Münchner Kammerspiele

Prügel statt Liebe

von Antoinette Schmelter-Kaiser

12. Oktober 2023

In ihrer ersten Regiearbeit „Fünf bis sechs Semmeln und eine kalte Wurst“ verschränkt Annette Paulmann die schwierige Kindheit von Lena Christ mit der eines Mädchens aus den 1960er Jahren.

Bis auf ein Bett, einen Nacht­tisch, ein Stühl­chen, eine Vitrine mit Porzellan und anderen Gegen­ständen und an Draht­seilen hängende weiße Vorhänge ist die Bühne leer. Doch diese wenigen Requi­siten reichen Annette Paul­mann aus, um in einer Doppel­rolle spie­lend, erzäh­lend sowie mit groß­for­matig proji­zierten Fotos und Videos, für die sie mal ernst, mal selbst­iro­nisch gebro­chen unter­schied­lichste Prot­ago­nisten verkör­pert, zwei Kind­heiten Revue passieren zu lassen: zum einen die der ober­baye­ri­schen Schrift­stel­lerin Lena Christ Ende des 19. Jahr­hun­derts, zum anderen die eines anderen Mädchens in den 1960er-Jahren. Beide verbindet, dass sie über die Maßen schwer im Haus­halt bzw. einer Gast­stätte mithelfen und schuften mussten, von ihren Müttern dafür aber statt Lob, Lohn und Liebe nur Ableh­nung, Aggres­sionen und Prügel zu spüren bekamen.

Annette Paul­mann wech­selt mitunter von einem Satz auf den anderen von Lena Christs Origi­na­texten zu ihren eigenen, schil­dert Ängste, Betrof­fen­heit und Verzweif­lung von zwei Heran­wach­senden, die sich ohne Möglich­keit zur Gegen­wehr in ihr Schicksal fügen. Doch trotz aller Härte und Unbarm­her­zig­keit zerbre­chen sie nicht daran, sondern schaffen sich – zumin­dest zeit­weise und vorwie­gend in Gedanken – ihre Frei­räume und kleine Fluchten. Für diese Fähig­keit zur Resi­lienz findet Annette Paul­mann berüh­rende Bilder, wenn sie auf einem Bonanza-Rad der Wut der Mutter davon­fährt. Oder wenn sie am Ende zum Van Halen Song „Jump“ tanzt und so beweist, dass sie sich von nichts brechen lässt und sie Ober­wasser behält.

Obwohl Annette Paul­mann Lena Christs Selbst­mord mit nur 39 Jahren nicht ausspart, domi­niert so für die Zuschauer als Fazit dieses 90-minü­tigen Thea­ter­abends kein Gefühl der Bedrü­ckung, sondern viel­mehr ein Eindruck von weib­li­cher Stärke. Das gilt nicht zuletzt für Paul­mann selbst, die bei der Urauf­füh­rung ihres Stücks „Fünf bis sechs Semmeln und eine kalte Wurst“ im Werk­raum der Münchner Kammer­spiele ebenso ehrlich wie eindring­lich auch viel von sich persön­lich preis­gibt.

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Weitere Aufführungen am 11./15.10., 5./30.11. und 2.12.2023, www.muenchner-kammerspiele.de
Fotos: Judith Buss