Axel Brüggemann über
Die Pornografen der Klassik
von Axel Brüggemann
21. Oktober 2021
Unser Kolumnist Axel Brüggemann über nackte Dirigenten und leidende Pianisten – von der neuen Entäußerungskultur der Klassik.
Was will Dirigent Lorenzo Viotti eigentlich noch alles ausziehen? Viel bleibt nicht übrig! Auf seinem Instagram-Profil zeigt er regelmäßig seinen Sixpack: wie er an Turnringen hängt oder am Strand bummelt. Klar, ein Instagram-Profil dient der Profilierung, und Klassik-Künstler sind keine körperlosen Wesen, dürfen natürlich mit ihrem Body für Beethoven und mit ihren Muskeln für Mahler werben. Wenn sie, wie Viotti, in einem Clip für die Oper in Amsterdam mit dem Skateboard über die Bühne rasen und mit Schlips und ohne Hemd vor dem Spiegel posieren, behaupten sie, dass es darum ginge, durch die Profanisierung der Oper ein neues Publikum zu erreichen.
»Wie viele Orgasmen können wir haben, bevor wir uns umdrehen und todmüde einschlafen?«
Aber wie weit soll die Zurschaustellung des eigenen Ichs noch gehen? Dirigent Teodor Currentzis plaudert gern öffentlich über seine privaten Lustfantasien und packt für Videoproduktionen schon mal sein bestes Stück aus. Was ist nackter als nackt? Wie viele Orgasmen können wir haben, bevor wir uns umdrehen und todmüde einschlafen?
Eine Frage, die man auch dem Pianisten Igor Levit stellen könnte. Er behält seine schwarzen Klamotten auf Instagram und Twitter zwar selbst beim Bodybuilding an, ist aber ebenfalls ein Mann der Superlative: Heute twittert er, dass kein Komponist so genial sei wie Beethoven, am nächsten Tag ist Schostakowitsch einfach der Beste und eine Woche später wird Bach zum Gott. Mit ähnlichem Superlativ-Dauerfeuer inszeniert Levit sich als Pianist. Egal, was er spielt: Stets stellt er das eigene Leiden ins Zentrum, so, dass die Passion Jesu zuweilen als Kindergeburtstag erscheint. Bereits in seiner Nonstop-Online-Performance von Erik Saties Vexations setze Levit sich als „Pain-Pianist“ in Szene, als Schmerzensmann der Klassik, dessen Existenz an den Espresso auf dem Flügel gebunden schien. Und auch bei seinem neuen Schostakowitsch-Album wird Levit nicht müde, uns zu erklären, dass er sich die Musik quasi aus dem „blutenden Gehirn“ gewrungen habe. Aber wenn jeder Post zum Superlativ, jeder Auftritt zum Todeskampf und jeder Akkord zum entäußerten Ausbruch gerät, wird die musikalische Inszenierung dann nicht irgendwann unglaublich berechenbar und: langweilig?
»Klassik-Pornografen laden die Komponisten jeden Abend zu einem exhibitionistischen Quickie«
In seinem Buch Transparenzgesellschaft untersucht Byung-Chul Han unter anderem das Phänomen der öffentlichen Ausstellung des eigenen Ichs. Er beschreibt eine Gesellschaft, der es immer schwerer fällt, Undurchsichtiges zuzulassen, Fragen unbeantwortet zu lassen, eine Gesellschaft, in der die Antwort und die absolute Offenbarung zu Götzen erhoben werden. Eine Gesellschaft, in der man sich „profiliert“ und bedingungslos „zur Schau stellt“, in der man das eigene Sein – oder das, was man sein möchte – kompromisslos ins Schaufenster der digitalen Welt stellt. Byung-Chul Han vergleicht diesen Trend mit dem Mechanismus der Pornografie. Während eine Grundsäule des Eros das Unbekannte ist, das Verhüllte und das ungelüftete Geheimnis, so funktioniert die Pornografie durch die vollkommene Nacktheit des Menschen – durch seine Objektivierung.
In der Klassik haben wir es genau mit diesem Phänomen zu tun: Während die Klassik-Erotomanen unentwegt die Unergründbarkeit des Genius behaupten und immer tiefer abtauchen in die Sphären von Mozart und Beethoven, um nichts als neue Fragen zu finden, laden die Klassik-Pornografen die Komponisten jeden Abend aufs Neue zu einem exhibitionistischen Quickie, bei dem keine Fragen offen bleiben.
»Alles ist subjektiv. Alles ist Entäußerung. Alles ist: Profilierung!«
Nicht nur, dass die Rolle des Don Giovanni in der Salzburger Inszenierung von Regisseur Romeo Castellucci jede Sinnlichkeit einbüßt, Teodor Currentzis dirigiert seinen Mozart mit ebendiesem zur Schau gestellten musikpornografischen Exzess. Er raubt der Musik ihre Geheimnisse, ihre Vieldeutigkeiten und ersetzt sie durch andauernde Ausrufezeichen und radikale Behauptungen. Man könnte auch sagen, dass Currentzis gar kein Interesse daran hat, die Offenheit Mozarts zu suchen, sondern Mozart lediglich als Werkzeug – als Objekt oder Prostituierte – für seine persönlichen Statements benutzt, dafür, sich selber zur Schau zu stellen. Alles ist subjektiv. Alles ist Entäußerung. Alles ist: Profilierung!
Stellt sich die Frage, warum genau diese Inszenierungen derzeit beim Publikum so gut ankommen. Was erwarten Levits Millionen-Follower auf Twitter? Was die Instagram-Fans von Lorenzo Viotti? Was die Jünger von Teodor Currentzis? Sie alle werden von Intendanten auf der ganzen Welt eingeladen, weil sie die Häuser voll machen und damit quasi die Motoren unseres Klassik-Kapitalismus sind.
»Wir erwarten vom Kunstkonsum weniger künstlerische Durchdringung als nacktes Spektakel«
Vielleicht müssen wir an dieser Stelle die grundsätzliche Frage stellen, was wir noch von Kunst erwarten. Die einzige Erwartung, die Musik – anders als die bildende Kunst – nicht erfüllen kann, ist die der langfristigen Wertanlage. Eine Mozart-Inszenierung kann man nicht in den Banksafe schließen wie einen Rembrandt. Viottis Instagram-Posts scheinen auch eher auf das Subversive der Kunst zu spekulieren, ähnlich wie bei Straßenkünstler Banksy, der seine Graffiti in unseren Alltag sprüht. Mit dem Unterschied, dass Banksy seine Figuren – und damit die Kunst an sich – an die Wände malt und Viotti seinen eigenen Körper an die Pinnwand seiner Social-Media-Profile tackert, vollkommen losgelöst von der Musik, die er spielt. Banksy „schenkt“ uns seine Kunst. Viotti gibt uns seinen Körper – seine Musik müssen wir weiterhin selbst aufsuchen und „erwerben“. Sein Körper dient lediglich als Werbefläche. Aber wenn wir schon Geld für Musik ausgeben, was erwarten wir als Gegenwert?
Bislang gingen wir hauptsächlich davon aus, dass Musik uns entweder unterhalten oder fordern und erheben soll. Im Sinne Walter Benjamins sprachen wir von den Kategorien der Zerstreuung (der „leichten Muse“) und der Sammlung (der „harten Kost“). Inzwischen scheint eine weitere Motivation hinzugekommen zu sein. Für sie liegt der Sinn der Kunst in der Sinnstiftung für das eigene Ich. Die Kunst ist nicht mehr Selbstzweck, sondern dient dem Zweck der Erhebung des Selbstwertes. In diesem Fall geht es weniger um das Versinken in der Kunst als darum, auf ihr zu flanieren, sie als Laufsteg zu benutzen. Musik dient so als Medium der eigenen Darstellung, wir können sie nach Belieben „konsumieren“. So definiert es Stefan Ripplinger in seinem Essay Vergebliche Kunst und bezieht sich dabei auf Maurice Blanchot. Es geht um einen Kunstkonsum, von dem wir weniger die künstlerische Durchdringung erwarten als das nackte Spektakel der Selbstdarstellung. In diesem Moment wird die Kunst weitgehend entsinnlicht und kapitalisiert, es geht nicht mehr um die stille geistige Erbauung, sondern um die laute öffentliche Erhebung. In diesem Moment dient der Besuch einer Oper oder eines Konzertes der Bewusstwerdung des eigenen Selbstwertes.
»Klassik wird zur Peepshow«
Wir haben es also mit einem Phänomen zu tun, in dem das Profil des Künstlers (seine Profilierung!) zu einer neuen Kategorie, ja zum eigentlichen Wert, zum Objekt der Kultur geworden ist – zum Kult! Wir suchen nicht mehr unbedingt die erotisch offene, möglichst intensive und tiefe Begegnung mit Mozart oder Beethoven, sondern den tollkühnen Kampf mit ihrer Musik. Wir wollen den Interpreten als Helden erleben, als einen, der im exzessivsten Überlebenskampf mit der Musik ringt. Dem es am Ende nicht darum geht, sie zu interpretieren, sondern sie zu besiegen. Klassik wird zum modernen Gladiatorenkampf oder – nach Ripplinger – zur Peepshow, in der das Publikum Geld bezahlt, um als Pilger und Jünger am Götzendienst der Interpreten teilhaben zu dürfen.
Dieses Prinzip der Pornografisierung der Klassik fordert eine immer weitere Eskalation und Exhibition dieses musikalischen Kampfes. Und der endet – das haben wir immer wieder gesehen – oft darin, dass ein Interpret verglimmt, dass der andauernd gleiche Exzess das Publikum irgendwann langweilt und es sich einem anderen Profil eines anderen Profilierungssüchtigen, einer anderen Form der individuellen Eskalation, zuwendet.