Selcuk Cara
»Spricht der überhaupt Deutsch?«
von Robert C. Kittel
11. Juni 2014
Selcuk Cara über seine Erfahrungen als türkischstämmiger Bass an einer deutschen Musikhochschule und einem deutschen Staatstheater.
Der Bass Selcuk Cara hatte es aufgrund seiner türkischen Abstammung schwer, im deutschen Klassik-Betrieb ernst genommen zu werden. Ein deutsches Staatstheater schickte den geborenen Frankfurter und Diplom-Opernsänger mit Schwerpunkt „Deutsches Fach“ aufgrund seiner türkischen Staatsbürgerschaft erst mal in den Sprachkurs Deutsch.
CRESCENDO: Herr Cara, wie erwachte in Ihnen der Wunsch, Opernsänger zu werden?
Selcuk Cara: Ich war Schüler der elften Klasse eines Gymnasiums. Ich saß im Musikunterricht und langweilte mich schrecklich. Das Thema der nächsten Wochen: Das musikalische Schaffen von Wolfgang Amadeus Mozart. Bereits eine Woche zuvor hatte ich mich mit meinem Musiklehrer angelegt und mir fest vorgenommen, mich wenigstens heute zurückzuhalten. Aber wieso durfte ich nicht sagen, dass der Türkische Marsch von Mozart überhaupt nicht türkisch klang? Heute sollte eine Oper von Mozart behandelt werden. Die Entführung aus dem Serail.
Unser Musiklehrer spielte uns die Arie des Osmin vor: „Erst geköpft, dann gehangen, dann gespießt auf heißen Stangen, dann verbrannt…“ Er versuchte, uns zu erklären, wie Mozart auch durch die Sprache und nicht nur durch seine Musik die extreme Aufgebrachtheit und Wut des Osmin den Zuschauern zu vermitteln wusste. Er führte weiter aus, dass Osmin derart in Rage über sein verhasstes Gegenüber geraten war, dass er die logische Abfolge der unterschiedlichsten Formen gängiger Hinrichtungen durcheinander gebracht hatte: „Hört mal genau hin! Wie kann jemand, der geköpft wurde, danach noch aufgehängt werden? An welchem Kopf soll er denn aufgehängt werden? Das ist auch die Genialität dieser Arie, die Genialität von Mozart!“
„Na ja, ich sehe da keine Genialität!“, sagte ich. Es entwickelte sich ein Dialog, der so nicht voraussehbar war: „Herr Cara, das haben gerade Sie erkannt?“ „Na ja, wenn Osmin ein Türke oder Araber oder so etwas ist, – was er ja ist – dann ist er wahrscheinlich auch ein Moslem.“ „Kommen Sie zum Punkt!“ „Dann köpft er den Menschen, so wie er einen Hammel köpft und hängt ihn dann auf, so wie er einen Hammel aufhängt, damit er ausblutet. So machen es auch die Juden. Wenn der Hammel dann lang abgehangen ist, dann wird er aufgespießt und.…“ Mein Musiklehrer, der sah, dass meine Erklärung allen einzuleuchten schien, verlor völlig die Fassung. Er sagte ohne Punkt und Komma, dass ich hier nicht mitreden könne, weil all das, was hier in seinem Unterricht behandelt würde, nicht meinem Kulturkreis entstammte, dass ich alles hier gar nicht verstehen könne, weil ich eben ein Türke sei. Einige meiner Mitschüler waren entsetzt von seiner Aussage, wenige lachten. Ich hörte nur das Lachen. Ich rannte aus dem Musiksaal und blieb plötzlich im Schulflur stehen. Ich ging zurück in den Musiksaal und sagte mit ruhiger Stimme: „Ich werde Musik studieren. Ich werde Opernsänger.“ Ich dachte mir damals nichts dabei, aber ich musste es sagen und meinte es so. Alle guckten mich verwundert an und versuchten zu verstehen, was ich gerade gesagt hatte. Dann plötzlich lachten sie um die Wette. Keiner konnte sich mehr zurückhalten. Ich memorierte jedes einzelne Lachen, dann ging ich aus dem Musiksaal.
Und Sie verwirklichten Ihre Ankündigung …
Etwa 20 Jahre später traf ich meine Mitschüler auf der „20 Jahre-Abiturfeier“ wieder, und keiner konnte sich so richtig an diesen Tag erinnern. Eine kleine, zierliche Frau trat an mich heran. Sie lächelte mich an und sagte, dass sie sich an diesen Tag noch sehr genau erinnerte und ich, nachdem ich den Musiksaal verlassen hatte, im Flur wutentbrannt noch etwas scharf artikulierend ergänzt hatte: „Ich werde Opernsänger … und das sage ich, obwohl ich Selcuk Cara heiße und Sohn scheiß anatolischer Gastarbeiter bin.“
War es für Sie schwer, diesen Weg zu gehen?
Nach einiger Zeit erst fand ich den richtigen Gesangslehrer – einen Griechen. Auf meine Frage, ob er mich unterrichten wolle antwortete er: „Darum sind sie doch hier. Es ist mir eine besondere Ehre, einem Türken das Singen beizubringen. Man muss doch unter Freunden zusammenhalten.“ Wir mussten beide lachen, und er fügte noch hinzu: „Und wenn Sie dann singen können und einmal ein guter Opernsänger geworden sind, dann essen wir gemeinsam in der Türkei einen Imam Bayildi und trinken dazu Ouzo … ich meine natürlich einen türkischen Raki.“ Als ich meinem Vater stolz verkündete, dass ich einen Gesangslehrer hatte, reagierte er kaum darauf. Als ich ihm jedoch sagte, dass es sich um einen älteren, griechischen Gesangslehrer handelte, da drehte er sich zu mir und sagte mit einem langsam entstehenden Lächeln: „Und auch das noch!“
Genau diesen Satz sollte er in einigen Jahren bei meinem ersten großen Auftritt als Sänger wortwörtlich wiederholen; diesmal allerdings ohne ein entstehendes Lächeln. Ich hatte meinen Vater zu meinem ersten, großen öffentlichen Konzert eingeladen, und er war widerwillig gekommen, da es in einer Kirche gegeben wurde. Ich war der Heiland der Welt. Ich sang in Franz Liszts Via crucis den Jesus Christus. Seit diesem Tag war ihm, dem Moslem, klar, dass bei diesem Sohn (frei aus dem Türkischen übersetzt) Hopfen und Malz verloren war. Nach zwei Jahren Gesangsunterricht beim türkischen Erzfeind, wie mein Vater scherzhaft sagte, wachte ich in der unentrinnbaren Realität meines angehenden Künstlerdaseins auf.
Worin bestand diese Realität?
Wenige Minuten vor meiner Aufnahmeprüfung saß ich in einer Herrentoilette, und ich versuchte, mich meiner Nervosität zu entledigen. Dann plötzlich aus der Nebenkabine, ein laut gesungenes, nach unten oktaviertes, „Herr Gott Abrahams!“ Es war die Arie des Elias aus dem gleichnamigen Oratorium. Ich kannte sie gut, weil sie eine meiner Vorsingarien war, die ich für diese Aufnahmeprüfung vorbereitet hatte. Dann wieder ein lautes, „ Herr Gott … Herr … Herr … Herr Gott“, immer wieder setzte mein Kabinennachbar die Töne an, die ihn offensichtlich nicht befriedigten.
Wieder und wieder setzte er neu an, „Herr … Gott … Herr Gott Abrahams, Isaaks und Isra … Isra … a … a … Is … Is … Isra … a … a …“, ich musste lachen und rief herüber, „ Israels, Israels heisst das“, und sang ihm die Arie vor: „Herr Gott Abrahams, Isaaks und Israels…“, er setzte ein, und wir sangen gemeinsam, während wir fast zeitgleich die Kabinen verließen: „…lass heut kund werden, dass du Gott bist und ich dein Knecht! Herr Gott Abrahams!“ Ich wollte meinen Augen kaum trauen, als ich meine Kabine verlassen hatte und mir der geheimnisvolle Sänger gegenüberstand. Ein kleiner, dicker Chinese, mit satter, tiefer Stimme sang gemeinsam mit mir die Arie des Elias. Was hatte diesen Chinesen dazu getrieben, Opernsänger werden zu wollen und ausgerechnet diese Arie auszuwählen? Während ich mir innerlich diese Frage stellte, schüttelte ich den Kopf, und ich fragte mich weiter: Warum singe ich, ein anatolischer Türke, mit einem kleinen, dicken Chinesen auf einer deutschen Toilette ein Oratorium, das sich auf das Alte Testament bezieht? Diese beiden „Eliase“ hatten die Juden wahrlich nicht verdient. Plötzlich rannte eine Studentin völlig außer Atem in die Herrentoilette und fragte mich, ob ich Cara Selcuk oder Selcuk Cara sei: „Du bist dran, du bist dran. Sie warten schon alle auf dich!“ Ich eilte die Treppen hinauf, an zig angehenden Sängern vorbei, denen die Anspannung und Nervosität an der Körperhaltung abzulesen war. Dann stand ich vor der großen, hölzernen Flügeltür des Raumes, wo sich meine Zukunft – so dachte ich damals -, wo sich mein künftiges Leben entscheiden sollte.
Und es hat sich auch entschieden …
Ich sammelte mich kurz, richtete Hemd und Krawatte und wartete noch eine gefühlte Ewigkeit. Plötzlich glaubte ich, eine Stimme aus dem Raum gehört zu haben, die den nächsten Kandidaten aufzurufen schien. Ich klopfte zaghaft an, öffnete vorsichtig die Tür und trat ein. Die Prüfungskommission saß mit dem Rücken zu mir, hinter einem langen, breiten Tisch. Vielleicht zehn Professoren nebeneinander. Der Raum war extrem dunkel. Obwohl wir uns im ersten Stock befanden, waren die Fenster wie Kellerfenster angebracht, so hoch, dass man nur in den Himmel schauen konnte. Die Professoren hatten mich nicht bemerkt. Niemand drehte sich nach mir um.
Als ich all meinen Mut zusammennahm, um endlich auf mich aufmerksam zu machen, kam mir eine Frauenstimme zuvor. Bis heute kann ich mich an die Klangfarbe dieser Stimme erinnern. Es war eine sehr grelle, hohe Stimme, die durch den Raum hallte: „So was haben wir denn hier … Cara Selc … Selsch oder so. Aha, ein Türke! Spricht der überhaupt Deutsch? Hat der überhaupt das Abitur?“ Die Professoren lachten kurz auf. Ein Professor, der sich gerade in diesem Augenblick zur Tür drehen wollte, um mich hereinzuholen, zuckte kurz zusammen. Alle übrigen Professoren wurden sofort auf mich aufmerksam. Die Professorin, die gerade noch lautstark an meinen Sprachkenntnissen und meinem für die Aufnahmeprüfung vorausgesetzten Abitur gezweifelt hatte, schrie mich an: „Was machen Sie denn schon hier? Unverschämtheit! Wer hat sie hereingerufen?“ Meine Antwort wurde nicht abgewartet. Nach einigen Blickwechseln innerhalb der Professorenschaft, wurde ich gebeten, mich in die Mitte des Raumes zu stellen.
Ein Professor fragte mich, was ich denn singen wolle, und ich antwortete: „Sehr gerne die Arie des Elias: Herr Gott Abrahams.…“ „…Isaaks und Israels“, rief die Professorin über mich hinweg in den freien Raum, „Ja, ja, kennen wir. Dann singen Sie uns mal den Herrn Elias!“ Jahre später ließ es sich einer dieser Professoren nicht nehmen, mich von der Hochschule mit folgenden Worten zu verabschieden. Ich war bereits im Engagement an einem Staatstheater. „Herr Cara, wir sind stolz auf Sie, dass Sie als Türke die deutsche Kultur insoweit begriffen und verstanden haben, aber Sie sollten doch weiterhin von uns Rat annehmen.“
Wie stehen Sie heute zu diesen Erlebnissen?
Wenn ich heute von Frau Nike Wagner zum Beethovenfest nach Bonn eingeladen werde, um mit einem türkischen Orchester Beethovens Neunte Sinfonie aufzuführen, oder im Wagnerjahr den Hagen in Richard Wagners Götterdämmerung mit der NDR Radiophilharmonie aufzeichnen darf, oder Gustav Mahlers Achte Sinfonie mit dem Israel National Symphony Orchestra in Tel Aviv und Haifa singen darf, was fühle ich dann wohl als türkisches Gastarbeiterkind mit deutschem Pass? Keine Genugtuung, sondern Dank, dass große Geister ein Land, eine Welt erschaffen haben, die jeder Mode und unmenschlicher Gesinnung trotzt.
Di 23.9.2014, 20 Uhr, Beethovenfest Bonn
Bass-Partie in Beethovens Sinfonie Nr. 9 d-Moll op. 125 mit dem Bilkent Youth Symphony Orchestra unter Isin Metin
Sonstige aktuelle Projekte:
Gustav Mahler: Sinfonie Nr. 8 (Teil I: Bass / Teil II: Pater Profondo)
Konzerttournee durch Israel mit dem Israel National Symphony Orchestra
Dirigent: Noam Sheriff