KlassikWoche 19/2022

Orchester-Pinguine, Opern-Pläne und Putins Propa­gan­disten

von Axel Brüggemann

9. Mai 2022

Vladimir Jurowski für neue Orchester-Strukturen, Moritz Eggert über die Bayerische Akademie der Schönen Künste, die Spielpläne der Saison 2022/23

Will­kommen in der neuen Klas­sik­Woche,

heute mit grund­le­genden Fragen: Wie sieht das Orchester der Zukunft aus? Was läuft schief an der Baye­ri­schen Akademie der Schönen Künste? Und wie kann es sein, dass ausge­rechnet die russi­sche Zentral­bank-Chefin, die Rubel für Öl fordert, auch die Bilanzen von musi­cAe­terna beglau­bigt?

PINGUINE, ZIEHT DEN FRACK AUS! 

Münchens GMD Vladimir Jurowski

Letztes Wochen­ende war ich auf dem Deut­schen Orches­tertag – und es ging durchaus hoch her, und auf dem Podium kam es zuweilen zu grund­sätz­li­chen Debatten. Münchens GMD Vladimir Jurowski blickte auf briti­sche Orchester wie das London Phil­har­monic Orchestra und erklärte, dass sich hier jedes Mitglied seiner exis­ten­zi­ellen Verant­wor­tung für das Ensemble bewusst sei.

In unserem Gespräch für den Podcast „Alles klar, Klassik? fordert Jurowski ein Neudenken der Orchester-Struk­turen, beson­ders die Kompo­nenten von Sicher­heit und Krea­ti­vität müssen erneut hinter­fragt werden. „Wir müssen Lösungen für den Fakt finden“, sagt Jurowski, „dass wir Leute im Orchester haben, die vor 20 Jahren ein Vorspiel gewonnen haben und sich seither nicht mehr beweisen mussten.“ Jurowski plädiert für eine kluge Erneue­rung der Orchester und dafür, Musi­ke­rInnen mehr Verant­wor­tung zu geben bei gleich­zei­tiger Bewah­rung ihrer sozialen Sicher­heit. 

Außerdem merkt man der Branche die Müdig­keit nach zwei Jahre Corona an: „Einige Abtei­lungen haben das Gefühl von LongCovid“, sagt Anselm Rose von der Rund­funk Orchester und Chöre gGmbH Berlin. Andau­ernde Absagen, das ewige Neuor­ga­ni­sieren und das Fehlen von Erfolgs­er­leb­nissen durch Konzerte seien ermü­dend gewesen. Vor allen Dingen sorgt Rose sich darum, dass immer mehr Menschen die Orchester-Admi­nis­tra­tion verlassen: „Geringe Bezah­lung, großer Stress oder fami­li­en­feind­liche Arbeits­zeiten – viele Mitar­bei­te­rInnen aus dem Künst­le­ri­schen Betriebs­büro, aus dem Ticke­ting oder dem Marke­ting suchen im Tourismus oder in der Wirt­schaft nach Alter­na­tiven. Als Orchester müssen wir unbe­dingt auf diesen Trend reagieren.“ Ist die Klassik mit ihren alten Struk­turen (und oft auch alten Umgangs­formen) über­haupt noch attraktiv als Arbeits­platz? Darüber habe ich mir auch in einem Kommentar für den SWR Gedanken gemacht. Mein Gespräch mit Anselm Rose ist in einer der nächsten Podcast-Folgen zu hören, diese Woche rede ich dafür auch mit Ketan Bhatti und Cymin Sama­watie vom Trickster Orchestra.

ZOFF UM DIE BAYE­RI­SCHE AKADEMIE DER KÜNSTE

Die Bayerische Akademie der Schönen Künste in der Münchner Residenz

Einst war sie ein ehren­wertes Haus – dann kamen aller­hand Skan­dale, und so richtig im Lot scheint die Baye­ri­sche Akademie der Schönen Künste noch immer nicht zu sein. Kritik scheint uner­wünscht. Das jeden­falls bekam der Kompo­nist Moritz Eggert zu spüren, zu dessen „Verhalten“ man eine extra Sitzung anbe­raumt hatte. Lesens­wert sind seine Gedanken zu dieser Anschul­di­gung. Eggerts Frech­heit bestand in erster Linie darin, für Trans­pa­renz zur sorgen: Er fragte nach der Finan­zie­rung des Festi­vals „Lied und Lyrik“ in Ober­franken, bat um klare Regeln bei Lesungen und forderte demo­kra­ti­schere Struk­turen. „Gut, auch in der Akademie steht aktuell nur ein einziger Präsi­dent zur Wahl“, heißt es in Eggerts Text, „dass dieser Präsi­dent in jüngster Vergan­gen­heit für einen der größten Eklats in der Geschichte der Akademie sorgte (gefolgt von einem beispiel­losen Massen­aus­tritt), sollte uns und ihn nicht weiter beun­ru­higen, denn die Ausge­tre­tenen können ja nun nicht mehr gegen ihn stimmen, was sie ansonsten getan hätten. Auch sein beherztes Enga­ge­ment für Coro­na­ver­ste­her­initia­tiven wie ‚Aufstehen für die Kunst‘ oder ‚Alles­Dicht­Ma­chen‘ sollte man nicht gegen ihn auslegen.“ Es besteht Inno­va­tions-Bedarf, würde ich sagen. Sowohl in meinem Podcast nimmt Moritz Eggert noch einmal Stel­lung als auch hier in einer Sprach­nach­richt, um die ich ihn gebeten habe.

NICHT NUR EINE BANK! – DIE KLASSIK IM KRIEG

Der Vorstand von musicAeterna

Das Bild oben kursiert gerade im Netz, zu sehen ist der Vorstand des Orches­ters musi­cAe­terna 2021 in Russ­land, nachdem er – so heißt es auf der entspre­chenden, offi­zi­ellen Seite – die „Entwick­lungs­stra­tegie des Orches­ters“ für das Jahr 2022 debat­tiert habe. Wer noch Zweifel daran hat, dass das Ensemble bewusst für russi­sche Propa­ganda instru­men­ta­li­siert wird, muss wissen, dass hier drei der wohl engsten Vertrauten Wladimir Putins zu sehen sind: Andrej Kostin, der Vorsit­zende der sank­tio­nierten VTB Bank, Alex­ander Beglov, der durch Korrup­tion aufge­fal­lene Gouver­neur von St. Peters­burg (der eben­falls auf der euro­päi­schen Sank­ti­ons­liste steht) und Elwira Nabiu­l­lina, die Chefin der Russi­schen Natio­nal­bank (sie zwang inter­na­tio­nale Kunden, Gas- und Öl-Liefe­rungen entgegen bestehender Verträge in Rubel zu bezahlen). Auf dem Foto sind die drei nach dem Treffen mit ihrem Lieb­lings­di­ri­genten Teodor Curr­entzis zu sehen, der sich bis heute weigert, den Angriffs­krieg Putins zu verur­teilen. Es geht bei musi­cAe­terna schon lange nicht mehr allein um das Spon­so­ring der VTB Bank, sondern um direkte Einfluss­nahme des Putin-Kreises auf die Geschicke des Orches­ters. Span­nend in diesem Fall auch die Recherche von Alex­ander Strauch, der nicht nur die Nähe und Abhän­gig­keit von musi­cAe­terna gegen­über der Politik beleuchtet, sondern auch expli­zite Freund­schafts­be­kun­dungen von Curr­entzis an seine kreml­nahen Förderer zitiert. All das scheint Salz­burg-Inten­dant Markus Hinter­häuser noch immer nicht zu beein­dru­cken. Er will auch weiterhin an den Auftritten von musi­cAe­terna und Teodor Curr­entzis bei den Salz­burger Fest­spielen fest­halten und versteht noch immer nicht, warum das proble­ma­tisch sein könnte. Seit musi­cAe­terna 2020 von Perm nach St. Peters­burg gezogen ist, wurden Orchester und Diri­gent offen­sicht­lich von Putins mäch­tigem Haufen gekauft und mundtot gemacht.

Noch vor einigen Wochen hoffte Hinter­häuser auf ein klärendes Wort von Curr­entzis – bis jetzt lässt der Diri­gent den Inten­danten aller­dings zappeln. Und es gibt noch immer keine Anzei­chen, dass sich das ändert. Statt­dessen hört man bei Norman Lebrecht, dass musi­cAe­terna sich nun von allen nicht in Russ­land ansäs­sigen Musi­ke­rInnen trennen will. Müssen wir in den nächsten Wochen wirk­lich auch noch die Eigen­tums­ver­hält­nisse der russi­schen Spiel­stätte von musi­cAe­terna, von Curr­entzis neuer Heimat seit 2020, des DOM Radios in St. Peters­burg, aufklären und die Umstände von Curr­entzis’ russi­scher Staats­bür­ger­schaft, um noch klarer zu machen, wessen Mario­nette der Diri­gent ist – dass es sich bei ihm um einen Valery Gergiev 2.0. handelt? Verdammte Hacke, machen wir, wenn es sein muss – wir sind dran! +++ Dabei ist schnelles Handeln nicht so schwer. Letzte Woche hatten wir an dieser Stelle über die Tätig­keit des Konzert­meis­ters der Münchner Phil­har­mo­niker, Lorenz Nastu­rica-Hersch­co­wici, auf einer Russ­land-Tour mit Valery Gergiev berichtet, was in vielen Medien wie dem Merkur einen Nach­dreh fand. Auch die Abend­zei­tung hakte nach und konsta­tierte: „Dieser Auftritt mag juris­tisch erlaubt sein, aber beson­ders gut riecht er nicht. Nastu­rica-Hersch­co­wici hatte Zeit und Lust auf ein Konzert für Gergievs Stif­tung. Beim Ukraine-Soli­da­ri­täts­kon­zert der drei Münchner Orchester in der Isar­phil­har­monie, das vier Tage vor dem Moskauer Konzert statt­fand, blieb der dienst­äl­teste Konzert­meister der Phil­har­mo­niker unsichtbar.“ Am Freitag erklärten die Phil­har­mo­niker nun gegen­über der Abend­zei­tung (Print), dass sie Nastu­rica-Hersch­co­wici nach noch­ma­liger Prüfung die Neben­tä­tig­keit in Russ­land inzwi­schen unter­sagt hätten. +++ Das Bolschoi hat zwei Produk­tionen von Regis­seuren vom Spiel­plan genommen, die dem Krieg Russ­lands kritisch gegen­über­stehen. Timofej Kuljabin’s Produk­tion von „Don Pasquale” und Kirill Serebrennikov’s Ballet „Nurejew” werden in Moskau derzeit nicht gespielt.

PLÄNE, PLÄNE, PLÄNE

Jahrespressekonferenz der Berliner Philharmoniker

Bei den Berliner Phil­har­mo­ni­kern ist zu erkennen, dass man hier – und ich halte das für zukunfts­wei­send! – auf immer mehr Tiefe setzt. Man werde das Kern­re­per­toire ausbauen und Rari­täten ausgraben, mehr Mozart als bisher spielen, endlich ein Orato­rium von Mendels­sohn und drei Urauf­füh­rungen. Chef­di­ri­gent Kirill Petrenko war auf der Pres­se­kon­fe­renz betont sach­lich, wie Frederik Hanssen fest­stellte: „‚Wir beginnen, einander zu vertrauen‘, ‚die Arbeit wird persön­li­cher‘, „ich hoffe, dass ich dem Orchester etwas Gutes tun kann’, ‚wir sind zusammen auf einem richtig guten Weg’. Die Flit­ter­wo­chen­phase ist wohl defi­nitiv vorbei, der Weg durch die Ebene – die bei den Phil­har­mo­ni­kern natür­lich immer ein Hoch­pla­teau ist – nicht ohne Mühen.“ 

Diver­sität steht an vielen Häusern inzwi­schen im Vorder­grund. So auch beim neuen Inten­danten des Beet­hoven-Festes, Steven Walter. Queere Musiker und Musi­ke­rinnen gestalten das Programm genauso wie Menschen aus verschie­denen Kulturen oder Menschen mit Einschrän­kungen. Auch beim Publikum wünscht sich Walter eine große Viel­falt: „Wir wollen die Gemein­schaft in ihren Unter­schieden zusam­men­bringen.“ Spie­le­risch divers erscheint das Programm an der Volks­oper in Wien: Hier scheint es Lotte de Beer tatsäch­lich ernst zu meinen, eine VOLKS-Oper für alle neu zu beleben: mit Urauf­füh­rungen, Klas­si­kern, mit lokalen Super­stars und über­re­gio­naler Bedeu­tung. Auch Stefan Herheim gelingt es, einen aufre­genden, modernen und viel­fäl­tigen Spiel­plan für die Ausweich­spiel­stätte des Thea­ters an der Wien vorzu­legen. Zwei neue Leitungen, gegen die Bogdan Roščićs Haus am Ring alt aussieht: Regie­theater der 2000er-Jahre und gefühlt alle Premieren von GMD Phil­ippe Jordan diri­giert. Viel­falt, so wie sie der Katalog der Haupt-Agenden des Hauses eben hergibt. Diver­sität auch am Münchner Gärt­ner­platz­theater: Inten­dant Josef E. Köpplinger will in einer bunten und kosmo­po­li­ti­schen Mischung Menschen mitein­ander verbinden. Umge­baut wird auch die Komi­sche Oper in Berlin, doch deren Weg von Barrie Kosky scheint sich auch trotz dessen Ausscheiden als Inten­dant nicht sonder­lich zu ändern. Nach­folger Philip Bröking erklärt: „Wir haben in den letzten Jahren mit Barrie Kosky außer­or­dent­lich eng zusam­men­ge­ar­beitet. Und da wir ziem­lich auf einer Wellen­länge funken, verspre­chen wir uns davon, dass wir aus seiner krea­tiven Energie, seinen Ideen weiter teil­haben.“ Die Oper Frank­furt will dem Spar­zwang trotzen und hält an einem Voll­pro­gramm fest. Inten­dant Bernd Loebe lässt Ted Huffman Mozarts „Zauber­flöte“ und Händels „Orlando“ insze­nieren. Der schei­dende GMD Sebas­tian Weigle über­nimmt „Meis­ter­singer“, „Elektra“ und „Die ersten Menschen“ von Rudi Stephan. „Krieg und Liebe“ ist das Motto der kommenden Spiel­zeit an der Baye­ri­schen Staats­oper. Geplant wurde es bereits lange vor dem Angriffs­krieg auf die Ukraine. Für Inten­dant Serge Dorny ist klar: Kriege gehören zur Realität – und dazu gehört auch, dass er Anna Netrebko derzeit nicht enga­gieren will. Tatsäch­lich scheinen Inten­dan­tInnen in der Oper gerade zwischen voll­kom­mener Konven­tion oder abso­lutem Neuauf­bruch zu pendeln. Span­nend dazu die Diskus­sion, die Wolf­gang Höbel und Hannah Pilar­czyk im Spiegel beginnen, wenn sie fragen: „Braucht das Theater noch Inten­danten?“ 

UND WO BLEIBT DAS POSI­TIVE, HERR BRÜG­GE­MANN?

Ja, wo zum Teufel bleibt es denn? Viel­leicht hier: Ich beob­achte derzeit einen grund­le­genden Wandel der Klassik-Szene, eine neue Diskus­si­ons­kultur, ein neues Nach­denken – eine grund­sätz­liche, struk­tu­relle, breite und leiden­schaft­liche Debatte über die Zukunft von Oper und Konzert und ihren gesell­schaft­li­chen Rollen. Eine immer brei­tere Öffent­lich­keit scheint nicht mehr alles teil­nahmslos abzu­ni­cken, sondern will selber teil­haben an den aktu­ellen Diskus­sionen (oben ein Ausschnitt der „Standard“-LeserInnen-Reaktionen auf Hinter­häu­sers Fest­halten an Curr­entzis). Viel­leicht ist ja genau DAS das POSI­TIVE: Wir scheinen uns derzeit alle ein biss­chen nackt zu machen. Das reibt, das quietscht, das kann auch mal wehtun (auf allen Seiten) – aber: Es hat einen Sinn, den wir viel­leicht viel zu lange nicht mehr verfolgt haben, zu fragen „warum das alles?“ – „für wen das alles?“ – und „unter welchen Bedin­gungen das alles“. Liebe Leute, so schwer die Dinge gerade manchmal scheinen, so groß ist unsere Chance auf neue, trans­pa­rente, gemein­same Struk­turen und einen Klassik-Betrieb, dessen Zahn­räder wieder in die Zahn­räder unserer knir­schenden Welt greifen: um sie zu befragen, emotional zu betrachten und nüch­tern zu analy­sieren, um die Kunst als das zu nutzen, was sie am besten kann: Grund­lage einer intel­lek­tu­ellen und emotio­nalen Debatte zu sein, in der niemand sterben muss, um dann unsere Wirk­lich­keit viel­leicht ein biss­chen besser zu machen.

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

Axel Brüg­ge­mann

brueggemann@​crescendo.​de

KORREKTUR

Axel Brüg­ge­mann hat in der Klas­sik­Woche 1822 vom 2. Mai 2022 die Behaup­tung verbreitet, dass Bogdan Roščić „auch zu der Gesell­schaft gehörte, die am 24. Februar, also nach Kriegs­aus­bruch, Curr­entzis‘ Geburtstag in St. Peters­burg gefeiert hat.“ Diese Behaup­tung ist falsch. Wir bedauern.

Fotos: dpa, Baye­ri­sche Akademie der Schönen Künste, Stephan Rabold