Semperoper Dresden
Unsterblicher Mythos
2. Mai 2023
An der Semperoper feiert »L’Orfeo« von Claudio Monteverdi mit Rolando Villazón eine umjubelte Premiere. Regisseur Nikolaus Habjan setzt auf das Zusammenspiel von Menschen und Puppen.
Seite an Seite voran – das Reich der Toten im Rücken, die zweite Chance im Blick. Alles scheint möglich für Orfeo und Euridice. Wenn er es schafft, sie nicht anzusehen. Sonst wäre alles dahin. Aber noch scheinen die beiden dem Tod von der Schippe zu tanzen. Bis Zweifel keimt, das Vertrauen erstickt. Orfeo will, er muss zur Geliebten schauen. Und ihr Leben erlischt. Das zerreißt ihn. Mit bloßen Händen steht er vor dem Nichts.
In einer anderen Welt wird er weiter leuchten. Als Schatten seiner selbst. Denn es fehlt sein ständiger Begleiter, sein Seelenspiegel in Weiß, der nicht mehr ist als eine Puppe und doch so viel mehr – ein Wesen, das Lust und Freude, Verzweiflung und Trauer zeigen kann, ein Verstärker der Emotion, ein innerer Anker und: der heimliche Star der Dresdner Neuinszenierung von L’Orfeo.
Nicht anders als im Zusammenspiel von Sängerinnen und Sängern und menschgroßen Puppen hat der Grazer Regisseur Nikolaus Habjan die 1607 in Mantua erstmals aufgeführte Uroper von Claudio Monteverdi (1567–1643) auf die Bühne der Semperoper bringen wollen. Denn nur so habe sich der frappierende Unterschied zwischen Belebt und Unbelebt derart unmittelbar darstellen lassen. Eigentlich ein Etwas, wird die Puppe, wenn geführt, zu Mann, zu Frau, zu Geist, zu Wesen.
Das Orfeo son io bezieht sich in Dresden auf dieses Beziehungsgeflecht von Puppe, Puppenspiel und Gesang. Dabei tritt der Mensch immer den einen Schritt zurück. Was dem großen Tenor Rolando Villazón vortrefflich gelingt. Es ist beeindruckend, wie behutsam er dieser Kunstfigur folgt, wie achtsam er sich auf sie einlässt, ihr seine Stimme leiht. So entstehen poetische Bilder für Auge und Ohr. Auch Euridice (Anastasiya Taratorkina), die Geliebte, hat ein Puppen-Alter Ego, gleichfalls ganz in Weiß.
Mit der Nachricht von ihrem Tod (Botin: Štěpánka Pučálková) tut sich für Orfeo ein Abgrund auf. Fortan spielt die Inszenierung die verschiedenen Ebenen des Bühnenbilds (Jakob Brossmann) aus. Die bukolische Landschaft ist umfasst von einem Darunter, Darüber und Dahinter. Alles hat mit Allem zu tun; nur deshalb ist für Orfeo der Weg in den Hades möglich. Die Hoffnung (Countertenor Eric Jurenas) führt ihn an des Todes Rand, wo aus dem Dunkel der Schemen von Fährmann Caronte (Bogdan Taloş) wächst. Ihn bezwingt Orfeo mit seinem Gesang, dem kunstvollen und von Villazón so fein interpretierten Possente spirto.
Auch die Herrscher der Unterwelt sind als Puppen gezeichnet: Plutone (Tilmann Rönnebeck – was für ein Bass!) und Proserpina (Ute Selbig) lassen sich von Orfeos liebender Entschlossenheit überzeugen. Mitleid führt zu Begnadigung. Orfeo soll vertrauen, doch sein Ich steht ihm im Weg. Er verliert die Geliebte, allein der Himmel bleibt ihm Trost. Gott-Vater Apollo (Simeon Esper) erlöst den fast verlorenen Sohn. Besungen wird das Happy End für Orfeo vom Chor der Sächsischen Staatsoper, der Wohl und Wehe des (Anti-)Helden klangstark und klug kommentiert, zuletzt mit dem Eingangschor von Monteverdis Marienvesper. Ein musikalisch-inszenatorischer Coup des musikalischen Leiters Wolfgang Katschner, der mit seiner Lautten Compagney Berlin vom Orchestergraben aus die Alte Musik neu und frisch hören lässt. Die Musik – allegorisch dargestellt als La Musica (Alice Rossi) – macht den Mythos unsterblich. Die starke Ensembleleistung hat in Dresden das Premierenpublikum entzückt!