fünf Sätze eine Synthese von Gedanken, die in einem Werk verschmelzen. Das musikalische Motiv, das im Leitmotiv der „idée fixe“ auftritt, wird in erstaunliche Höhen gesteigert, so dass diese Phrase am Ende zur Verherrlichung des Werkes wird. Wenn Sie dieses Erlebnis perfekt nachempfinden wollen, genießen Sie diese künstlerische Fantasie mit einem Château Margaux, der Crème de la Crème der Bordeaux Cuvées. Eine weniger kostspieliger, jedoch ebenso intensiver Bordeaux ist der unverwechselbare Alter Ego – ebenfalls ein Château Margaux, der aber nur ein Viertel des Preises seines „großen Bruders” kostet.
Der physiologische Effekt dieser Weine gleicht dem der Musik: Es braucht Zeit und Hingabe, um das Zusammenspiel aller Elemente wahrnehmen zu können. Das Blut gerät in Wallung, der Abgang klingt nach wie die Töne der Sinfonie – und die Nase dieses Weines ist so komplex wie bei einem Zaubertrank. Beides zusammen ist Musik für die Seele – so, wie es Berlioz haben wollte.
Die Orgelsinfonie von Saint-Saëns oder Gounods Juwelenlied aus Faust sind wunderbare Beispiele von Sinfonien, die zu Burgunderweinen passen.
Eine andere Seite der französischen Weinkultur, in ihrer geschmeidigen Weichheit vergleichbar mit der Romantik von Saint Saëns und Gounod, ist an der Côte d’Or Burgunds zu finden – im üppigen Grand Cru Château Grenouilles Chablis oder dem graziösen Vosne Romannée von Joseph Drouhin. Der Chardonnay mag bekannter sein. Aber der Pinot Noir veredelt die Konturen der Burgunderweine und verschafft ihnen eine Fruchtigkeit, die im Abgang lange nachklingt. Die Orgelsinfonie von Saint-Saëns oder Gounods Juwelenlied aus Faust sind wunderbare Beispiele von Sinfonien, die zu solchen Weinen passen. Mit ausholenden Notenlinien und gehaltvollen Zwischenräumen, mit Phrasen, die die Taktgrenzen überschreiten. Eben so, wie die Weine aus dem Burgund die Grenzen ihres fruchtbaren, humiden Landstriches sprengen.
Weitere Optionen für Pinot Noir und Chardonnay sind der Faiveley Mercurey Clos du Roy und Clos Devant Chassagne Montrachet von Domaine Lequin-Colin, die beide bei etwa 30 Euro pro Flasche liegen. Diese Weine sind äußerst kultiviert. Sie sollten auf einer eher geistigen Ebene genossen werden. Wenn man sich klar macht, wie strukturiert und plastisch die dazugehörige Musik ist, dann verdient der Wein für seine Ausgewogenheit am Gaumen das gleiche mentale Bewusstsein.
Die Exotik der französischen Musik des 20. Jahrhunderts vom Impressionismus Debussys bis hin zum Expressionismus Messiaens harmonisiert schließlich besonders mit den schweren, tiefgründigen und natürlichen Weinen des Südens. Wer La Mer und Turangalîla hören will, sollte einen Vieux Telegraph Châteauneuf-du-Pape Syrah Cuvée öffnen – diese königliche Anmutung, diese eklektische Verschmelzung der Harmonien, diese Erotik und Intensität. Die Weine aus dem Süden erwecken unsere Seele. Jeder Schluck erinnert uns daran, weshalb wir dort Urlaub machen. Die Wirkung dieser Weine auf unsere Körper ist nicht weniger stark als die der Sommerhitze in der Provence. Eine Alternative, die keine Schwindsucht in Ihrem Portemonnaie verursacht, ist der Châteauneuf-du-Pape von Domaine de la Roncière (30 Euro).
Schuberts Liederzyklen, seine Winterreise und Die schöne Müllerin sind in Verbindung mit dem Holzspur St. Laurent ein wunderbarer Genuss.
Das Vorurteil, dass unter den deutschen und österreichischen Weinen nur süßliche Rieslinge oder der Gewürztraminer wirklich zu genießen sind, ist längst ausreichend entkräftet. Tatsächlich sind im Burgenland und der Thermenregion einige sehr tiefgründige St. Laurent-Rotweine entstanden, die gut zur Symmetrie, Reinheit und Ausgewogenheit des österreichischen Klassizismus von Haydn über Mozart und Beethoven bis hin zu Schubert passen. Schuberts Liederzyklen, seine Winterreise und Die schöne Müllerin sind in Verbindung mit dem Holzspur St. Laurent ein wunderbarer Genuss – samtig und luxuriös, oft missverstanden, immer von tiefgründigem Charakter und melodisch am Gaumen, viel besser als erwartet und längst noch nicht angemessen gewürdigt. Einmal stieß ich auch auf den köstlichen St. Laurent Juris Reserve des Weinguts Juris, der gerade mal so viel kostete wie ein gutes Wiener Schnitzel. Der St. Laurent vermittelt ein wohlig vertrautes Gefühl, wie die Klassische Schule, getragen von seiner sorgfältigen Erzeugung. Man nimmt die Frucht wahr, aber auch viel gesunden Menschenverstand.
Es ist jedoch Wagner, der die österreichisch-deutsche Musikwelt beherrscht. Hören Sie den Ringzyklus von Richard Wagner, während Sie eine Kiste Deutschen Riesling von J.J. Prüm Gracher Himmelreich von der Mosel genießen. Dann bemerken Sie sofort dessen rundes, fruchtiges Naturell, bei der sich eine Seite als zugänglich, die andere aber mehr von Sturm und Drang beeinflusst zeigt. Dieser Wein hat Charakter. Er ist dynamisch und sehr ausdrucksstark. Er wird aber oft unterschätzt und überkonsumiert. Wie Wagner sind die Weine aus dem Moselgebiet oder dem Elsass auf der Zunge frisch, jedoch kantig; mit tiefer Herz‑, aber leichter Kopfnote. Es dauert seine Zeit, einen guten Riesling zu genießen. Die Gefahr liegt darin, ihn zu schnell zu konsumieren. Ziemlich genau dasselbe lässt sich von Wagner sagen. Noch mehr Gültigkeit hat dies für den Gunderloch Jean Baptiste Riesling, der um einiges kostengünstiger ist und ein perfekter Begleiter für ein Bayreuth-Picknick.
De Fallas Liebeszauber fängt den tiefgründigen, vollen, berauschenden und hohen Alkoholgehalt dieser Weine ein.
Es braucht kaum mehr als die Würze, das Tannin und den Duft tiefgründiger Tempranillos, um einen Bezug zur spanischen Musik zu finden. De Fallas Liebeszauber fängt den tiefgründigen, vollen, berauschenden und hohen Alkoholgehalt dieser Weine ein. Versuchen Sie mal, beim Feuertanz still zu sitzen, während Sie einen Rioja Riserva von Marqués de Cáceres (oder ein Glas des weniger kostspieligen, jedoch ebenso erfreulichen Crianza) trinken. Wie der Flamenco selbst wird auch Ihre Zunge diesen Tanz voller Schönheit, Anmut und Leidenschaft vollführen. Rioja-Weine sind ein umwerfendes Geschmackserlebnis und steigen schwer zu Kopf. Es ist leicht, sich von einem solchen Wein berauschen zu lassen, genauso leicht wie uns die spanischen Rhythmen verführen.
Der Barolo aus dem Piemont in Italien, der Brunello aus der Toskana oder mein Favorit, der Amarone aus dem Veneto, erzählen alle vom theatralischen Naturell der italienischen Oper von Verdi bis Puccini. La Traviata wurde am La Fenice in Venedig uraufgeführt. Was könnte also besser geeignet sein, das Libiamo zu zelebrieren als mit einem Amarone Riserva von Giuseppe Quintarelli. Den kennzeichnet ein hoher Zuckergehalt und ein dramatisches Aroma. Aber auch ein Amarone von Masi wird diese Arie zu einem Erlebnis machen. Zucker ist der Hauptverantwortliche für den hohen Alkoholgehalt dieser Weine. Aber Vorsicht: Er macht sich nicht nur an den Geschmacksknospen, sondern auch auf den Hüften bemerkbar!
Bevorzugt man einen leichteren, jedoch noch tanninhaltigeren Wein, kann man mit Weinen aus Kampanien im sonnigen Süden Italiens das filigrane Wesen Rossinis heraufbeschwören. Nippen Sie an einem Taurasi Riserva von Mastroberardino oder am preiswerteren, jedoch ebenso feurigen Feudi di San Gregorio, und der vulkanische Funke der Aglianico-Rebe wird Ihre Zunge in Bewegung versetzen – genauso wie es Figaros „Largo al factotum“ aus dem Barbier von Sevilla vermag.
Amerikanische Weine sind, wie amerikanische Musik, Paradebeispiele für Wohlfühl-Kultur.
Kalifornische Weine aus dem Napa oder Sonoma Valley lassen sich am besten als ausgewogen, virtuos, fruchtig, optimistisch und energiegeladen beschreiben. Amerikanische Weine sind, wie amerikanische Musik, Paradebeispiele für Wohlfühl-Kultur. Hört man Copland oder Bernstein, können die amerikanischen Weine mit ihrer Verwegenheit, ihrem Freiheitsdrang und ihrer Bereitschaft, an die Grenzen zu gehen, mit ihnen gleichziehen. Robert Mondavis Weine lassen sich durchaus mit den großen französischen Weinen vergleichen. Ihr größter Verdienst jedoch war, dass Amerika durch sie einen Platz im Weinatlas der Welt gefunden hat. Dasselbe ist den amerikanischen Komponisten des 20. Jahrhunderts gelungen. Physiologisch bringen sie das Gefühl von Freude und Optimismus. Vor allem, wenn sie den Körper dazu verleiten, mehr und mehr aufzunehmen. Die Frucht, Struktur, Nase und Qualität dieser Weine ist mit denen ihrer europäischen Kollegen durchaus vergleichbar, wobei sie zwar auch traditionell, aber dennoch innoviationsfreudiger sind.
Legen Sie Bernsteins Prelude, Fugue and Riffs ein und versetzen Sie Ihre Sinne in Schwingung mit einem nicht allzu teuren, jedoch herrlich energiegeladenen Jack London Kenwood Red Zinfandel. Wenn Sie die Freiheit der amerikanischen Landschaft in ihrer ganzen Schönheit nachempfinden möchten, versuchen Sie zum Schluss den Cabernet Sauvignon Reserve von Robert Mondavi (schon die normalen Cabernets von Robert Mondavi sind inspirierend), während Sie den rustikalen, aber volltönenden Rhythmen von Coplands offenen Harmonien in seinem Appalachian Spring lauschen.
Musik und Wein – das sind gleichberechtigte Partner, die sich gegenüberstehen, um gemeinsam ein Fest der Freude zu feiern. Mögen die unterschiedlichen Kulturen an Grenzen gebunden sein; die Freude an Musik und Wein kennt keine Grenzen.