Ein Plädoyer für die Oper

Viva l’opera!

von Attila Csampai

4. Juli 2014

Ein Plädoyer für die schönste Gegen­welt unserer Vorstel­lungs­kraft, den heiligsten Bezirk unserer Fantasie, die glühendste Illu­sion und die gegen­ständ­lichste Ausfor­mung unserer emotio­nalen Exis­tenz: die Oper.

Oper ist ein Lebens­mittel, ein Über­le­bens­mittel der Seele. Nicht die perfek­teste Schall­platten-Aufnahme, nicht der sugges­tivste Holly­wood-Film, nicht der bizarrste Cyber­space-Trip ist ein Ersatz für den unver­gleich­li­chen Zauber des Hier und Jetzt, wenn wir die Gegen­wart singender und spie­lender, gleich­zeitig aber durch die Aura der Musik geschützter, greifbar-leben­diger Menschen erleben. Theater ist eine mensch­liche, eine kollektiv-zivi­li­sa­to­ri­sche Grund­er­fah­rung, und noch immer die ästhe­tisch voll­stän­digste Gegen­welt zu unserer eigenen; damit die beste Möglich­keit für den Menschen, sich selbst zu beob­achten, sich kennen­zu­lernen, seine Gefühle komplett auszu­leben – kurzum: sich als gött­liche Schöp­fung zu erfahren.

Der Nieder­gang einer der tradi­ti­ons­reichsten Insti­tu­tionen der abend­län­di­schen Kultur

Das hört sich hoch­tra­bend an, wie eine schwär­me­ri­sche Apologie, ist aber nichts weiter als ein ästhe­ti­sches Faktum, das in den letzten vier Jahr­hun­derten der Exis­tenz dieses wunder­baren – auf einem Miss­ver­ständnis des antiken Thea­ters beru­henden – Fanta­sie­ge­bildes niemals ernst­haft in Frage gestellt wurde. Frei­lich hat die Oper, seit sie das antike Ideal des intakten Menschen und damit den Schön­ge­sang, aus dem Auge verlor, ihre gesell­schaft­liche Vormacht einge­büßt. Sie befindet sich schon längst nicht mehr an der gesell­schaft­li­chen Front der Künste, den künst­le­ri­schen Fort­schritt in toto – als Gesamt­kunst­werk – resü­mie­rend, und auch die Opern­häuser haben ihre vorma­lige poli­ti­sche Vormacht­stel­lung, ihr Privileg von „Kathe­dralen“ des öffent­li­chen Lebens, einge­büßt und wären ohne massive staat­liche ­Förde­rung wohl längst auf dem Friedhof der Geschichte gelandet – abge­storben zu archi­tek­to­ni­schen Relikten einer unter­ge­gan­genen Kultur, ähnlich den Dampf­lo­ko­mo­tiven. Aber selten war der innere Bestand des Kultur­gutes Oper – ja, die allge­mein aner­kannte Nütz­lich­keit der Insti­tu­tion Oper – so gefährdet wie in den letzten Jahren, in denen sich die virtu­elle und elek­tro­ni­sche Unter­hal­tungs- und Frei­zeit­in­dus­trie den längst zum hilf­losen Konsu­menten von stan­dar­di­sierten Kultur-Formaten degra­dierten Erden­bürger wie mit einem Sezier­messer in seine vege­ta­tiven Grund­funk­tionen aufge­teilt hat und so jede tiefer­ge­hende Bildung und Huma­ni­sie­rung seines Wesens verei­telt. Gerade in solchen ästhe­tisch und intel­lek­tuell deso­laten Zeiten wäre eine Sensi­bi­li­sie­rung der Psyche und ein Appell an die Ganz­heit des Menschen, wie sie nur die Oper bieten kann, zur Stär­kung der allge­meinen Gemüts­lage uner­läss­lich. Das Problem scheint zu sein, dass sich selbst die verant­wort­li­chen Eliten in dem durch die Oper vermit­telten Menschen­bild nicht mehr wieder­erkennen, dass das innere Bedürfnis, sich seelisch reinigen zu lassen, längst einer eher abstrakten Fürsorge oder gar dem simplen Reprä­sen­ta­ti­ons­gehabe gewi­chen ist. Da diese jedoch nicht vom Herzen ausgehen, nicht mehr von wirk­li­cher Neugierde gestärkt sind, scheint, auf lange Sicht gesehen, der Nieder­gang einer der tradi­ti­ons­reichsten Insti­tu­tionen der abend­län­di­schen Kultur, dieses einzig­ar­tige Auffang­be­cken aller Künste, unab­wendbar.

Es sei denn, es gelingt uns, den ästhe­ti­schen Kern des Opern-Erleb­nisses, das heißt sein aura­ti­sches Wesen, seine Zauber­macht über den Menschen, wieder­her­zu­stellen und damit auch die schlum­mernden Zauber­kräfte in uns selbst einmal mehr zu entfa­chen, unseren Seelen­schatz neu zu entde­cken. Und das heißt für mich: Rück­be­sin­nung und Resen­si­bi­li­sie­rung aller Betei­ligten, der „Akteure“ wie der „Empfänger“, auf die musi­ka­li­schen Grund­lagen der Oper, auf die sinn­stif­tende, menschen­bil­dende und reini­gende Kraft der Partitur. Auch dies mag schreck­lich altmo­disch klingen, ist aber ein unver­rück­bares Faktum, das leider allzu viele Kompo­nisten, Inten­danten, Regis­seure und Kritiker aus den Augen verloren haben: Im Ideal­fall ist Oper nämlich nichts anderes als die Geburt des Thea­ters aus dem Geist der Musik, die Erschaf­fung wirk­li­cher Menschen aus Tönen.

Wie durch einen klin­genden Rönt­gen­schirm direkt in die Seele

Der durch Musik, Sprache und Bühnen­wirk­lich­keit konsti­tu­ierte und defi­nierte Opern-Mensch ist nämlich wirk­li­cher, voll­stän­diger, geschlos­sener und menschen-ähnli­cher als alle anderen durch die Künste und die Lite­ratur vermit­telten Menschen­bilder. In der Oper, und nur in der Oper, erleben wir den Menschen in einer durchaus myste­riösen Gleich­zei­tig­keit seiner inneren Vorgänge und seines äußeren Handelns: Wir nehmen ihn als Thea­ter­ak­teur äußer­lich-empi­risch, in seinen Bewe­gungen, seiner Mimik, seinen Sprach­äu­ße­rungen wahr, durch die Musik aber dringen wir auf eine höchst rätsel­hafte Weise auch in sein Inneres ein. Die Partitur erschafft seine Seele, lässt uns – wie durch einen klin­genden Rönt­gen­schirm – direkt in seine Seele, in den verbor­genen Kosmos seiner Empfin­dungen und Gedanken hinein­bli­cken, hinein­hören, hi­neinfühlen. Die Musik besitzt zwar sprach­ähn­li­chen Charakter, entwi­ckelt aber ihre eigene, von der Sprache und ihrer diskur­siven Logik unab­hän­gige – selbst von der Bühnen­rea­lität voll­ständig losge­löste – magisch-beseelte Wirk­lich­keit und eine Art analo­gi­sche, asso­ziativ-impul­sive Syntax. Bei jedem großen Opern­kom­po­nisten, und insbe­son­dere bei Mozart, dem voll­kom­mensten Menschen­ge­stalter, verhält sich die Musik komple­mentär zu den Sprach­in­halten, sie enthüllt alles das, was nicht gesagt wird oder gesagt werden kann, und verleiht jeder Äuße­rung ihre charak­te­ris­ti­sche Färbung, ihre Inten­tion und ihre Bedeu­tung.

Die bis heute von vielen Opern­skep­ti­kern nicht akzep­tierte, aber ästhe­tisch unwi­der­ruf­liche Auto­nomie und das Primat der musi­ka­li­schen Sphäre vor der Sichtbar-Thea­tra­li­schen gründet auf der durch die Musik – also den Takt, den Rhythmus und das Tempo – unver­rückbar fest­ge­legten Zeit­ord­nung des Hand­lungs­ab­laufs und damit des gesamten Bühnen­ge­sche­hens: Erst durch die deter­mi­nierte Zeit­lich­keit der Musik gewinnen die Opern­fi­guren ihren wirk­li­chen Lebens­puls und ihre unan­tast­bare Auto­nomie, sind geschützt und konser­viert in ihrer histo­ri­schen Gestalt­haf­tig­keit und in ihrem wirk­li­chen Hand­lungs­kon­text: Sie konfron­tieren unser flie­ßendes Zeit­emp­finden mit dem metrisch durch­struk­tu­rierten Modell einer kompletten und abge­schlos­senen Gegen­welt. Keine andere Kunst­form erin­nert den Menschen so deut­lich und nach­drück­lich an die Zeit­lich­keit und Endlich­keit seiner eigenen Exis­tenz: Der Zeit­be­griff der Oper ist radikal, uner­bitt­lich-objektiv wie das laut­lose Ticken der Lebensuhr, und alle Anstren­gungen der singenden Prot­ago­nisten und ihr strö­mender Atem sind auf die Über­win­dung dieser metri­sierten Lebens­zeit ausge­richtet: Opern­ge­sang ist also die schönste, erschüt­terndste Kampf­an­sage wider den Tod und die reinste Form des Orpheus-Prin­zips. Opern sind die stärksten Lebens­ap­pelle.

Ideale, rück­sichtslos humane oder inhu­mane Menschen­bilder

Dieser Schutz­schirm der herme­ti­schen Zeit­lich­keit verleiht den Opern­fi­guren ihre Zeit­lo­sig­keit, ihre innere und äußere Bewe­gungs­frei­heit, ihre fast haptisch-greif­bare Exis­tenz. Der Don-Juan-Mythos wurde erst durch Mozarts Don Giovanni zu einer konkreten Gestalt, und ebenso wurden Meri­mées Carmen, Hugos Triboulet alias Rigo­letto oder Shake­speares Othello erst durch die musi­ka­li­sche Ausfor­mung ihres Innen­le­bens zu kompletten, drei­di­men­sio­nalen und glaub­würdig-wirk­li­chen Menschen­bil­dern. Das unter­scheidet die Oper grund­sätz­lich vom Sprech­theater, das uns nur in „zeit­losen“ Chif­fren über­lie­fert ist und das daher mit einem erheb­li­chen größeren Aufwand „wieder­be­lebt“ und in einen neuen Zeit­kon­text gebracht werden muss.

Die Popu­la­rität und „Unsterb­lich­keit“ der großen Opern­figuren kommt also nicht von ungefä. Sie gründet sich in ihren niemals versie­genden Seelen­po­ten­zialen, die unsere schreck­haften, zöger­li­chen, verküm­merten Seelen immer wieder von Neuem ermun­tern, immer wieder von den Möglich­keiten des Menschen erzählen, aufzeigen, was große Gefühle, was Liebe in ihrer rein­sten Form bewirken kann. Sie vermit­teln uns nicht nur Utopien, sondern ideale, rück­sichtslos humane oder inhu­mane Menschen­bilder, sie appel­lieren an uns als beseelte, empfäng­liche Wesen. In der Oper tran­szen­diert der Bürger zum Menschen, findet ein geschütztes Reservat vor, um seine Gefühle restlos ausleben zu können: Erst der gesun­gene, erhöhte Ton des reinen Gefühls demo­kra­ti­siert die Zuhörer zu Glei­chen im Empfinden: Das in den Wohl­laut verwan­delte reine Gefühl hat viel­leicht ein Geschlecht, kennt aber keine Rassen, Grenzen oder Klas­sen­schranken.