Kleine Bühnen & ihr Repertoire
Provinzprovokation?
von Roland H. Dippel
24. April 2017
"Die Meistersinger von Nürnberg" in Meiningen? An Opernproduktionen in kleinen Orten ist oft deren halbe Bevölkerung beteiligt. Unser Autor auf Spurensuche im vermeintlichen "Hinterland".
„Die Meistersinger von Nürnberg“ in Meiningen? An Opernproduktionen in kleinen Orten ist oft deren halbe Bevölkerung beteiligt. Unser Autor hat sich auf eine Spurensuche ins vermeintliche „Hinterland“ begeben.
Ein Who-Is-Who der essenziellen Musikgeschichte Deutschlands ist die Dirigentenliste der Meininger Hofkapelle: Max Reger, Johannes Brahms, Richard Strauss – hier waren sie alle! Und hier war auch das „Ring“-Debüt von Münchens, Bayreuths, Berlins genialem Darling Kirill Petrenko, der vor etwa 15 Jahren in vier Tagen die Tetralogie aus dem Meininger Ensemble stemmte mit Sängern, von denen es einige später auf den grünen Hügel schafften. Am einzigen Thüringischen Staatstheater ist man deshalb zum großen Repertoire verpflichtet, ganz selbstverständlich. Jede Spielzeit gibt es mindestens eine spannende Opern-Reaktivierung wie Wagners „Liebesverbot“, von Schillings‘ „Mona Lisa“ oder Lortzings „Regina“. Als amtierender Intendant schwärmt Ansgar Haag von der ihn anfeuernden Geschichte der kleinen Residenzstadt, sie ist ihn beflügelnde Verpflichtung zu seinem Spielplan. Nach Meiningen kommen nicht nur Gäste von auswärts, das Musiktheater ist eine gesuchte Gastiertruppe. Im nahen Fulda und genauso zum Beispiel in den Stadttheatern Fürth und Ingolstadt.
Der Opernchor des Meininger Theaters, als professionelles Ensemble in der sowjetischen Besatzungszone 1946 gegründet, feiert gerade sein 70jähriges Jubiläum. Das war damals ein maßgeblicher Kick für das junge Musiktheater in der früheren Residenzstadt, in der Georg II. die Hofkapelle und das in ganz Europa gastierende Schauspiel pflegte, nicht aber die Oper. Zur „Meistersinger“-Première, vor der im oberen Foyer eine Ausstellung über den Chor eröffnet wurde, gab es stürmischen Applaus und Buhs für ein Ende mit Schrecken: Die umstrittenen Kunstthesen Richard Wagners werden auf der Bühne zum rechtspopulistischen Kampfruf, ganz bitter.
Ansgar Haag verspricht für seine Regie eine Zeitreise durch die letzten hundert Jahre, beginnend 1913. Nach dem Vorspiel gibt es von der Kriegstrauer 1918 in einen Sprung die Weimarer Republik, doch später lassen Bernd-Dieter Müller und Annette Zepperitz die Handlung in den 1960er Jahren stecken und kommen erst zum Schluss in der unmittelbaren Gegenwart an.
Wahrscheinlich sind die Straßen von Meiningen zu den Vorstellungen wie leer gefegt, weil da alles auf die Bühne drängt: Chor und Extrachor, die Meininger Kantorei, der Chor des Evangelischen Gymnasiums, Statisterie und Bürgerbühne ballen sich. Sie wiederholen grölend Hans Sachs‘ Appell zum Respekt für die „deutschen Meister“. Dagegen sind die Meistersinger wehr- und machtlos. Die Polizei schaut weg, wenn Hans Sachs in den letzten Takten zusammenbricht: Herzversagen oder Attentat? Man ertappt man sich bei dem Wunsch, Chorleiter Martin Wettges hätte mit seinen Scharen ein weniger scharf polarisierendes Meisterstück gewählt.
Es ist klar, dass diese Buhs nicht auf die stellenweise etwas matte Personenführung gerichtet waren, sondern tatsächlich auf die Sichtweise dieses fatalen Endes. Hans Sachs‘ und damit Wagners Schlussworte fordern auf, gerade in Krisenzeiten die integrative Kraft deutscher Kultur zu bewahren. Dabei balanciert die Inszenierung auf dem riskant schmalen Grat, vereinfacht Missverständnisse zu zeigen: Die Massen verstehen die Schlussansprache Sachs‘ als Slogan zu Nationalismus und Fremdenhass. Wagners mehrschichtiges Anliegen wird hier zur in Frage gestellten Hassparole.
Davor gibt es jedoch auch Genreszenen aus dem Bilderbuch der Philanthropen und dazwischen immer wieder Risslinien. Beim Kleidertausch ziehen Evchen und Magdalene bunte Tücher über den Kopf. Offenbar stammen sie aus Familien von Umsiedlern aus dem Osten, die zum Vorspiel in der schlimmsten Kriegstrauer 1918 ankommen und sich integrieren. Zum Aufzug der Zünfte sind auch neue Mitbürger, Ehemänner und junge Väter, dabei. Mit dem Südafrikaner Siyabonga Maqungo als David flirten und knutschen die Mädchen aus Fürth, seine Magdalene (Carolina Krogius) eifersüchtelt deshalb nicht.
Die Produktion versteht sich als Aufruf zum Schutz immaterieller Kulturgüter. Am Rand des Bundeslandes mit der größten Kulturdichte, in einer Stadt mit gerade 20.000 Einwohnern spielt das Theater Meiningen, größter Arbeitgeber mit Außenwirkung am Ort, eine der aufwändigsten Opern überhaupt. Mit Kraft, im Vollbesitz künstlerischer Ressourcen und mit einem glänzenden Sängerensemble aus den eigenen Reihen.
Dabei sind es in allen Partien Rollendebütanten und sie zeigen in internationaler Besetzung ein phonetisch souveränes Deutsch, wie es an großen Häusern und überhaupt Seltenheitswert hat. Der Hans Sachs zeigt sich nachdenklich und viel bescheidener, als sein Darsteller es nach seinem lyrischen und nur in der Begrüßungsansprache kurz Grenzen streifende Porträt Dae-Hee Shin sein müsste. Ondrej Šaling bringt wirklich junger Exot Licht in die blässlich gewordene Meistersinger-Welt. Vokal und szenisch intensiv ist das Evchen von Camila Ribero-Souzas auch dann, wenn sie sich auf der Festwiese in den Massen treiben lässt und die Lippen der Polizisten sucht.
Stephanos Tsirakoglous Beckmesser hat prächtiges Baritonmaterial mit einem noch prächtigeren hohen A. Das Hasspotenzial zwischen ihm und Sachs: Pures Dynamit.
GMD Philippe Bach entdeckt und holt die Spielopern-Farben aus der Partitur. Aufmerksame Hörer können hier eine hochmusikalische Kampfansage gegen Klangballast und allzu simple Vereinfachungen erleben. Zum Höhepunkt des Abends wird – trotz Chorjubiläum – die Schusterstube. So enthalten die Meininger „Meistersinger“ ein Bekenntnis für die integrierenden Kräfte von Kultur, zeigen deren Gefährdung und Gefahrenpotenziale. Deshalb haben sie neben dem Eventfaktor und einigen Längen eine starke menschliche Dimension.