Axelrods Weinlese

Erprobt versus Exot

von John Axelrod

12. Juni 2018

Bei Veranstaltungsorten wie bei Weinen rangelt das Altbewährte oft mit dem für Ohren oder Gaumen nicht immer gut konsumierbaren Außergewöhnlichen.

Wenn es um die musi­ka­li­sche Auffüh­rungs­praxis geht, gibt es einige zentrale Krite­rien: Akustik, Bühnen­größe, Anzahl der Sitz­plätze und Zugäng­lich­keit. Erweist sich etwas davon als subop­timal, wird’s schnell schwierig. Trotzdem wurde die Suche nach neuen, außer­ge­wöhn­li­chen Aufführungs­orten fast schon zum neuen Sport. Wen kümmert schon die Qualität, wenn es einfach cool ist, Oper im Bahnhof, Kammer­musik im Flug­hafen oder große Sinfonik in einer Disco zu präsen­tieren?

Es zählt die Medi­en­wirk­sam­keit.

Genauso gibt es Weine, die an unge­wöhn­li­chen Orten wachsen. Ob sie gut sind, ist dabei unwichtig. Es zählt die Medi­en­wirk­sam­keit. Wein zu trinken, der in einem Vulkan gewachsen ist oder auf 3.100 Meter Höhe fermen­tiert wurde, macht einfach mehr her. Glück­li­cher­weise kann der Wein dennoch gut sein.

Zum Beispiel der von Colomé. Deren Wein wird im oberen Calchaquí-Tal der Provinz Salta in Argen­ti­nien ange­baut. Ihr höchstes Wein­bau­ge­biet, passend Altura Máxima genannt, liegt auf 3.111 Meter Höhe und ist damit das höchste kommer­ziell genutzte Wein­bau­ge­biet der Welt. Und wie schmeckt das Tröpf­chen? Groß­artig! Der Bodega Colomé Estate Malbec 2015 ist ein preis­ge­krönter, mit 92 Parker-Punkten bewer­teter, reich­hal­tiger Rotwein, voll von Beeren- und Kirsch­aromen mit Pfeffer‑, Tabak- und Scho­ko­la­den­note.

Wen kümmert die Qualität, wenn bloß der Ort medi­en­wirksam ist?

Die besten Konzert­säle der Welt wie das Amster­damer Concert­ge­bouw, die Berliner Phil­har­monie oder der Wiener Musik­verein wurden für das spezi­fi­sche Reper­toire ihrer Orchester designt. Beim Bau stand die Musik an erster Stelle. Bei anderen Sälen war die Musik ein Nach­trag, stand die Archi­tektur im Vorder­grund. Im 21. Jahr­hun­dert zählt allein, ob der Veran­stal­tungsort Publikum anlockt. Aber die entschei­dende Frage ist, ob diese neuen, extra­va­ganten Orte nach­haltig die Zuschau­er­zahlen stei­gern. Wenn Leute Musik in der Disco oder in der U‑Bahn hören, gefällt ihnen das mögli­cher­weise nicht, und wenn doch, wollen sie sie viel­leicht nirgends anders mehr hören – vor allem nicht an diesen stickigen Orten, die eine gewisse Etikette erfor­dern, an eine Kirche oder eine Beer­di­gung erin­nern. Anders gesagt: Ein Konzert­saal kann erheb­lich den Charakter eines Orches­ters oder des Publi­kums­er­leb­nisses beein­flussen. Er gibt dem Orchester eine Heimat, eine Iden­tität. Trotzdem schrumpft das Publikum für klas­si­sche Musik, was Orchester, Veran­stalter und Labels dazu zwingt, alter­na­tive Veran­stal­tungs­orte zu finden, die eine tiefere Verbin­dung zum Zeit­geist und modernen Lebens­stil ermög­li­chen. Funk­tio­niert das? Oft nicht. Macht das Spaß? Absolut. Was ist also die bessere Vari­ante? Weder noch. Beides wird benö­tigt, um das Publikum der Zukunft zu schaffen und zu bewahren.

Für Wein gilt genau das Gleiche: Es braucht die Boden­stän­digen aus passendem Klima, passenden Höhen und Regionen. Und ande­rer­seits die Exoten wie den Wein aus dem tahitia­ni­schen Rangiroa, einer para­die­si­schen Insel im Südpa­zifik. Oder dem aus Lanza­rote, dem „Wein­keller des Teufels“: Krater und Vulkan­ge­stein schützen die Reben vor starken Winden, lassen die Land­schaft außer­ir­disch wirken, obwohl der Vulkan­boden sehr nähr­stoff­reich ist und die Reben gesund und kräftig wachsen lässt.

Ein groß­ar­tiges Orchester benö­tigt einen groß­ar­tigen Konzert­saal wie ein groß­ar­tiger Wein perfekte Reben und perfektes Klima.

Ein groß­ar­tiges Orchester benö­tigt einen groß­ar­tigen Konzert­saal wie ein groß­ar­tiger Wein perfekte Reben und perfektes Klima. So würde ich einen soliden Premier Cru nicht gegen einen Edivo Viva eintau­schen, der in gut verkorkten Amphoren in einem versun­kenen Schiff vor der dalma­ti­ni­schen Adria­küste gela­gert wird. Aber von Zeit zu Zeit kommt doch ein neuer Konzertort wie die oder ein Wein vom Dach der Welt daher und ändert einfach alles.

Fotos: Bodega Colomé