Oskar Schlemmer
Neues Welttheater – die Bauhausbühne
5. Februar 2019
Sie verweigerten sich jedem vorschriftsmäßig abgegrenzten „Lager“ – Bauhäusler wie Oskar Schlemmer huldigten begeistert der Idee des Gesamtkunstwerks.
Wien, 1987. Die Gründung der Bauhausbühne liegt 66 Jahre zurück. Am Burgtheater inszenieren Achim Freyer und Urs Toller ein Stück mit dem Titel Metamorphosen des Ovid oder die Bewegung von den Rändern hin zur Mitte und umgekehrt. Die Musik und Teile des Texts stammen von Dieter Schnebel, dem 2018 verstorbenen großen Komponisten zeitgenössischer experimenteller Musik. Auch Freyer und Toller haben mitgetextet.
Im Publikum sitzt offenbar ein organisierter Block von Störern. „Die Burg“ will sich das einfach nicht bieten lassen: Ein hölzerner bunter, großer Schmetterling bewegt sich quälend langsam von links unten nach rechts oben, hin zur Mitte der schräg erhöhten Holzbühne. Ein Mädchen auf einem hölzernen Tretroller. Eine Frau kommt von links auf die Bühne, zieht einen Schuh aus, geht einen Schritt, wieder einen zurück, zieht den Schuh wieder an, geht zwei Schritte weiter, zieht den anderen Schuh aus… Derweil kommt vom Band Sprechtext, der die Dame als ziemlich unerschrockene Prostituierte ausweist: „Na, freilich setz« ich mich ihm aufs G’sicht, bin ja ka Snob.“ In Endlosschleife. „Braucht ma da lang, bis ma des kann?“, kommt’s im tiefsten Wienerisch aus dem Parkett. „Halt’s Maul, Faschist!“, kommt rüde die Antwort. „Kamma des studier’n?“ „Nach Haus geh«, wem’s nicht g’fallt!“ „Zum Fernsehen, ihr Deppn!“
Und heute? Wer die klassische Sprechbühne des Theaters „zweckentfremdet“, erzielt immer noch schockierende oder freundlich gesagt: durchschlagende Wirkung. Mal mehr und mal weniger schlüssig, aber warum soll das Gegenwartstheater darauf verzichten? Schon Gustaf Gründgens stellte die Filmsequenz der Hiroshima-Bombe mitten in die Faustische Walpurgisnacht – ein dramaturgischer Glücksgriff. Bezüge auf die bildende Kunst, Zitate aus oder von Gemälden, Filmbildeinspielungen, Überblendungen, Liveaufnahmen von der Bühne selbst – all das setzt Theater heute ein, in einem von Bildern gefluteten „Heute“.
Dabei denken wir über unsere eigene Verortung nach und finden einen humanoiden Roboter auf der Bühne, dessen Gesicht dem eines bekannten Schauspielers gleicht. Was Digitalisierung und Künstliche Intelligenz für uns sind, war für die Bauhausbühne die plötzlich technologisierte, beschleunigte und von Maschinen geprägte Umwelt des frühen 20. Jahrhunderts. „Verortung des Ich“, das klingt schwülstig. Aber als Walter Gropius 1921 die Bauhausbühne ins Leben rief, hatten Einstein und Planck neue Weltmodelle vorgelegt: Raum und Zeit krümmen sich, abhängig von der beteiligten Masse. Und Teilchen, noch viel kleiner als Atome, geben entweder ihren Impuls oder ihren Ort zu erkennen, aber nicht beides.
Hinzu kam, dass nicht wenige der bestimmenden Bauhausfiguren den Ersten Weltkrieg an der Front erlebt hatten, den Menschen im Zeitalter seiner maschinellen Vernichtbarkeit. Die Verstörung, die Erschütterung, die hieraus stammten, sollten in Fragen münden nach dem Bezugsfeld zwischen Menschen und ihrer seelisch-körperlichen Befindlichkeit und den von menschlichen Gehirnen erdachten und erbauten Maschinen, die den Alltag immer stärker prägen.
Gemessen an der Furcht der Heutigen davor, dass uns die künstliche Intelligenz womöglich um die Ohren fliegt, bevor wir es verhindern können, hegten die Bauhausleute Vertrauen in die Zukunft, Zuversicht und Technikbegeisterung. Auf Standortsuche gehen sollte „der Mensch“, den der literarische Expressionismus vor allem in der Lyrik ständig an- und aufruft, auf der Bauhausbühne gleichwohl: Das Triadische Ballett hat nichts mit der hegelianisch-marxistischen „dialektischen Triade“ aus These, Antithese und Synthese zu tun. Vielmehr stand diese Triade (Dreiklang) für Beziehungen wie Kostüm – Bewegung – Musik als choreografische Grundsäulen oder Raum – Form – Farbe als physische Attribute, Höhe-Breite-Tiefe als klassische Dimensionen des Raums. Die geometrischen Grundformen Kreis – Quadrat – Dreieck kommen zum Tragen, und die Grundfarben Rot – Gelb – Blau, das alles übertragen auf die Bewegungen dreier Akteursfiguren.
Arnold Schönberg lehnte eine Zusammenarbeit ab. Angeklopft hatte bei Schönberg ein gewisser Albert Burger, Tänzer an der Königlichen Hofoper Stuttgart. Burger und seine Frau Elsa Hötzel waren 1912 die Ersten, die sich auf die Suche nach „Neuem Ballett“ machten. Noch im selben Jahr fanden sie den Maler Oskar Schlemmer als inspirierten Partner. Die drei ahnten, welche Epoche sie damit machten: Gleich nach der Uraufführung des Triadischen Balletts 1922 in Stuttgart zerstritt sich das Ehepaar mit Schlemmer heillos. So wie sich Oskar Schlemmers Erben überwarfen, was der Bekanntheit des Triadischen Balletts, dieses Aushängeschilds der Bauhausbühne, schwer geschadet hat. Was Schlemmer als Beginn neuer „deutscher Tanzkunst“ sah, auch als Gegenentwurf zum russischen oder schwedischen Ballett, bleibt vorerst, was es schon lange ist: ein Meilenstein der Theatergeschichte, den kaum jemand je zu sehen kriegt.
Die Erweiterung der künstlerischen Ausdruckmittel
Als Oskar Schlemmer zwölf Jahre alt war, waren beide Eltern gestorben. Wer psychologisieren möchte, wird es rührend finden, dass sich der Kunstprofessor Schlemmer Jahrzehnte später in die Frage nach dem „Menschen im Raum“ so sehr vertiefen konnte. Als jüngstes von sechs Kindern hätte er es ja auch mit dem zeitgenössischen Pathos der Expressionisten halten können: Deren „Oh, Mensch!“-Lyrik zielte auf das Verhältnis zwischen Mensch und Gesellschaft. Die „soziale Frage“ wurde damals überhaupt immer lauter: in der Politik wie in allen Sparten der Kunst. Das Epigonale, Harmlose hatte sich verbraucht. Notwendig war eine grundlegende Erweiterung der künstlerischen Ausdrucksmittel. Die Malerei machte sich auf, weg vom Figürlichen hin zur höchsten Abstraktion. Den Niederländer Piet Mondrian sollte Oskar Schlemmer später einmal den „eigentlichen Gott des Bauhauses“ nennen.
Aber zunächst kommt ein 15-jähriger Waise aus Göppingen, wo er aus Geldgründen die Realschule verlassen hatte, zurück in seine Geburtsstadt Stuttgart, findet Zugang zu einer renommierten Werkstatt, erfüllt dort Vorlagen für Intarsien und andere gewerbliche, vorkünstlerische Aufgaben. Nebenher bildet er sich in Figurenzeichnen und Stillehre weiter. 1906 nimmt die Stuttgarter Akademie für Bildende Künste ihn 18-jährig auf. Drei Jahre später: Meisterklasse in Komposition bei Friedrich von Keller. Anschließend, in Berlin, trifft er Kubisten, die Avantgarde. Der Kubismus schlägt sich deutlich in seiner Malerei nieder. Deswegen rücken ihn viele in die Nähe von George Grosz oder Giorgio de Chirico. Aber Grosz ist selbstbewusster Kritiker der Kaiserzeit wie der Weimarer Republik. Politische Stellungnahmen waren aber Oskar Schlemmers Sache nicht. Und im Vergleich zu de Chiricos „metaphysischer Malerei“ springt bei aller Ähnlichkeit ein Unterschied ins Auge: De Chiricos Stadtlandschaften sind menschenleer, Schlemmer sucht nach dem Ort des Menschen im Raum und seiner Wirkung darin.
Es bleibt dabei: Oskar Schlemmers Schaffen lässt sich nur schwer einer Kunstrichtung angliedern. Auch weil er der Idee des Gesamtkunstwerks, des Zusammenwirkens der einzelnen Kunstdisziplinen huldigte und sich nicht zu einem der vorschriftsmäßig abgegrenzten Lager bekennen wollte.
Schlemmer hatte sich bei Kriegsbeginn 1914 freiwillig gemeldet, eine Verwundung ermöglichte, dass er überlebte und weitermalen konnte. 1920 berief Walter Gropius Schlemmer ans Bauhaus Weimar, wo er die Klasse für Wandmalerei, bald auch für Holz- und Steinbildhauerei übernahm. 1922 gelang in Stuttgart die Uraufführung des Triadischen Balletts – das nie auf der Bauhausbühne aufgeführt wurde. Deren Leitung übernahm Schlemmer mit dem Umzug des Bauhauses nach Dessau 1925. Das Triadische Ballett erlebte Aufführungen im In- und Ausland, der Erfolg hatte sich eingestellt, ein schöpferischer Mensch seinen Ort im Raum gefunden. Aber bis zum Régime des Unmenschen dauerte es nicht mehr lange. 1930 ließ man von oberster Stelle in Weimar ein Wandgemälde Schlemmers übermalen. In der Nazi-Schmäh-Ausstellung „Entartete Kunst“ hingen schließlich fünf seiner Bilder als undeutsch. Oskar Schlemmer starb im April 1943 in einem Sanatorium in Baden-Baden.