KlassikWoche 48/2023

Wo bleibt die Klassik-Soli­da­rität?

von Axel Brüggemann

27. November 2023

Katharina Wagner und die Sparmaßnahmen bei den Bayreuther Festspielen, die Suche nach einem Intendanten oder einer Intendantin am Konzerthaus Berlin, die Debatten in Nürnberg um die Interimsspielstätte des Staatstheaters.

Will­kommen in der neuen Klas­sik­Woche,

wir haben bei nach­ge­fragt, was es mit den Spar­maß­nahmen in Bayreuth auf sich hat, fragen uns, warum der Klassik die Soli­da­rität mit Israel so schwer­fällt, und fragen, wer frei­willig Inten­dantIn des Konzert­hauses in Berlin werden will. 

Anne-Sophie Mutter sieht „Krise im Geigen“

Anne-Sophie Mutter

attes­tiert unserer Zeit eine „Krise des Geigens“. Der Grund: „Das Problem ist die Ausbil­dung, es gibt zu wenig unter­schied­liche Ansätze an das Spiel. Da ist zu viel Glei­ches – so wirkt alles eindi­men­sional.“ Wirk­lich, Frau Mutter? Ich finde, so gegen­sätz­liche Geige­rInnen wie , , oder gab es schon lange nicht mehr – und keiner von ihnen klingt wie Anne-Sophie Mutter. 

Krea­tives Sparen in Bayreuth 

Das war mal wieder ein Sturm im Bayreu­ther Fest­spiel-Glas. Der Chor­vor­stand hat medi­en­wirksam per Pres­se­mit­tei­lung dagegen protes­tiert, dass der Fest­spiel­chor von 134 auf 80 Mitglieder redu­ziert werden soll. Das würde den „beson­deren Chor­klang“ der Fest­spiele grund­le­gend beein­flussen, hieß es.

Ich habe bei Katha­rina Wagner nach­ge­fragt. „Als Inten­dantin ist es für mich natür­lich höchste Prio­rität, dass nötige Einspa­rungen nicht auf Kosten der musi­ka­li­schen Qualität gehen“, sagt sie. „Selbst­ver­ständ­lich werden wir den Chor nach den Anfor­de­rungen der jewei­ligen Produk­tionen mit profes­sio­nellen Sänge­rinnen und Sängern aufsto­cken, sodass es keine quali­ta­tiven Einbußen geben wird.“ Was Wagner meint: Derzeit werden alle Chor­sän­ge­rInnen über die ganze Fest­spiel­zeit bezahlt, auch, wenn sie in Opern wie Rhein­gold, Walküre oder Sieg­fried gar nicht auftreten. In Zukunft könnte der 80 Stimmen starke „feste Chor“ je nach Produk­tion erwei­tert werden, etwa für die Fest­wiese in den Meis­ter­sin­gern, der Herren­chor für Parsifal (wo es einen klei­neren Frau­en­chor gibt), bis auf 134 Sänge­rInnen in Lohen­grin.

Bayreuther Festspiele, Parsifal

„Weder mir, noch den Gesell­schaf­tern macht es Freude, Spar­auf­träge umzu­setzen“, sagt Wagner gegen­über CRESCENDO, „aber die Fest­spiele sind nun einmal von den Trägern zum Sparen beauf­tragt. Und wir haben gemeinsam mit den Gesell­schaf­tern auf ganz unter­schied­li­chen Ebenen – von der Technik bis zum Orchester – Wege für Einspa­rungen beschlossen.“ Tatschlich müssen in Bayreuth bis 2025 wahr­schein­lich rund fünf Millionen Euro einge­spart werden, Tarif­stei­ge­rungen oder gestie­gene Ener­gie­kosten werden dabei nicht ausge­gli­chen. Dass auch die Kultur in Zeiten knapper Kassen sparen muss, hat das Fest­spiel­or­chester verstanden. „Gerade beim Orchester sind wir auf Verständnis und großes Entge­gen­kommen gestoßen“, berichtet Katha­rina Wagner. „Ich bin sehr dankbar dafür, dass sich die Musi­ke­rinnen und Musiker in einem gemein­samen Prozess bereit erklärt haben, mehr Dienste zu spielen. So konnte die einma­lige Qualität gesi­chert und den Fest­spielen dennoch bei der Umset­zung der Spar­vor­gaben geholfen werden.“ 

Bayreuth ist kein Einzel­fall: Orchester und Bühnen müssen aller­orten sparen – meist am Personal, das über 75 Prozent des Etats ausmacht. Auch das Akqui­rieren von Spon­soren wird immer schwerer. Die Bayreu­ther Fest­spiele verteilen die nötigen Kürzungen moderat auf vielen Schul­tern und stoßen dabei weit­ge­hend auf Verständnis. Dass der Fest­spiel­chor als erheb­li­cher Kosten­faktur nicht ausge­spart werden kann, versteht sich von selbst. 

Inten­dan­ten­gift Berliner Konzert­haus

Berlin sucht hände­rin­gend einen Nach­folger für , den nach Luzern schei­denden Inten­danten des Konzert­hauses der Haupt­stadt. Die Findungs­kom­mis­sion ist bestellt, die ersten Bewer­bungen trudeln ein – aber echt gute Kandi­daten scheinen sich nicht zu melden. Wer will schon unter (die nicht nur Chef­di­ri­gentin ist, sondern auch mit Programm­ver­ant­wor­tung für das Haus ausge­stattet ist), einem Orches­ter­di­rektor und einer Geschäfts­füh­rerin den Kram für alle orga­ni­sieren? Viel Raum für eigene Ideen scheint es in Berlins neuem Selbst­dar­stel­lungs-Haus wohl kaum zu geben. Aber viel­leicht trudelt ja doch noch ein abge­ta­kelter ICE aus Düssel­dorf in Berlin ein. 

Nahost und Klassik: „Roth soll Fehler einge­stehen“

Das liegt mir sehr am Herzen: In der aktu­ellen Ausgabe des Podcasts Alles klar, Klassik? frage ich, warum die Kultur – und beson­ders die Musik­kultur – sich derzeit so schwer mit Soli­da­rität für Israel tut. Die Feuil­le­ton­lei­terin der Jüdi­schen Allge­meinen, Ayala Gold­mann, kommen­tiert neben den aktu­ellen Schwie­rig­keiten bei PEN und docu­menta auch das Verhalten von Kultur­staats­mi­nis­terin . Anders als ihre Grünen-Partei­kol­legin Lisa Paus habe Roth nie den Fehler einge­standen, sich bei einer Abstim­mung gegen die anti­se­mi­ti­sche Bewe­gung BDS (boycott, dive­st­ment und sanc­tions) enthalten zu haben. Auch wir waren letzte Woche an dieser Stelle ja schon über Roths kritik­lose Soli­da­rität mit der Baren­boim-Said Akademie erstaunt, in der isra­el­feind­liche Posts von Alumni die Runde machten. Der Kanzler der Akademie lehnte ein Inter­view über die aktu­elle Situa­tion übri­gens ab und verwies darauf, dass man Antworten in der Arbeit gebe.

Tatsäch­lich scheinen selbst große Medien wie die Süddeut­sche Zeitung derzeit lieber auf trie­fendes Pathos und an Kitsch gren­zenden Jour­na­lismus zu setzen, statt die Probleme inner­halb der Insti­tu­tion zu thema­ti­sieren. Umso wich­tiger, dass wir im Podcast auch debat­tieren, ob es in diesen Zeiten über­haupt noch möglich ist, an die verbin­dende Kraft der Musik zu glauben. Die jüdi­sche Sopra­nistin , deren Familie in Israel wohnt, will sich diesen Glauben nicht nehmen lassen. Sie beob­achtet derzeit einen Kampf um kultu­relle Werte und kultu­relle Errun­gen­schaften und empfiehlt das Buch Jews Don’t Count von Baddiel. Hier wird die These aufge­stellt, dass Juden von vielen Menschen gar nicht als Minder­heit wahr­ge­nommen werden. Ein Podcast mit vielen Denk­an­stößen zur aktu­ellen Situa­tion und zum kultu­rellen Umgang mit ihr (hier für apple Podcast oder alle anderen Formate).

Perso­na­lien der Woche

Das Grand Théâtre de Genève hat sich für Alain Perroux (52) als nächsten Inten­danten entschieden – er verlässt dafür die Opéra national du Rhin in Stras­bourg und wird Nach­folger von , der an die Deut­sche Oper nach Berlin gehen wird (Cahns Inter­view mit Alles klar, Klassik? hier). +++ Die Bregenzer Fest­spiele zeigen zum ersten Mal den Frei­schütz auf der Seebühne: wird den Abend insze­nieren, es diri­giert Conductor in Resi­dence, . Rossinis Tancredi hat im Fest­spiel­haus Première, insze­niert von Jan Philipp Gloger und diri­giert von . +++ weist angeb­lich Nach­richten zurück, nach denen er auch das Bolschoi über­nehmen soll. „Ich bin beschäf­tigt genug und suche keine weitere Arbeit“, wird Gergiev auf einem Tele­gram-Kanal und bei Norman Lebrecht zitiert, „wir halten es für wichtig, derzeit bei uns im Land zu arbeiten, aber wir waren auch in China – man kann uns also nicht vorwerfen, dass wir uns nicht bewegen.“ +++ Endlose Debatten in Nürn­berg gehen weiter. Der Stadtrat will eine Inte­rims­spiel­stätte in der von den Nazis nie fertig gebauten Kongress­halle errichten: Das Staats­theater samt Staats­phil­har­monie soll nach der Sanie­rung des Bauensem­bles am Richard-Wagner-Platz dann wieder ins Stadt­zen­trum zurück­kehren. Nun aber stellt der Stadt­rats-Grüne Achim Mletzko all das in den Nürn­berger Nach­richten in Frage: „Ich gehe davon aus, dass aus dem Interim ein andau­ernder Spielort wird.“ Die Chaos-Singer von Nürn­berg! +++ Vier Jahre lang hat die Stadt Düssel­dorf das ehema­lige Wohn­haus des Musi­ker­ehe­paars Clara und saniert – jetzt steht das Schu­mann-Haus vor seiner Eröff­nung. Stadt und Hein­rich-Heine-Institut stellten die neuen Räum­lich­keiten vor, bevor das Haus ab 1. Dezember als Museum für die Öffent­lich­keit seine Türen öffnet. Was genau dort zu sehen ist, kann man hier lesen.

Tannhäuser in Košice

Ein Feuer im Meck­len­bur­gi­schen Staats­theater in Schwerin hat am Frei­tag­abend einen Feuer­wehr-Groß­ein­satz ausge­löst. Die im Gebäude laufende Vorstel­lung der Oper Carmen musste abge­bro­chen werden. Die Polizei ermit­telt wegen Verdacht auf schwere Brand­stif­tung. +++ Die neue rechts­po­pu­lis­ti­sche Kultur­mi­nis­terin der Slowakei hatte Mitte November eine LGBTIQ-Foto­aus­stel­lung gestoppt, nun spielt das Natio­nal­theater in Košice Wagners Tann­häuser. Die künst­le­ri­sche Produk­ti­ons­lei­tung von Ondrej Soth, Roland Khem Tóth und Stanislav Tryn­ovský will den Titel­helden als Doppel­gänger des schwulen Wagner-Sohns Sieg­fried insze­nieren. Die Auffüh­rung sorgt schon vor der Première für Debatten. +++ Die Sanie­rung der Kölner Bühnen wird sich bis Ende Juni 2024 verzö­gern statt bis Ende März 2024. Damit würden die Arbeiten insge­samt mehr als zwölf Jahre dauern und die Kosten weiter steigen. Die ursprüng­li­chen Baukosten waren mit 253 Millionen Euro veran­schlagt. +++ Letzte Woche hatten wir bereits darüber berichtet: Spotify ändert seine Ausschüt­tungs-Krite­rien. Nun ist das auch offi­ziell bestä­tigt. Eine Art Kappungs­grenze, nach der die Nutzung von Songs erst ab 1000 Strea­min­g­abrufen pro Jahr vergütet werden soll, Straf­zettel für Vertriebs­partner, wenn bei Tracks aus deren Kata­logen Betrugs­ver­suche fest­ge­stellt werden. Hier eine Zusam­men­fas­sung der neuen Regeln.

Und wo bleibt das Posi­tive, Herr Brüg­ge­mann?

Ja, wo zum Teufel bleibt es nur? Die nmz – neue musik­zei­tung sorgte neulich mit einer Satire für Aufmerk­sam­keit: Angeb­lich habe ein Noten­verlag vor, die Zauber­flöte in gegen­derter Version heraus­zu­bringen („Ens Vo-gel-fänger*in bin ich ja…“). Und offen­sicht­lich gibt es Menschen, die sich das nicht nur vorstellen, sondern sich darüber auch herr­lich aufregen können. Auf Face­book wurde der Artikel geteilt und böse kommen­tiert, auf TikTok rastete ein Kommen­tator förm­lich aus! Ich kenne das auch: Dass wir hier bei CRESCENDO gendern, wurde uns bereits als „anti­de­mo­kra­ti­scher Akt“ vorge­halten – inklu­sive sprach­lich entgleister Verbal­in­ju­rien. Real ist dagegen das Insta-Profil von MDR Klassik, auf dem es außer Frauen-Themen eigent­lich kaum andere Nach­richten gibt: Verges­sene Kompo­nis­tinnen, verges­sene Geige­rinnen, verges­sene Sänge­rinnen – so als müsste man täglich die letzten 500 Jahre männ­lich domi­nierter Musik­ge­schichte rela­ti­vieren. Aktu­elle gender­neu­trale Klassik-News: Fehl­an­zeige. Klar, es ist wichtig, Sicht­bar­keit für weib­liche und diverse Themen zu schaffen. Das tun wir an dieser Stelle schließ­lich auch regel­mäßig. Aber ist ein weit­ge­hend mono­the­ma­ti­scher Insta-Kanal dafür der rich­tige Weg? Ein State­ment für Viel­falt oder Surrender in Gender? Was denken Sie? 

In diesem Sinne: Halten Sie die Ohren steif!

Ihr

brueggemann@​crescendo.​de

Fotos: Harald Hoffmann / Deutsche Grammophon, Enrico Nawrath / Bayreuther Festspiele, Joseph Marčinský