Martha Argerich und Sophie Pacini
Mut zum vollen Risiko
von Klaus Härtel
7. September 2019
Die beiden Pianistinnen Martha Argerich und Sophie Pacini verbindet eine innige Freundschaft sowie ein reger Austausch über Karriereplanung, Alltägliches und Musikalisches.
Clara Schumann ist nicht begeistert. Gelinde ausgedrückt. „Die Sachen sind schaurig! Brahms spielte sie mir, ich wurde aber ganz elend. (…) Das ist nur noch blinder Lärm – kein gesunder Gedanke mehr, alles verwirrt, eine klare Harmoniefolge ist da nicht mehr herauszufinden“, schreibt sie 1854 voller Verzweiflung in ihr Tagebuch. „Es ist wirklich schrecklich.“ Die Rede ist von Franz Liszts h‑Moll Sonate.
Die gewaltigen Ausbrüche und harmonischen Härten mögen für Pianisten und Hörer in der Mitte des 19. Jahrhunderts schwer hinnehmbar gewesen sein – heute wird das Werk als einer der Gipfelpunkte der Klaviermusik betrachtet. Die Klaviersonate h‑Moll gilt als eines der bedeutendsten, technisch anspruchsvollsten Klavierwerke der Romantik und durchaus auch als einer der Höhepunkte im Œuvre des Komponisten.
Dabei nahmen und nehmen Pianisten die technische und gestalterische Herausforderung unterschiedlich an. Vladimir Horowitz« Interpretation muss dem Publikum durch die derart nervöse Beweglichkeit, stahlharte Kraft und teilweise atemberaubende Geschwindigkeit damals als etwas Ungeheures erschienen sein. Der Pole Krystian Zimerman besticht durch die scheinbare Mühelosigkeit in der Zusammenführung von brachialer Gewalt und sanfter Lyrik, während eine Interpretation der h‑Moll Sonate selten so improvisiert klingt wie die des Kroaten Ivo Pogorelich: zerbrechlich und ins Sphärische entrückt auf der einen Seite, bedrohlich, skurril und naturkatastrophenhaft auf der anderen.
»Das erste Werk, bei dem ich gespürt habe, dass es von Tradition überlagert wird, war die h‑Moll Sonate von Franz Liszt.«
Bei der Grande Dame des Klaviers Martha Argerich überschlägt man sich beinahe mit Adjektiven. Martha Argerichs Interpretation wirkt gequält, wütend, leidenschaftlich, verrückt, aber auch dantesk, göttlich, mystisch. Die Argerich wirkt wie ein freigelassenes wildes Tier, voller Feuer, Leidenschaft und: Poesie. Sie ist bereit, Risiken einzugehen – und das zahlt sich aus.
Franz Liszts h‑Moll Sonate ist all das. Aber sie ist auch starkes Bindeglied der Freundschaft zwischen Martha Argerich und der jungen deutsch-italienischen Pianistin Sophie Pacini. Die nämlich legt bisweilen auch einen eigenen Zugang zur Musik an den Tag, der „jenseits einer Spieltradition liegt“, wie sie selbst formuliert.
Eine ihrer ersten starken pianistischen Prägungen sei von Martha Argerich ausgegangen, die sie im Radio gehört habe – mit eben jener h‑Moll Sonate von Franz Liszt. „Ich hatte die Sonate vorher schon einmal gehört und fand sie total unansprechend und, ehrlich gesagt, auch ein bisschen langweilig. Ich habe mich nicht zurechtgefunden in dem Stück. Mir war klar: Ein Stück, das ich nicht spielen will, ist die h‑Moll Sonate von Franz Liszt.“ In Argerichs Radioversion jedoch habe sie das Werk nicht wiedererkannt. „Es war phänomenal, passend, und es hat mir eine Geschichte erzählt.“
„Es gab Traditionen, wie man Werke zu spielen hat“, erzählt die 27-jährige Pacini. Bereits mit zehn Jahren war sie durch die harte „Handwerksschule“ Karl-Heinz Kämmerlings gegangen und hatte bereits da hinterfragt, warum was wie gespielt wird. „Warum darf man das nicht anders interpretieren? Ich muss doch dahinterstehen und das zu Gehör bringen, was mein innerster Herzenswunsch ist.“ Viel gelernt hat sie dann auch von Pavel Gililov, zu dem sie quasi als rebellierender Teenager gewechselt war. „Das erste Werk, bei dem ich wirklich gespürt habe, dass es von Tradition überlagert wird, war wieder: die h‑Moll Sonate von Franz Liszt. Mir fehlte der intermusikalische Austausch…“
»Ich liebe Liszt! Das Virtuose, aber auch dieses Diabolische, diese dramatische Komponente und das Spielen mit der Grenze.«
Es muss um Weihnachten herum gewesen sein, Sophie Pacini war gerade 17 geworden und übte wie wild für einen Wettbewerb in Gstaad. „Mir fehlte etwas. Es gab da eine Stelle, die noch viel diabolischer klingen musste. Ich habe angefangen, Dinge drastischer zu zeichnen.“ Sie traute sich, das Werk anders zu interpretieren, als es die traditionelle Interpretationsschule vorgab. „Ich liebe Liszt! Das Virtuose, aber auch dieses Diabolische, diese dramatische Komponente und das Spielen mit der Grenze.“ Sie wollte es eben genau so, wie das Martha Argerich auch anging.
Ihr Lehrer indes war wenig begeistert. „Viel zu emotional!“, habe der gesagt. Man müsse eine gewisse Distanz wahren zum Werk. „Er sagte zu mir: ‚Du weißt doch gar nicht, wie die Wahrheit ist!‘ Das hat mich überrascht, und ich habe zurückgefragt, ob er das denn wisse.“ Erstmals habe sie ihren Lehrer infrage gestellt. „Sophie, in Gstaad wirst du so nicht gewinnen…“, lautete die lapidare Aussage damals. Eigentlich überflüssig zu erwähnen, dass Sophie Pacini dann genau das tat. Dmitri Baschkirow, der in der Jury saß, war jedenfalls beeindruckt. Pacini habe das Werk anders gespielt, als er es kenne. „Mutig, persönlich, aber überzeugend.“
Die enge, innige Freundschaft zwischen Martha Argerich und Sophie Pacini basiert also sozusagen auf Liszts h‑Moll Sonate – und einer ersten persönlichen Begegnung in der Toskana. Im gleichen Ort nämlich, in dem Sophie Pacini mit ihren Eltern Urlaub machte, eröffnete Martha Argerich ein Festival. Die Grande Dame des Pianos wollte zunächst nichts von dem kleinen klavierspielenden Mädchen wissen. Sophie aber blieb hartnäckig und wartete. Die Argerich kam zurück, sagte: „Nun, dir ist ja offenbar nicht zu helfen. Dann spiel.“ Und weiter: „Was für eine Persönlichkeit! Du erinnerst mich an mich selbst. Ich merke, dass du einen eigenen Kopf hast.“
Seit dieser Zeit kreuzen sich die Wege der beiden Pianistinnen regelmäßig. Auch bei der Einspielung von Solowerken Chopins, die mit dem ECHO Klassik ausgezeichnet wurde, vertraute Pacini auf die Expertise Martha Argerichs. Ihr nämlich spielte sie die „eigene“ Version von Chopins Fantaisie-Impromptu mit weniger akzentuiertem Daumenanschlag vor. Die Antwort Argerichs: „Ja, das hört sich logischer an.“
»Es ist sehr schwer, sich selbst treu zu bleiben in einer Zeit, in der man von sehr vielen Leuten alle möglichen Ratschläge bekommt.«
Es bleibt dabei: Die „Ikone“ Martha Argerich und die „Newcomerin“ Sophie Pacini reden viel miteinander. Über die Karriereplanung, über Alltägliches, über den Gossip der Szene. „Über Musikalisches reden wir spielenderweise …“ Zum Beispiel über die Frage: War früher alles besser? Die Antwort wird nie ja oder nein sein können. Martha Argerich aber findet: „Wenn ich heute Karriere machen müsste, würde mir das sehr schwerfallen.“ Heute werden Musiker bisweilen nicht präsentiert, wenn sie nicht gewillt sind, dem schreienden Marketing stattzugeben. Die Disbalance sei heute stärker geworden als früher. Eine Karriere sei viel schwieriger. Und Sophie Pacini weiß, dass es natürlich heute – nach einer „goldenen Generation“ von Pianisten – kein Selbstläufer ist, sich zu positionieren. „Letztlich gibt es ja alles schon“, seufzt sie. „Es gibt viele Einspielungen großer Werke und großer Pianisten.“ Man braucht daher das Selbstbewusstsein und den Mut, den eigenen Weg zu verfolgen. Martha Argerich gab der jungen Pianistin mit auf den Weg: „Sei du selbst! Bleib authentisch und so, wie du bist! Lass dich nicht verbiegen!“ Damals habe sie schlicht „Ja, klar!“ gesagt, doch heute: „Spüre ich immer deutlicher, was sie damit meinte. Es ist sehr schwer, sich selbst treu zu bleiben in einer Zeit, in der man von sehr vielen Leuten alle möglichen Ratschläge bekommt.“
Alles, was man heute tut, bekommt eine Gewichtung. Je sichtbarer man als Künstler wird, umso mehr. Es gibt heute einen Starkult, den es früher nicht gab. In der Hinsicht hat sich das Marketing geändert. „Das Bild eines klassischen Musikers hat sich verändert“, findet Sophie Pacini. Der Klassiker erscheine immer häufiger in einem „Popgewand“. Dabei brauche Klassik eigentlich die innere Ruhe, was in der heutigen schnelllebigen Zeit nicht leicht sei.
Kürzlich fand in Hamburg das Martha Argerich Festival statt. Motto: Musizieren unter Freunden. An nur einem Abend waren mehrere unterschiedliche Instrumentenkombinationen zu erleben. Schließlich standen gar vier Flügel auf der Bühne. Mit von der Partie war Sophie Pacini. Es war auch hier nicht zu übersehen, dass Martha Argerich das Zusammenspiel mit alten Freunden und neuen jungen Talenten, auf die sie aufmerksam geworden ist, mag, vielleicht sogar genießt. Martha Argerich „wirkt nach außen hin extrem entschlossen und selbstsicher“, erklärt Pacini. Privat sei das nicht immer so. Seit Jahrzehnten hat die Argentinierin Lampenfieber, seit 1981 tritt sie nicht mehr solo auf. Allein auf der Bühne fühle sie sich wie „ein Insekt unter einem Brennglas“, hat sie einmal gesagt. Mit Partnern liegt der Fokus nicht allein auf ihr, das entlastet. Jüngst lud die „Grande Dame“ – ein Titel übrigens, auf den sie keinen Wert legt – die junge Kollegin ein, mit ihr Beethoven im Duo zu spielen.