Lionel Bringuier

Nizza – die Grande Dame an der Engels­bucht

von Dorothea Walchshäusl

14. November 2021

Der Dirigent und Cellist Lionel Bringuier lädt in seine Heimatstadt Nizza ein.

Ja, es gibt Menschen, die sind hier geboren und aufge­wachsen. Der Diri­gent und Cellist Lionel Brin­guier ist so einer. Er zeigt uns seine Herzens­stadt, die so viel mehr ist als die vermeint­liche Film­ku­lisse. Groß­zügig und ausge­spro­chen viel­fältig. Eine Stadt, die ihn zu dem gemacht hat, der er heute ist.

Blick über die Altstadt von Nizza
Blick über die Altstadt von Nizza mit der Kuppel der Cathé­drale Sainte-Répa­rate
(Foto: © MJH)

Lionel Brin­guier und Nizza: eine einge­schwo­rene Gemein­schaft. Zwar treibt der Erfolg den Diri­genten immer wieder hinaus zu den großen Bühnen der Welt – Sydney, , . Doch wann immer er kann, kehrt er zurück in seine Heimat- und Lebens­stadt. „Eigent­lich habe ich Nizza nie wirk­lich verlassen, es war immer in meinem Herzen“, sagt Brin­guier und lacht.

Les Ponchettes
Les Ponchettes: Zeug­nisse des alten Fischer­dorfs Nizza. Hier brachten einst die Fischer ihre Boote an Land. Heute befinden sich in der Gebäu­de­reihe zwischen dem Cours Saleya und dem Meer Gale­rien und Lokale.
(Foto: © MJH)

An einem Spät­som­mertag sitzt Brin­guier in einem gut gefüllten Café gegen­über dem Justiz­pa­last. Er hat einen kleinen Tisch mitten im Trubel ausge­wählt, irgendwo läuft das Radio, an der Theke werden klap­pernd Espres­soteller gesta­pelt, am Nach­bar­tisch wird laut gelacht. Brin­guier liebt diesen Sound der Altstadt, das „Allegro vivace con grazie“, das über der gesamten Metro­pole zu liegen scheint.

Lionel Bringuier

»Ich habe Nizza nie wirk­lich verlassen, es war immer in meinem Herzen.«

Nizza gleicht einer strah­lenden Grande Dame am Meer: ausla­dend die berühmte sieben Kilo­meter lange Prome­nade des Anglais, lebendig und bunt das Leben im male­ri­schen Zentrum, char­mant und verschroben die zahl­rei­chen kleinen Gäss­chen mit ihren Bars und Anti­qui­tä­ten­läden. Es ist eine beson­dere Aura, die einem in dieser Stadt entge­gen­weht: viel­fältig und fried­voll, quirlig und gemüt­lich zugleich.

Das Hotel Negresco in Nizza
Das Hotel Negresco, wunder­volles Kleinod aus der Belle Époque: Die Kuppel wurde von Gustave Eiffel konstru­iert. In der Hotel­halle kann man Werke aus der Kunst­samm­lung des Hotels bewun­dern wie die Plastik von Niki de Saint Phalle rechts im Bild.
(Foto: © MJH)

„Die Atmo­sphäre hier ist so entspannt, dazu diese wunder­bare Natur“, sagt Brin­guier. „Das hält den Kopf sehr frisch.“ Wenn er Zeit hat, spaziert er an der Ufer­pro­me­nade bis ins nächst­ge­le­gene Städt­chen Ville­franche-sur-Mer. Oder er stöbert in den vielen Kisten und Auslagen auf dem Bücher­markt vor dem Justiz­pa­last.

Villefranche-sur-Mer
Ville­franche-sur-Mer mit der von Jean Cocteau gestal­teten Chapelle de Pêcheurs links im Bild und der Cita­delle Saint-Elme aus dem 16. Jahr­hun­dert über der Altstadt.
(Foto: © MJH)

Längst gilt Nizza als „grüne Stadt des Mittel­meers“. Park­an­lagen berei­chern das male­ri­sche Stadt­bild, etwa die Prome­nade du Paillon, ein neu ange­legter Park im Herzen Nizzas mit exoti­schen Pflanzen und Spiel­be­rei­chen – noch ein Lieb­lings­platz des umtrie­bigen Künst­lers.

Lionel Bringuier

»Die Atmo­sphäre hier ist so entspannt, dazu diese wunder­bare Natur. Das hält den Kopf sehr frisch.«

Vor gut 33 Jahren kam Brin­guier hier zur Welt, verbrachte die Kind­heit mit vier Geschwis­tern hier und fand in der Oper bereits früh sein zweites Zuhause, wie er sagt. Schon bald spürte er, dass er Musiker werden wollte, noch lag der Fokus auf dem Cello: Unter­richt mit fünf, mit 13 Jahren ging er schließ­lich ans Konser­va­to­rium nach Paris und begann dort parallel zum Cello-Studium mit dem Diri­gieren, das schon nach kurzer Zeit im Zentrum stand.

Der Dirigent Lionel Bringuier
Ist heute welt­weit als freier Diri­gent unter­wegs: Lionel Brin­guier
(Foto: © Simon Pauly)

Rasch nahm seine Karriere Fahrt auf. Von 2006 bis 2013 war er Assis­tent von bei der Los Angeles Phil­har­monic, von 2014 bis 2018 leitete Brin­guier das . Als freier Diri­gent ist er heute gut gebucht und welt­weit unter­wegs.

Das Opernhaus von Nizza
Nizzas Opern­haus, von der zum Meer gewandten rück­wär­tigen Seite aus gesehen
(Foto: Wiki­pedia)

Doch auch Nizza hat ihn wieder an sich gebunden: In der Saison 201920 ist er als Artist in Resi­dence an der Oper enga­giert, dort, wo er schon als kleiner Junge in den Orches­ter­graben geblickt hat. Und beschert seiner neuen alten Heimat nun verschie­dene Konzerte mit renom­mierten Kollegen und diri­giert Musiker, die er teil­weise noch aus seiner Kind­heit kennt.

Blick in die Altstadt von Nizza
Blick in die Altstadt von Nizza, deren Fassaden die italie­ni­sche Vergan­gen­heit noch erkennen lassen
(Foto: © MJH)

Erst am Abend vorher hat er dort ein gefei­ertes Konzert gegeben. Unter tosendem Applaus lief er mit federndem Schritt und konzen­triertem Blick auf die Bühne, insze­nierte Dukas« Zauber­lehr­ling als gewal­tige sinfo­ni­sche Ballade und trat bei Ravels Klavier­kon­zert in innigen musi­ka­li­schen Dialog mit der Solistin , bevor er die Musik bei Stra­win­skys Le sacre du prin­temps mit markanter Gestik kraft­voll und archa­isch bersten ließ.

Lionel Bringuier

»Man ist in Nizza immer von Menschen umgeben, und wenn ich unter­wegs bin, treffe ich ständig Bekannte.«

Über das Phänomen des Diri­gie­rens hat er sich in all den Jahren oft den Kopf zerbro­chen: Natür­lich seien Technik und abso­lute Präzi­sion der Gestik von großer Bedeu­tung. „Das Aller­wich­tigste aber ist die Kommu­ni­ka­tion mit den Musi­kern, und die geht nicht über Arme und Hände“, so Brin­guier.

Rosenblütengelee aus Nizza
Gelee und Konfi­türen aus Rosen­blät­tern sowie kandierte Früchte in der Confi­serie Florian am Hafen 
(Foto: © MJH)

Brin­guier selbst ist fraglos ein kommu­ni­ka­tiver Typ: zuge­wandt, freund­lich, verbind­lich. Als Diri­gent sieht er sich mehr als Kammer­mu­siker denn als Anführer. Und auch wenn er in den Stunden vor einem Konzert die Stille sucht, medi­tiert und in sich geht, ist er sonst ein Freund der klang­vollen, leben­digen Welt. „Ich brauche das um mich, die Leute, den Lärm“, sagt Brin­guier. „Man ist hier immer von Menschen umgeben, und wenn ich unter­wegs bin, treffe ich ständig Bekannte“. Auch in fremden Städten gehe er immer zuerst ins Zentrum und sauge den Puls des jewei­ligen Ortes ein. Den von Nizza trägt er im Herzen.

Chez Palmyre in Nizza
Chez Palmyre, das berühmte Restau­rant in der Altstadt von Nizza, 1926 von Palmyre Moni gegründet
(Foto: © MJH)

Brin­guier trinkt seinen Espresso aus, schiebt sich die Sonnen­brille auf die Nase und strahlt: „Lassen Sie uns zum Cours Saleya gehen, das ist einer der schönsten Plätze hier.“ Sagt’s und taucht mitten hinein in die üppige Viel­falt an Düften und Farben ein paar Meter weiter, wo sich Tische mit Laven­del­seifen, Meeres­früchten und Tomaten anein­an­der­reihen und die Händler ihre Waren anpreisen. Unzäh­lige Male schon hat Brin­guier diese betö­rende Mixtur aufge­sogen; und nicht selten hat der Hobby­koch die Zutaten für das Abend­essen dort erstanden.

Lionel Bringuier

»Aus Nizza ziehe ich meine Energie, aus den vielen Menschen hier, dem Leben in dieser Stadt.«

Nizza ist seine Heimat, sein Anker, seine Kraft­quelle. „Aus ihr ziehe ich meine Energie; aus den vielen Menschen hier, dem Leben in dieser Stadt“, so Brin­guier. Das Wich­tigste sei für ihn die Balance zwischen Arbeit und Frei­zeit. Als inter­na­tional gefragter Diri­gent ist Brin­guier oft Zigtau­sende Meilen von seiner Heimat entfernt. Doch fast immer gelingt es ihm, nach einer inten­siven Arbeits­woche wieder für ein paar Tage nach Hause zu fliegen in die bunte Stadt am Meer.

Blick über den Hafen
Blick über den Hafen unter­halb des Schloss­bergs
(Foto: © MJH)

Noch schnell ein Abste­cher in die Oper. Durch den Hinter­ein­gang geht es in den ersten Stock, vorbei an den Proben­räumen in die noch dunkle Künst­ler­gar­de­robe, in der sich Brin­guier vor den Konzerten aufhält. Ein Griff zum Fenster, dann sind die Läden offen, Sonnen­licht fällt herein. Der Blick: direkt aufs Meer.

Sonnenuntergang an der Engelsbucht
Sonnen­un­ter­gang an der Engels­bucht
(Foto: © MJH)

„Ist das nicht fantas­tisch?“, sagt Brin­guier. Am Strand unweit der Oper hat er als Jugend­li­cher seine ersten Parti­turen studiert, nahe dem Meer harmo­ni­sche und rhyth­mi­sche Finessen durch­drungen. Noch heute sind die Flecken des Salz­was­sers auf dem Papier von Rimski-Korsa­kows Sche­he­ra­zade zu sehen. Denk­wür­dige Erin­ne­rungen an eine Kind­heit und Jugend. Reich an Sonne und Tönen.

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Weitere Informationen und Auftrittstermine von Lionel Bringuier unter: www.lionelbringuier.com

Fotos: Prosag Media / Pixabay, Simon Pauly